9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2022

Aber der Nahostkonflikt

30.07.2022. Richard Herzinger untersucht im Perlentaucher die antikoloniale Rhetorik, mit der Wladimir Putin den "globalen Süden" für sich gewinnen will. Herfried Münkler weiß schon, warum die Emma-Pazifisten ihre Friedensforderungen an die Ukraine, und nicht den Angreifer richten, und erklärt es in der NZZ. Nicolas Tenzer fragt in seinem Blog, ob man Russland zum terroristischen Staat erklären soll. Und die New York Times erklärt, warum Antony Blinken davor zurückscheut.

Nur ein Gebet in der Fortschrittskirche

29.07.2022. Im New Statesman attackiert Bruno Maçães Intellektuelle wie Jürgen Habermas, die über den "kindlichen Glauben der Ukraine, noch siegen zu können, mit Amüsement hinweggehen". In der SZ fordert Hedwig Richter, dass die SPD auch den "kleinen Mann" auffordert, den Gürtel enger zu schnallen. Das chinesische Modell ist im 21. Jahrhundert gefährlicher für die liberale Weltordnung als die morsche Autokratie Russlands, fürchtet die Welt. Die sozialen Medien wachsen weiter, so die SZ. Aber News kaufen sie nicht mehr, so Axios.

Eine Linke, die sich selbst vergisst

28.07.2022. In Foreign Affairs schildern Andrei Soldatov and Irina Borogan den Krieg gegen die Ukraine als totale Machtübernahme des FSB. In der Zeit meditiert Thomas E. Schmidt über die vertrackte und nicht unschuldige Psychologie der Restitution. Ebenfalls in der Zeit wirft der Historiker Georgiy Kasianov einen wohltuend nüchternen Blick auf ukrainische Nationalerzählungen. In der FAZ verteidigen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel die zur Funktionärin gemachte Aktivistin Ferda Ataman gegen ihre säkularen Kritiker.

Mit wem wir auf Whatsapp schreiben

27.07.2022. Demütigung ist das Schlüsselwort, um Putins Agieren zu verstehen, schreibt Peter Pomerantsev in der New York Times. Die SZ sieht die  real existierende Dystopie à la chinoise auf dem Vormarsch. Die Türkei überwacht ihre Bürger auch schon sehr intensiv, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Der Papst hat sich in Kanada für die Rolle der Kirche bei der Zwangsassimilierung indigener Völker entschuldigt, wenn er sie schon nicht entschädigt, berichtet die taz. Quillette beschreibt, wie die Geschichte der Indigenen in Kanada für einen Medienhype ausgebeutet wurde.

Dieser Schmus ist keineswegs so menschenfreundlich

26.07.2022. Je mehr Putin von "Entnazifizierung" der Ukraine spricht, desto mehr gleicht er den Nazis, schreibt Pascal Brückner in der NZZ. Kamel Daoud legt in Le Temps einen großartigen Essay zu sechzig Jahren Unabhängigket Algeriens vor: Das Land lebe in gefrorener Zeit. Wir dürfen Myanmar nicht vergessen, schreibt Patrick Zoll in der NZZ: Dort wurden am Sonntag vier Dissidenten hingerichtet.  In der Welt poblematisiert Thomas Schmid den Kulturbegriff von Claudia Roth.

Das ist Realpolitik

25.07.2022. Der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel attackiert auf der Gegenwart-Seite der FAZ seinen Kollegen Ulrich Herbert, der sich gegen Vergleiche des Kriegs gegen die Ukraine mit dem Zweiten Weltkrieg gewandt hatte - und die deutschen Russlandhistoriker gleich mit. Der Soziologe Hartmut Rosa kann es im Spiegel kaum fassen: Trotz der akuten Klimakrise beharrt die Ukraine auf Selbstverteidigung. Ebenfalls Im Spiegel kritisiert Natan Sznaider den Universalismus der documenta-Macher.

Ohne Illusion oder Sentimentalität

23.07.2022. Maxim Biller wirft in der SZ Eva Menasse vor, nicht links und eigentlich auch nicht jüdisch zu sein. In der Welt wirft Kathleen Stock den Trans-Aktivisten vor, reaktionär und eigentlich auch kapitalistisch zu sein. In der NZZ will der ukrainische Schriftsteller Wolodimir Rafejenko die Schuld am Krieg nicht Putin allein geben: Die Russen haben ihn erschaffen. Die FAZ widerspricht vehement der Vorstellung eines gespaltenen Amerikas: Es seien die Republikaner, die an der Schwächung des Systems arbeiteten.

Putin hat uns nicht gezwungen

22.07.2022. Catherine Belton meint in der Zeit ein leises Knistern im vermeintlich so soliden Machtgebälk im Kreml zu hören. Dmitri Medwedew profiliert sich dabei immer neu als der schärfste Hund von allen, notiert die taz. Die Politik hat Angst vor einem kalten Winter. Verständlich, so die Ruhrbarone. Sie ist aber auch schuld an der Lage. In Italien droht unterdessen eine rechtspopulistische Regierung à la Ungarn oder Polen. In der SZ denkt Micha Brumlik über die Verbindung von Antiamerikanismus und Antisemitismus nach.

Die Frage "Was kannst du tun?"

21.07.2022. In der Welt staunt Henryk Broder über "die Gelassenheit, mit der ein relevanter Teil der deutschen Öffentlichkeit einem Massenmord unweit der eigenen Haustür zuschaut und sich dabei um das eigene Wohlergehen" sorgt. In der Zeit streiten Carlo Masala und Wolfgang Merkel über Waffenlieferungen an die Ukraine. Die FAZ erzählt aus Anlass von Ken Aulettas Weinstein-Biografie, dass auch amerikanische Medien zwanzig Jahre lang über Weinsteins Praktiken schwiegen. Die Palästinenser sind keine unschuldigen Opfer der Geschichte, antwortet Ulrike Klausmann auf Charlotte Wiedemann in der taz.

Die vierte narzisstische Verletzung des Menschen

20.07.2022. Verhandlungen mit Russland ja, aber erst wenn es auf die Linien vor dem 24. Februar zurückgedrängt ist, schreibt die  Historikerin Liana Fix in Zeit online.  In der Welt geht Thomas Schmid der italienischen Russland-Liebe auf den Grund. Verschiedene Medien berichten über den "Schlesinger-Filz" beim RBB. In der Welt erinnert der Historiker Thomas Weber die russischen Eliten an die deutschen am 20. Juli: "Es braucht regimetreue Persönlichkeiten, die sich gegen Putin wenden und zur Tat schreiten."

Kriegsmitarbeiter für das Patriarchat

19.07.2022. Die Politologin Tatiana Stanovaya skizziert in der New York Times einen Sieg Putins, wie er ihn sich erträumt. Das Thema Mafia ist aber beileibe kein rein italienisches, mahnt die Krimiautorin Petra Reski dreißig Jahre nach dem Mord an Mafia-Ermittler Paolo Borsellino in der FAZ. Die SZ hofft, dass Viktor Orban demnächst zu ungewohnter Demut gezwungen wird. Kritisch setzt sich Hubertus Knabe in seinem Blog mit dem Dokumentationszentrum "Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" auseinander. Und laut Marlene Streeruwitz in der NZZ kann Jürgen Habermas schon gar nichts zum Frieden beitragen.

Es ist nicht nur die Ukraine

18.07.2022. Was Putins Armee in der Ukraine treibt, ist nicht Krieg, sondern Terrorismus, schreibt Anne Applebaum in Atlantic - aber er hat einen Zweck. Olaf Scholz und Gesine Schwan erklären in FAZ und SZ  die "Zeitenwende". Jan Fleischhauer fragt in seiner Focus-Kolumne, wie Politiker annehmen konnten, "dass jemand, der Giftgas auf Kinder regnen lässt, kein Problem damit hat, den Gashahn zuzudrehen, wenn er meint, dass ihm das nutzt". Die FAZ erzählt, wie Frankreich der "Razzia des Vel d'Hiv" vor achtzig Jahren gedenkt.

Der Wunsch nach Echtheit

16.07.2022. Europa befindet sich gegenüber dem längst schon siegreichen Putin in einer total aussichtslosen Situation, ist sich Jörg Baberowski bei t-online.de sicher. Die Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars haben dabei aber noch ein Wörtchen mitzureden, informiert die SZ. Sehr viel wird in den Medien über den Misserfolg der westlichen Sanktionen diskutiert. Auch in der italienischen Regierungskrise spielt der Krieg gegen die Ukraine eine Rolle, berichtet die FAZ. Xi Jinping nimmt unterdessen in Xinjiang eine Parade gleichgeschalteter Uiguren ab, berichtet ebenfalls die FAZ.

Die Erreichung relativer Ziele

15.07.2022. 22 Menschen kamen bei einem Terroranschlag in der ukrainischen Stadt Winnyzja ums Leben. Denn Angriffe auf Wohngebäude sind Terrorismus, nichts anderes, kommentiert die FAZTrump will 2024 wieder kandidieren, sagt er dem New York Magazine, er will nur noch nicht sagen, wann er es sagen will. SZ und heise.de untersuchen das fatale Wirken von Bots.

Ganz friedlich einmarschieren

14.07.2022. Der absolut chaotische Beschuss von Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Verwaltungsgebäuden, der Infrastruktur des Hafens und der Felder ist charakteristisch für Russlands Krieg in der Ukraine geworden, berichtet Anastasia Magasowa für die taz aus Mykolajiw. Ralf Fücks fürchtet in Spiegel online, dass die Solidarität mit der Ukraine wegbricht. In der FAZ fordern Militärexperten ein dezidierteres Agieren der deutschen Politik. Omri Boehm attackiert in der Zeit Natan Sznaider und den Zentralrat der Juden.

Immer gekühlter Champagner

13.07.2022. Die Feuilletons trauern um Johannes Willms, der wie ein gut gelauntes Denkmal aus glücklicheren Medienzeiten in die Gegenwart ragte. In der Welt macht sich Timothy Garton Ash nach Boris Johnsons Abgang Hoffnung auf eine zaghafte Annäherung von UK und EU. Die taz kommt auf den Mord an Shinzo Abe und die Rolle der Moon-Sekte zurück. Was in der Ukraine stattfindet, ist ein "Urbizid", schreibt Klaus Englert ebenfalls in der taz, darin manifestiere sich der Hass auf einen " Feind, der einem selbst so sehr gleicht".

Die ideologische Dimension des Kampfes

12.07.2022. Osteuropa übersetzt die jüngste Rede Wladimir Putins vor der Duma, in der sich westliche Debatten auf bizarre Art spiegeln. Die taz berichtet über die "Kampfgruppe Anarcho-Kommunisten" (Boak), die im russischen Hinterland Angriffe auf Nachschublinien verübt. Im Tagesspiegel mokiert sich Herfried Münkler über die Autoren der Emma-Briefe, die sich im Adressaten geirrt hätten. Die FAZ berichtet über drohende neue "Slapp-Klagen" gegen Catherine Belton, diesmal aus der Schweiz. Die FAZ beleuchtet auch das neue spanische "Gesetz über die demokratische Erinnerung".

Gegenstand aus Holz

11.07.2022. David Patrikarakos schildert für Unherd Szenen der Gewalt aus den von den Russen besetzten Gebieten um die Stadt Cherson.  Jean-Baptiste Jeangène Vilmer erklärt in Le Monde, warum der modische "Realismus" in außenpolitischen Fragen keiner ist. Die Unterzeichner der Emma-Briefe machen sich zu "Anwälten eines Aggressors", sagt Marina Weisband in der FAS. Der Slawist Wolfgang Kissel erzählt in der FAZ, warum das Abreißen und Wiederaufstellen von Puschkin- und Schewtschenko-Büsten im Ukraine-Krieg eine so große Rolle spielt.

Dunkelste Motive und gewaltige Irrtümer

09.07.2022. Im Guardian hofft Fintan O'Toole, dass sich die demokratische Welt von den Wunden erholen wird, die ihr Boris Johnson geschlagen hat. In der NZZ verabschiedet sich Ivan Krastev von der EU als einem Imperium der harten Budgets und weichen Ränder. Transgender-Aktivisten säen eine Kultur des maximalen Misstrauens, meint die FAZ. Aber nein, meint die FAZ, mit der Hysterie wollen die Republikaner nur Stimmen fangen.

Mystische Lösungen für reale Probleme

08.07.2022. Verhandlungen können auch auch als Gelegenheit zu weiterer Eskalation genutzt werden, schreiben die Osteuropaforscherinnen Susann Worschech und Franziska Davies an die Adresse der Emma-Friedenstruppe. Boris Johnson geht und hinterlässt bei den Kommentatoren nicht gerade gute Stimmung. Ferda Ataman ist mit recht kümmerlicher Mehrheit zur Antidiskriminierungsbeauftragten gewählt worden, konstatiert Spiegel online.

Ständig nur Opfer und Privilegierte

07.07.2022. Stinkt nach zynischer Gleichgültigkeit, antwortet Serhij Zhadan auf den zweiten Brief der Emma-Friedenstruppe.  In der NZZ schildert Zhadan, wie eine kurze Episode der Ruhe in Charkiw zu Ende geht. Heute wird wohl Ferda Ataman zur unabhängigen Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes gewählt. Die Debatte über sie hat sich noch intensiviert: Sie soll sich der Diskussion mit ihren Kritikern stellen, fordert Hamed Abdel-Samad in der Jüdischen Allgemeinen. Der Journalist Stephan Anpalagan verteidigt Ataman gegen die "Kampagne von CDU, AfD, Bild, Welt und vielen anderen Medien".

Zwölf Punkte beim Songcontest

06.07.2022. Im Moment sieht es so aus, als würde sich die russische Armee in der Ukraine festsetzen, aber das wird nicht so bleiben, prognostiziert der Militärhistoriker Lawrence Freedman in seinem Blog. Sind die Westeuropäer wirklich bereit, für die Ukraine einzutreten, fragt der belarussische Autor Sasha Filipenko in der FAZ Andrij Melnyk wird gehen. Ferda Ataman wird kommen.

Licht aus gnostischen Hinterwelten

05.07.2022. Gewalt ist in der russischen Gesellschaft tief verankert und fängt schon bei der Kindererziehung an, schreibt Inna Hartwich in der taz. Georg Witte in der FAZ und Franziska Davies bei den Salonkolumnisten fragen, was in Deutschland mit der Debatte über den Krieg schiefläuft. Für Micha Brumlik in der Berliner Zeitung ist Andrij Melnyk "Holocaustleugner und damit auch Antisemit". Viel diskutiert wird auch über die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, die an der Humboldt-Uni fast behauptet hätte, es gebe zwei Geschlechter.

Diejenigen, die am meisten bedroht sind

04.07.2022. Die Schweden werden Nato-Mitglieder. Gut so, meint der schwedische Schriftsteller Richard Swartz in der NZZ - damit hat die Heuchelei ein Ende. In einem sind sich Rechte und Linke einig: Frauen zählen nicht, schreibt die New York Times-Kolumnistin Pamela Paul, die nicht nur über das  Supreme-Court-Urteil zu Abtreibung entsetzt ist, sondern auch über die Reaktion vieler linker Organisationen. Für viele deutsche Journalisten sei es immer noch schwierig, über die Kontinuität reicher Familien seit der Nazi-Zeit zu schreiben, sagt der Historiker David de Jong im Tagesspiegel - zu einflussreich seien die Familien noch heute.

Ein konstitutives Anderes Europas

02.07.2022. Deutsche "Antifaschisten", die zum Krieg bisher nicht viel zu sagen hatten, sind nach Äußerungen von Botschafter Andryj Melnyk über den ukrainischen Ultranationalisten Stepan Bandera endlich aufgewacht. Alice Bota und Franziska Davies erklären auf Twitter geduldig den Kontext und warum Melnyks Äußerungen unhaltbar sind - so auch Thomas Schmid in der Welt. Bei Deskrussie.fr schildert  Sergej Medwedew Russland als Reich der Angst. "Amerika zerbricht", schreibt Hubert Wetzel im Leitartikel der SZ, und das sei keine Metapher.

Es gibt keine Korrektive mehr

01.07.2022. Zwei Attacken: Der Historiker Ulrich Herbert kritisiert in der taz Timothy Snyder: Die Begriffe "Faschismus", "Völkermord", "Vernichtungskrieg", die Snyder verficht, träfen auf den Ukraine-Krieg nicht zu, so Herbert. Bei der Frage der Waffenlieferungen ist Herbert skeptisch. Attacke Nummer 2: die New York Times bringt einen höchst kritischen Bericht über die einflussreiche Kunstsammlerin Julia Stoschek und den "Nazi-Hintergrund" ihrer Familie. Außerdem: Debatten zu Selbstbestimmungsgesetz und zu Abtreibung in Amerika.