9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2021

Wann man Differenz betont und welche

30.06.2021. Die SZ ist enttäuscht über das neue Organigramm der Stiftung Preußischer Kulturbesitz - über dem doch derselbe Hermann Parzinger thront. Eine zivilgesellschaftliche Initiative fordert neue Gesetze zur politischen Bildung, um eine Parteistiftung der AfD zu verhindern. Die Berliner Zeitung weiß, wie teuer es wird, wenn man der Umbenennung der Mohrenstraße widerspricht. In der New York Times schreibt  Timothy Snyder über Geschichtspolitik. Und im Guardian fragt Amartya Sen: Was hat die britische Herrschaft Indien gebracht?

Doch die größte Gruppe fehlt

29.06.2021. Die Welt freut sich trotz allem über die Regionalwahlen in Frankreich:: "Die Ränder schrumpfen wieder, die Mitte wächst." Bei Persuasion verteidigt der Politologe Jonathan Rauch die Wahrheit, auch gegen alle, die behaupten, ihre Identität entscheide. Die SZ berichtet über die Autorin Kathrin Schmidt, die sich den Coronaskeptikern angeschlossen hat und trotzdem Stadtschreiberin in Dresden ist. Götz Aly verabschiedet sich mit einer letzten Kolumne von den Lesern der Berliner Zeitung.

Auf dem Promilleweg

28.06.2021. Sowohl die britische Linke als auch die Rechte leben von Nostalgie - Zeichen eines Niedergangs, schreibt Nick Cohen im Observer. Die taz bringt ein Dossier zur dringend notwendigen Verkehrswende. Eine Autorin aber erinnert daran, dass das Auto auch Freiheit bedeutete. Warum ist das heutige Bürgertum so mit sich zufrieden, fragt Thomas Ribi in der NZZ. hpd.de erzählt, wie die Kirchen in Bayern den konfessionsgebundenen Religionsunterricht zementieren. Zeit online kommentiert die antriebslosen Regionalwahlen in Frankreich.

Eine Art soziale Brückentechnologie

26.06.2021. In La règle du jeu erkennt Bernard-Henri Levy: Nur die Konservativen können die Rechten aufhalten. In der Welt warnt Manon Garcia Frauen davor, Wegweisern zu folgen: Zu oft wurden sie von Männern aufgestellt. Der Tagesspigel blickt nach Istanbul, wo der Schriftstellerin Asli Erdogan und anderen Autoren eine neue Runde Prozesse droht. In der SZ erinnert Dana von Suffrin an das Pogrom von Jassy vor achtzig Jahren.

Sie waren wir

25.06.2021. Knochenfunde. Traumata. Die Feuilletons beugen sich über die Abgründe unserer Geschichte: Stammen die Knochenfunde auf dem Gelände der FU Berlin aus Auschwitz? Die von Götz Aly vorgebrachte These ist höchst umstritten, notiert die taz. In Dresden befasst sich eine ganze Ausstellung mit historischen Traumata, die FAZ hat sie besucht. Das Rijksmusum organisiert erstmals eine Ausstellung über Sklaverei, die der Standard bespricht. Und Ian Dunt ist traumatisiert vom Brexit.

Kekse statt Krabben

24.06.2021. Auf der Einmaligkeit des Holocaust zu bestehen, heißt vor allem, auf dem Konzept der historischen Wahrheit zu bestehen, schreibt Alan Posener in der Welt als Antwort auf A. Dirk Moses. Morgen sollen die britischen Schulkinder "Strong Britain, Great Nation" singen, denn es ist "One Britain One Nation"-Tag - aber der New Stateman hat Zweifel. New York Times und SZ verabschieden Apple Daily, das letzte wichtige oppositionelle Medium in Hongkong.

Eine nichtschwule Aura

23.06.2021. Ziemlich selbstgefällig findet Jan Feddersen in der taz die Empörung über die Uefa, die verhindert hat, dass das Münchner Olympiastadion in einem Regenbogen erstrahlt - warum wohl gibt es im deutschen Profifußball keinen einzigen offen schwulen Fußballer? Die SZ sieht's anders. Die Presse ist gerettet: Zumindest wenn sich die Forderung nach 900 Millionen Euro Leistungsschutzgeld jährlich allein von Google durchsetzt, die Corint Media laut Clap erhebt. In der NZZ erklärt der Astronom Avi Loeb, warum er außerirdisches Leben für nicht unwahrscheinlich hält. Die SZ will am Grundsatz "ne bis in idem" festhalten.

Nee, also Europäer ist hier keiner

22.06.2021. Die Frage ist nicht, ob Annalena Baerbock bei ihrer Bio ein bisschen geschummelt hat, das Problem ist die Bio selbst, meint Gunnar Hinck in der taz: denn die Bios jüngerer PolitikerInnen gleichen sich allzusehr. Im Berliner Pilecki-Institut eröffnet die Ausstellung "Belarus lebt" über die Demokratiebewegung gegen Lukaschenko. Richard Herzinger thematisiert Russlands Rolle bei ihrer Niederschlagung. Die Ausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist von den Streitigkeiten gezeichnet, die ihre Entstehung über Jahre begleiteten, findet Andreas Kilb in der FAZ. Welt und Zeit online präsentieren neue Ideen gegen den Klimawandel.

Auf der richtigen Seite der Geschichte

21.06.2021. Vor achtzig Jahren überfielen die Deutschen die Sowjetunion. Die taz bringt aus diesem Anlass ein großes Dossier, unter anderem mit einem Text von Karl Schlögel. In der FAZ schreibt Viktor Jerofejew. Der ägyptische Autor Wagdi al-Komi erklärt in der NZZ, warum ein Artikel über Bäume das Potenzial hat, ihn ins Gefängnis zu bringen. Die SZ findet die Ausstellung im neuen Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung gelungen. Und Andrew Sullivan erklärt in seinem Blog, warum es falsch wäre, "Critical Race Theory" an Schulen zu verbieten.

Die Uhr tickt laut und klar

19.06.2021. Es wird endlich Zeit, dass die Deutschen angemessen des Überfalls auf die Sowjetunion gedenken. Das heißt aber auch, dass man keine Waffenlieferungen in die Ukraine fordern sollte, findet die SZ. Die New York Times feiert den Juneteenth: Aber die Historikerin Kate Masur erinnert auch daran, dass das Ende der Sklaverei in den meisten Staaten nicht das Ende diskriminierender Gesetze bedeutete - bis heute. In der FAZ plädiert Patrick Bahners gegen die Rückgabe der Benin-Bronzen: Deutschland war in Nigeria nie Kolonialherr, und die Museen in Paris, London und New York rücken die Bronzen auch nicht raus. Der Tagesspiegel recherchiert zu palästinensischen Schulbüchern, die von Deutschland und der EU mitfinanziert werden.

Politisch farblose Männer

18.06.2021. Nach Merkel kandidieren drei MerkelianerInnen, beobachtet Julian Nida-Rümelin in der Welt. Bei der Debatte um A. Dirk Moses schließt sich ein Hufeisen, konstatiert der Historiker Norbert Frei in der SZ: Linke wollen den Holocaust "kontextualisieren", und Rechte freuen sich über "postkoloniale Angriffe auf den 'Auschwitz-Mythos'".  In Dänemark schließt sich auch ein Hufeisen, schreibt der dänische Autor Carsten Jensen in der FAZ: Die Sozialdemokratie feiert Erfolge - mit rechtspopulistischer Politik. Die FR nimmt den von der russischen Regierung betriebenen und finanzierten Staatssender RT DE unter die Lupe.

Wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Engel

17.06.2021. Ins Internet ist eine Atmosphäre der Angst eingezogen, und sie ist obszön, schreibt Chimamanda Ngozi auf ihrer Website. Nicht Carolin Emcke leistet dem Antisemitismus Vorschub, sondern ihre Kritiker, schreibt Jens Jessen in der Zeit. In der FAZ geißelt Christoph Türcke  die "Sprachmagie" der Political Correctness. Ungarn hat ein vor Homophobie strotzendes Gesetz erlassen, notiert Bascha Mika in der FR. In der SZ erklärt Ivan Krastev die Ideologie dahinter. taz und SZ greifen den Protest an den Uni auf: eine Mittelbaubewegung.

Aus der Rumpelkammer der Phrasen

16.06.2021. Die Hohenzollern  haben im Streit um die Entschädigungsforderungen viele Historiker und Journalisten mit Unterlassungsaufforderungen und Klagen bekämpft - diese wehren sich nun mit einer Website, die diese Klagen dokumentiert, berichtet Zeit online. A. Dirk Moses äußert sich in The New Fascism Syllabus sehr zufrieden über die Debatte, die er auslöste und tritt nochmal für die "rassifizierten" Minderheiten ein, deren Leid mit Hinweis auf die Holocaustopfer ignoriert werde. In der FR tritt Aleida Assmann für Carolin Emcke ein und attackiert den Springer-Verlag. In den Sehepunkten antwortet Hedwig Richter auf ihre Kritiker.

Freiwillig nach Rottweil

15.06.2021. In Belarus sind 454 Aktivistinnen und Journalisten in Haft, weil sie Demokratie fordern, die taz stellt einige von ihnen vor. Ebenfalls in der taz spricht der Historiker Ulrich Herbert über den Abschluss der  Quellensammlung zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden". Das Blog The New Fascism Syllabus arbeitet unermüdlich weiter an der Durchsetzung von A. Dirk Moses' neuem "Katechismus". In der Deutschen Welle spricht die die nigerianische Journalistin Tobore Ovuorie über die Bedeutung von Twitter in ihrem Land. Die SZ warnt junge Menschen vor akademischen Karrieren.

Radikal vom Ursprung gelöst

14.06.2021. Guardian und NZZ machen sich Gedanken über die "Laborleck"-Hypothese, die ein "moralisches Erdbeben" auslösen könnte. Die SZ greift die von Götz Aly angestoßene Diskussionen über Knochenfunde auf  dem Gelände der FU und ihre mögliche Herkunft aus Auschwitz auf. Faktisch falsch findet Jürgen Kaube in der FAS A. Dirk Moses' "Katechismus"-These, nach der Deutschland sein Selbstverständnis in Bezug auf den Holocaust definiert habe. Aber im Blog New Fascism Syllabus stimmen immer neue Professoren in Moses' Katechismus ein. Und was Carolin Emcke bei den Grünen gesagt hat, kann man sicher schnell vergessen.

Also macht er die Hecke weg

12.06.2021. Im Spiegel stellt sich der linke Intellektuelle Didier Eribon gegen hypersensible Wokeness und strenges Gendern. In der taz fragt der Philosoph Axel Honneth, ob den Menschen in der Wirtschaft die Demokratie ausgetrieben wird. Der FAZ schwant, dass "Bio" auf dem Land schwieriger ist als in der Stadt. In der NZZ erzählt  der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi, wie er in in Algerien in Antisemitismus geschult wurde. Die FR erinnert an die vor zweihundert Jahren geborene Frauenrechtlerin und Autorin Luise Büchner.

Die Paniktrompete

11.06.2021. taz und FAZ schildern, was es in der Praxis heißen wird, dass Alexej Nawalnys Organisationen als "extremistisch" verboten werden: Repressionen und Gewalt. Die Aktion #allesdichtmachen hat vor sehr sehr langer Zeit großes Aufsehen erregt. Der Tagesspiegel wähnte rechte Kräfte am Werk. Nun darf der Initiator Dietrich Brüggemann im Tagesspiegel antworten. Wie wär's mal zu fragen, wo gerade genozidale Politik betrieben wird, unabhängig von der Frage, ob der Kolonialismus daran schuld ist, schlägt der Historiker Joachim Haeberlen im New Fascism Syllabus vor.

Ein weiterer Bedeutungsraum

10.06.2021. Auch der Satiriker und Putin-Kritiker Dmitri Bykow scheint schon 2019 Opfer einer an Nawalny erinnernden Giftgasattacke geworden zu sein, berichtet das investigative Magazin Bellingcat. Antisemitismus ist längst Pop, und damit längst Mainstream, konstatiert die Schriftstellerin Mirna Funk in der Zeit. Ebenfalls in der Zeit erinnert der Historiker Wolfram Wette an den Überfall der Nazis auf die Sowjetunion vor achtzig Jahren. Götz Aly kritisiert in der Berliner Zeitung, dass des Überfalls nicht gedacht wird. Die NZZ kommt auf den Rassismus Rudolf Steiners zurück.

Und dabei kommen Aerosole zustande

09.06.2021. In Zeit online verteidigt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, seine Äußerung, die Ostdeutschen seien "diktatursozialisiert". newfascismsyllabus.com und geschichtedergegenwart.ch bringen weitere zustimmende Texte zu A. Dirk Moses' Polemik gegen den "Katechismus der Deutschen". Die SZ  ist deprimiert über französische Zustände, wo rechts und links im Macron-Hass vereint sind. Und immer Ärger über Julie Burchill.

Selbstzerstörerische Prophetie

08.06.2021. Nach der Routine der Wahlsendungen zu Sachsen-Anhalt kommen nun auch einige tiefer schürfende Analysen. Ingo Schulze beklagt in der SZ die tiefen sozialen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Wahlen werfen im übrigen ein unheimliches Problem auf: Wie stark beeinflussen Prognosen und Medien den Ausgang von Wahlen, fragen Jürgen Kaube in der FAZ und Henryk Broder in der Welt. Die Debatte  um A. Dirk Moses' Polemik "Katechismus der Deutschen" geht weiter: Moses ist ein Sieferle von links, meint Volker Weiß in der taz.

Erklärende Tafeln bislang unbekannten Inhalts

07.06.2021. Überall wird über Erinnerung diskutiert. Selbst im Programm der Grünen wird eine Erweiterung des Gedenkens gefordert: Das Wort "kolonial" kommt sechsmal vor, das Wort "Holocaust" überhaupt nicht, notiert Simon Strauß in der FAZ. Im Tagesspiegel fordert eine Autorengruppe eine "plurale Erinnerung". Perlentaucher Thierry Chervel antwortet auf A. Dirk Moses' Polemik über den "Katechismus der Deutschen". Götz Aly erklärt unterdessen in der Berliner Zeitung, warum auf dem Gelände der FU nach Knochen gesucht werden sollte.

Manchmal sagen Hände mehr als Worte

05.06.2021. taz und FAZ greifen die obszön-stalinistische Inszenierung des Roman-Protassewitsch-Interviews im belarussischen Staatsfernsehen auf. Die Debatte über den von A. Dirk Moses beklagten "Katechismus der Deutschen" in dem Blog newfascismsyllabus.com geht weiter: Für den Historiker Alan Confino ist sie eigentlich eine Debatte über Israel. In der Welt antwortet Zelda Biller auf einen Text von Fabian Wolff, der ebenfalls eine "Holocaust-Neurose" der Deutschen diagnostiziert hatte. In der SZ schreibt A.L. Kennedy über den deplorablen Zustand der britischen Medien.

Plurale Anerkennungsansprüche

04.06.2021. "Das belarussische Volk verdient es, in einem freien Land zu leben", sagt der belarussische Punker Igor Bancer in der taz. Aber den Demonstranten geht die Luft aus, ergänzt der belarussische Politologe Waleri Karbalewitsch ebenfalls in der taz. Demonstranten, die in Hongkong auf den Straßen an die Opfer des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens erinnern wollen, drohen jetzt fünf Jahre Haft, weiß die SZ. In der Welt fordert Ahmad Mansour: Muslimische Deutsche müssen die strikte Trennung von Religion und Staat bedingungslos anerkennen. Und in der taz hält der Soziologe Steffen Mau Identitätspolitik für ein Übergangsphänomen.

Wie Geister im Zentrum der Stadt

03.06.2021. Die Debatte über A. Dirk Moses geht weiter - Geschichtsprofessoren wie Frank Biess schwören ab vom "Katechismus der Deutschen". In der Zeit staunt Felix Heidenreich über das französische Hufeisen: Rinks und lechts lassen sich da leicht verwechseln - gelernt hat er es bei Philippe Corcuff. "Kopftücher bei Beamtinnen zu untersagen, ist nicht neutral", findet die die Jura-Studentin Rabia Küçüksahin im Tagesspiegel. Das Problem mit dem russischen Regime "besteht darin, dass es kaum noch einen friedlichen Ausweg offenlässt", sagt der in Moskau geborene Journalist Keith Gessen in der Welt.

Ein machtvolles Destillat

02.06.2021. Le Monde und die taz erzählen die Geschichte der Internate für Indigene in Kanada - wo viele Kinder Gewalt erlitten haben und gestorben sind. Neulich hatte der Historiker A. Dirk Moses über den "Katechismus der Deutschen" gespottet, der darin bestehe, den Holocaust für ein singuläres Ereignis zu halten. Der Historiker Neil Gregor stimmt ihm heute in geschichtedergegenwart.ch zu. Die SZ beklagt, dass immer weniger Kinder mit Down-Syndrom geboren werden. Wer sich mit einem Davidstern um den Hals bei einer propalästinensischen Demo blicken lässt, muss ein ganz schöner Dummkopf sein, schreibt Tagesspiegel-Autor Malte Lehming.

Tugenden der kindlichen Frömmigkeit

01.06.2021. Der Guardian und Le Monde erinnern an das Massaker von Tulsa vor hundert Jahren, einen der extremsten Ausbrüche rassistischer Gewalt in den USA. China antwortet mit einer "Dreikinderpolitik" auf den demografischen Schwund der Bevölkerung, berichtet die FAZ - aber die Chinesinnen antworten mit keinem Kind. Im Tagesspiegel wendet sich Claus Leggewie vehement gegen die Hufeisentheorie. Bei hpd.de erzählt eine feministische Aktivistin aus Irak, was es heißt, gegen das Kopftuch zu kämpfen.