9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Januar 2021

Wer weiß?

30.01.2021. In der New York Times sieht Shoshana Zuboff einen epistemischen Coup, mit dem die Internetkonzerne die demokratische Wissensgesellschaft kapern. Die FAZ blickt mit Entsetzen nach Cambridge, wo jetzt Antirassismus-Seminare prophylaktische Pflicht werden. In der taz beobachtet Ljudmila Ulitzka eine zunehmende Grausamkeit des Kremls. Ebenfalls in der taz beschreibt die Historikerin Karina Urbach, wie die HohenzollerInnen die vaterländischen Frauenverbände für die Nazis aufputschten. Und die FR fragt bang, ob Corona uns reaktionär macht und wie sich das behandeln lässt.

Neutralistische Tendenzen

29.01.2021. Europa ist ein Supertanker mit 27 Kapitänen an Bord. Möge er die Kraft haben, dem Rechtspopulismus zu widerstehen, hofft Geert Mak in der FR. Die übergreifende Bürgernummer kommt nun doch. Golem.de und Netzpolitik sind kritisch. In der SZ fragt der Historiker Norbert Frei, ob Donald Trump jetzt noch die Kraft hat, die Republikanische Partei zu spalten. Wer redet eigentlich über Armin Laschets außenpolitische Äußerungen, fragt Richard Herzinger im Perlentaucher.

Großartiger Trend zur Sportwette

28.01.2021. Der Recherchedienst Bellingcat weist weitere politische Morde jener FSB-Einheit nach, die auch für die Vergiftung Alexei Nawalnys verantwortlich ist. Es sterben doppelt so viele Männer an Corona wie Frauen - darum sollten sie bei den Impfungen bevorzugt werden, fordert Ralf Bönt in der Zeit.  Die Mandarine vom "Weltoffen"-Aufruf verfechten einen einseitigen linken und politischen Begriff von Kunst, schreibt Alan Posener in der Welt, nur durch Mut zeichnen sie sich nicht aus. Und schließlich: Mit dem Hipster ist es vorbei, notiert Ijoma Mangold in der Zeit, Platz da für die Schneeflocken.

Das Schicksal des Gedenkens

27.01.2021. In Moskau hat das Internet die Medien besiegt, das Staatsfernsehen kommt gegen Alexei Nawalnys Film "Putins Palast" nicht an, berichtet die FAZ. Und Viktor Jerofejew sieht Putin und Nawalny in der FAZ  "in einem tödlichen Kampf". Heute ist Auschwitz-Gedenktag, aber "die deutsche Erinnerungskultur ist ein seltsames Wesen", schreibt Henryk Broder in der Welt. Springer-Chef Mathias Döpfner fordert in einem offenen Brief an Ursula von der Leyen die Entmachtung von Google, Facebook und Co. Die Schriftstellerin Nele Pollatschek grübelt in der SZ über das Für und Wider des generischen Maskulinums.

Erst werden die Begriffe besetzt, dann die Köpfe

26.01.2021. In seinem Blog erklärt Andrew Sullivan den Unterschied zwischen "equity" und "equality" und warum er ihm Sorgen macht. Die SZ fragt: wie kompatibel ist die gehypte Iphone-App "Clubhouse" mit deutschem Recht? SZ und Welt empören sich über einen Auftritt Xi Jinpings im virtuellen Davos. Die FAZ ist so weit zufrieden mit der kommenden Umsetzung der EU-Urheberrechtsreform. Die taz porträtiert die Familie von Walter Lübcke in den Tagen vor dem Urteil gegen den Terroristen Stephan Ernst.

Wer schweigt, unterstützt

25.01.2021. Neue Funde von Dokumenten der Revolutionären Zellen werden kaum zur Aufklärung der vielen ungeklärten terroristischen Morde in Deutschland beitragen, fürchtet Anne Ameri-Siemens in der FAS. Sie fordert statt dessen viel mehr Druck auf jene, die schweigen. Ebenfalls in der FAS beschreibt Leonid Wolkow, der Stabschef Alexei Nawalnys, Putins Machtsystem, und wie es zu sprengen ist. In der NZZ erinnert der Theologe Jan-Heiner Tück an die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Österreich vor 600 Jahren auf Weisung Herzogs Albrecht V. Frauen in MINT-Berufen bleiben eine Seltenheit, konstatiert golem.de.

Oder die Bande bekommt einen neuen Anführer

23.01.2021. In der Welt bekennt sich Außenminister Heiko Maas zur Antisemitismusdefinition der "Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken" (IHRA), aber tut er es wirklich? Wer als arabischer Intellektueller für die Versöhnung mit Israel eintritt, wird von seinesgleichen verachtet, schreibt Najem Wali in der FAZ: Aber die Jugend denkt anders. Wie tot ist der Trumpismus, fragen taz und New York Times. Im Tagesspiegel erklärt Fatina Keilani, was ein "Token" ist. In der NZZ fragt Martin Pollack, warum gerade Polen mit seiner geglückten Wende  so anfällig ist für den Rechtspopulismus.

Psychologische Phänomene wie der Glaube

22.01.2021. Die Medien sind noch in Feierlaune, da stellt das Internetmagzin Axios fest, dass ihnen zumindest in den USA die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht mehr traut. Wie kommt es, dass Menschen Medien misstrauen, obwohl sie Organe der Wahrheit sind, fragt auch das "Altpapier" im MDR. Die Türkei geht in der Regulierung sozialer Netze voran, und es läuft auf Zensur hinaus, konstatiert Netzpolitik. In Frankreich zahlt Google jetzt an Zeitungen, berichtet Golem. Mit dem Deutschen Reich institutionalisierte sich auch der Antisemitismus, und zwar gerade bei den Protestanten, schreibt Micha Brumlik in der FR.

Eine gewisse Radikalität

21.01.2021. Joe Bidens Amtseinführung hat den Spuk erstmal hinweggefegt. Aber die amerikanische Verfassung bleibt altertümlich, und Jedediah Purdy zweifelt in der Zeit, ob sie sich modernisieren lässt. Die Ärztin Kristina Hänel ist nun rechtskräftig verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über Abtreibung informierte - in der taz zieht sie dennoch eine positive Bilanz ihres bisherigen Kampfes. Die Hufeisentheorie stimmt: Man muss nur auf das Verhältnis von Linkspartei und AfD zu Russland gucken, schreibt Alan Posener in der Welt. Die neue demokratische Regierung in den Vereinigten Staaten wird die Plattformkonzerne stärker regulieren, vermutet Netzpolitik.

Heute etwas Neues

20.01.2021. 54books erinnert mit Berit Glanz an all die Künstler, die ihren Geniekult mit Gewalt gegen Frauen zelebrierten. Der Guardian erklärt, wie clever britische Eliten Druck von unten zum Absahnen nutzen. Die Salonkolumnisten lassen sich von Alexei Nawalny Putins Palast am Schwarzen Meer zeigen. Im Neuen Deutschland fragt Veranstalter Berthold Seliger, warum von den 25 Milliarden Überbrückungshilfen bislang gerade mal 2,7 Milliarden bewilligt wurden. Und: zur Inauguration von Joe Biden blicken die Medien noch einmal zurück auf seinen hohe Auflage bringenden Vorgänger und den Trümmerhaufen, den er hinterlässt.

Einblick in den Schmerz

19.01.2021.  In der SZ staunt Friedrich Christian Delius über den Einfluss der Lyrik auf Joe Bidens politischen Werdegang. Golem.de berichtet, dass die VG Media sich jetzt in "Corint" umbenennt, um jetzt auch international die Bagatellgrenzen zu überwachen.  Die USA müssen sich politisch modernisieren, fordert der Philosoph Christian Lotz in der FR. In der NZZ hofft Timothy Garton Ash auf einen konservativ-sozialistischen Liberalismus.

In dunklen Kellern

18.01.2021. In der FAZ schreibt  Heinrich August Winkler zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs von 150 Jahren. Der moderne Antisemitismus hat seine Wurzeln ebensosehr links wie rechts, schreibt Richard Herzinger in seinem Blog.  Wie soll Nigeria Kunstwerke zurückfordern, wenn das Land nicht mal weiß, was ihm gestohlen wurde, fragt der Tagesspiegel. Die Welt und die SZ blicken auf die fatale Rolle der EU und Amerikas in der ugandischen Politik. Zeit online fragt, was die Verhaftung Alexej Nawalnys für die bisher so apathische Opposition in Russland bedeutet.

Eine Art kosmisches Ungleichgewicht

16.01.2021. Der New Yorker beschreibt den emotionalen Mix aus aufrührerischer Wut und hämischer Freude, der Trumps Anhänger zum Sturm aufs Kapitol trieb. In der FAZ untersucht Philipp Felsch Ähnlichkeiten und Unterschiede von Verschwörungstheorie und spekulativem Denken. Die NZZ liest mit Entsetzen Jean-Pierre Obins Report über den Islamismus an Frankreichs Schulen. Die taz durchlebt die fünf Phasen der Corona-Bewältigung. Und in der SZ nimmt uns Slavoj Zizek auch noch die letzte Freude: unschuldigen Sex.

Was wir über ein Geschehen wissen

15.01.2021. "Die Republikanische Partei ist eine nationale Peinlichkeit", sagt Jill Lepore in der FR und findet: Es ist Zeit für einen neuen amerikanischen Patriotismus. Im Gegenteil, der amerikanische Exzeptionalismus ist ein Problem, und die Verfassung ist sowieso Relikt aus der Sklavenhaltergesellschaft, meint die Historikerin Hedwig Richter in der SZ. Die Medien gratulieren der Wikipedia zum Zwanzigsten. Immer schon wurde ja an ihr rumgemäkelt - bis heute. Aber manche freuen sich auch! Wie absurd ist eigentlich Kirchensteuer, fragt Faustkultur.

Sachsen gibt es anderswo auch

14.01.2021. Wir haben verhandelt und verhandelt, dann kam endlich der Brexit, und was blüht uns jetzt? Verhandlungen, fürchtet Timothy Garton Ash im Guardian. Trump könnte immer noch putschen und sich dabei auf die Verfassung berufen,  sagt der Verfassungsrechtler Russell Miller in der FAZ. NZZ und Welt befassen sich mit Verschwörungstheoretikern, die zur größten terroristischen Bedrohung für die USA werden könnten. Die FAZ prangert die Praxis des Zitierens an. Zitate seien Enteignung.

Denken und Ethik à la carte

13.01.2021. Die Diskussionen über die sozialen Medien gehen weiter: Lassen sie sich demokratisieren, fragt Georg Diez in der taz. Leon de Winter beklagt in der Welt Zensur. Nach Veröffentlichung eines Berichts diskutiert Irland wieder über Heime für alleinstehende Mütter, in denen die Kindersterblichkeit doppelt so hoch war wie üblich. In der NZZ attackiert Michael Wolffsohn deutsche Kulturinstitutionen, die mit BDS-Anhängern kooperieren wollen und Norbert Röttgen. Die taz fordert: Katzen kastrieren reicht nicht, sperrt sie ein.

Dann erklärte er sich zum Kaiser

12.01.2021. Aber klar. Das was Trump da versuchte, war ein Putsch, schreibt Fiona Hill, ehemalige Sicherheitsberaterin der amerikanischen Regierung, bei Politico - und erinnert an Napoleon III. Die New York Times sieht zu, wie Evangelikalismus und QAnon fusionieren. Viel diskutiert wird über Twitter: "Twitter hat Trump erst möglich gemacht, aber Trump abzuschalten ist Zensur", so die Kritik, meist in einem Atemzug. Auch Alexej Nawalny hat ein Wort dazu zu sagen, und zwar auf Twitter. Die SZ fragt, woher eigentlich die Aversion vieler Menschen gegen das Impfen kommt.

Parziell erfolgreicher Angriff

11.01.2021. In einem großen New York Times-Essay warnt Timothy Snyder nochmal vor dem "Präfaschisten" Donald Trump. Die Gefahr ist noch nicht gebannt, sagen auch Daniel Ziblatt in Zeit online und Richard Herzinger in seinem Blog. Mehrere Medien beklagen den Einfluss der sozialen Medien auf das politische Geschehen. Wo ist das Pariser Voltaire-Denkmal geblieben, das von Antirassisten beschmutzt und seitdem nicht wieder aufgestellt wurde, fragt die FAZ.  Die Salonkolumnisten beleuchten den gesellschaftlichen Einfluss der Anthroposophie.

Wo nur ein Funke reichte

09.01.2021. Ob das Impeachment-Verfahren fruchten wird, bleibt abzuwarten, bei Twitter hat sich Donald Trump jedenfalls schon in Luft aufgelöst. Inzwischen wird spekuliert: Trump könnte einen Putsch geplant  haben, um die Macht zu übernehmen, schreibt der Historiker Wolfram Siemann in der FAZ. Er könnte noch einen Krieg gegen den Iran anzetteln, fürchtet Daniel Ellsberg im Guardian. Bari Weiss beklagt in der Welt, das sich der liberale Konsens durch Attacken rechts, aber auch links aufgelöst hat. Die taz untersucht Reaktionen deutscher Rechtsextremer: Man ist enttäuscht über die mangelhafte Organisation des Mobs.

Ungrammatische Ausdrücke

08.01.2021. Tag 2 nach der Attacke aufs Washingtoner Kapitol. Die Medien räumen die Trümmer beiseite. Schuld sind auch andere Medien, schreibt Margaret Sullivan in der Washington Post, und nicht nur Fox News, sondern auch das Wall Street Journal. "Der Westen ist an ein Ende gekommen", befürchtet der Politologe Tobias Endler in der FR. Auch die Netzöffentlichkeit spaltet sich, konstatiert Netzpolitik - Rechtsextreme ziehen sich in ihre eigenen sozialen Netze zurück. Und FAZ und Welt protestieren: Der Duden schafft das generische Maskulinum ab.

Der Pöbel im Parlament

07.01.2021. Ein Mob hat das Capitol in Washington angegriffen, angefeuert von Donald Trump, der dann abwiegelte - aber am Märchen von der gestohlenen Wahl festhält. "Setzt Trump ab", ruft David Frum in Atlantic. Die Demokratie war nicht in Gefahr, analysiert Zeit online. Die SZ staunt über Kardinal Woelki, der nur veröffentlichen will, wenn Journalisten versprechen geheimzuhalten. In der FR prangert Olivia Mitscherlich-Schönherr das einsame Sterben der Covid-Opfer an.

Neubauvermeidung

06.01.2021. Statt ein Islamkolleg zu gründen, sollte der Staat den bekenntnisorientierten Religionsunterricht lieber ganz abschaffen, fordert Wolfgang Hummes in hpd.de. Im Standard insistiert die Philosophin Eva von Redecker, dass Individualismus doch keine ganz schlechte Idee ist. Seit Neujahr sind Max Beckmann, George Orwell und Kurt Weill gemeinfrei, wenn auch letzterer nicht ganz, notiert Netzpolitik. In der taz freut sich Charlotte Wiedemann über die neue "jüdische Diversität", die dem Zentralrat der Juden alle Autorität in Antisemitismusfragen nimmt.

Wenig Substanz für eine positive Erzählung

05.01.2021. Julian Assange wird vorerst nicht ausgeliefert, entschied eine Londoner Richterin. Die Medien sind dennoch nicht zufrieden mit ihrem Urteil. In der NZZ empfiehlt der Japanologe Raji Steineck unter Rekurs auf Ernst Cassirer einen Pluralismus der symbolischen Formen statt Kulturrelativismus. Warum ist so wenig Erinnerung an die Hohenzollern übrig, fragt der Historiker Martin Kohlrausch in der FAZ: Liegt's an ihrem Abgang? 

Zivilgesellschaft ist eine Dauerbaustelle

04.01.2021. Die FR setzt ihre Serie über die Gründung des Deutschen Reichs vor 150 Jahren fort. Der Historiker Christoph Nonn lernt durch den Blick aufs Kaiserreich: "Der Glaube, dass die Moderne unausweichlich zur Demokratie führt, war offensichtlich naiv." Wenn es den Chefs der Kulturinstitutionen in ihrem "Weltoffen"-Aufruf nur um die Zulassung israelkritischer Positionen ging, warum stellen sie geschichtstheoretische Thesen auf, fragt Alan Posener in starke-meinungen.de. In der taz spricht die Ärztin Cornelia Strunz und Autorin eines Buchs über Genitalverstümmelung über das Ausmaß der Barbarei und die Opfer.

Das Gesetz eiskalter Nützlichkeit

02.01.2021. In der taz fragt Silke Mertins, seit wann die Kritik am Islamismus keine linke Position mehr ist. Für Michael Wolffsohn sind 1700 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland in der Welt kein Grund zu feiern. In der FR warnt der Philosoph Rainer Forst vor demokratischer Regression. Die SZ prangert den Filz des Kulturhauptstadt-Programm an. Im Tagesspiegel geißelt Folkert Uhde die obszönen Spitzengagen in der Klassik. In der Welt wünscht sich Janina Gelinek dagegen mehr kapitalistisches Gerempel von den Kulturinstitutionen.