9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juni 2022

Unter Umgehung des Grundwehrdienstes

30.06.2022. Wird Wladimir Putin Belarus noch stärker in den Krieg hineinziehen, fragt die taz. Amnesty International weist nach, dass die Beschießung des Theaters von Mariupol ein russisches Kriegsverbrechen war. Bei commonsense.news erzählt Avi Zinger, der israelische Lizenznehmer von Ben &  Jerry's, was für absurde Auswirkungen der Israelboykott hat. Ein schwarzer Markt wird entstehen, Rechtsunsicherheit und Kriminalisierung werden zunehmen, prognostiziert die in den USA lehrende Philosophin Christine Lotz in der FR nach der Abtreibungsentscheidung des Supreme Court.

Bald platzender Metallfrosch

29.06.2022. Angesichts kursierender Gerüchte, bringt die BBC einen Faktenscheck zum neuesten russischen Kriegsverbrechen in Krementschuk und entkräftet die Verlautbarungen der Putin-Sprecher. Mit einem Einfrieren des Konflikts bekäme Putin nur Zeit, die Ukraine weiter zu zerstören, schreibt Reinhard Veser in der FAZ. Der Philosoph Grigori Judin verteidigt in der NZZ die russischen Bürger gegen westliche Überheblichkeit: Die Zivilgesellschaft ist auch deshalb entkräftet, weil der Westen Putin jahrzehntelang nicht nur gewähren ließ, sondern belohnte.

Fabriken, Minen, Häuser, Güter und Aktien

28.06.2022. Die Nato und der G7-Gipfel senden starke Signale an Moskau, vor allem durch die Versiebenfachung der schnellen Eingreiftruppe, freut sich Stefan Kornelius in der SZ. Erstaunliche Zahlen muss laut FAZ die katholische Kirche verkünden: Fast 360.000 Menschen sind ausgetreten, das sind rund 1,7 Prozent. Der Supreme Court hat noch eine dritte sturzkonservative Entscheidung getroffen, alarmiert thedailybeast.com, sie betrifft die Trennung von Staat und Religion. In der SZ spricht David de Jong über die düstere Kontinuität in den reichsten Familien Deutschlands.

Ängste schüren

27.06.2022. Auf dem Gesicht Putins spielt "erneut sein selbstgewisses, höhnisches Lächeln. Wie viele Jahre wird dieses Lächeln noch leben", fragt Viktor Jerofejew in der FAZ. Was die Republikaner nicht auf gesetzgeberischem Wege schafften, schafften sie durch die Besetzung des Supreme Court, notiert die SZ nach zwei radikalen Entscheidungen des Gerichts.  Abtreibungsverbote treffen in einem Land ohne allgemeine Gesundheitsversorgung natürlich in erster Linie arme Frauen, ergänzt Sonia Sodha im Observer. Auch für die britischen Konservativen ist die Debatte um den Brexit in eine neue Phase eingetreten, die der Dolchstoßlegenden, warnt Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne.

Die Unaufrichtigkeit der Mehrheit

25.06.2022. Der Supreme Court hat das Recht auf Abtreibung gekippt. Die Entscheidung war erwartet, dennoch stehen die USA unter Schock. In den ersten Bundesstaaten sind die Abtreibungsverbote schon in Kraft getreten. Die NYTimes weiß gar nicht, wessen Würde stärker verletzt wurde: die der Frauen oder die des Rechts. Der Meister der Demütigung bleibt aber Wladimir Putin, betont Ivan Krastev in der taz. In der SZ erklärt der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko, wie man Fernsehsender zum Kooperieren bringt. Und in der NZZ rät John Gray, von den Katzen zu lernen.

Angesichts gravierender Krisen

24.06.2022. Die Ukraine hat EU-Kandidatenstatus, eine historische Entscheidung, freut sich der Guardian. Heute soll der Paragraf 219a fallen: Die Ärztin Kristina Hänel erinnert in einer Presseerklärung, daran, wie er die Debatte über Abtreibung in Deutschland verzerrte. Der SZ erklärt der Historiker Volker Weiß, wie Antirassismus und Antisemitismus zusammenhängen können. In der FR erzählt Arno Widmann, wie Walther Rathenau Lenin inspirierte.

Wer in Russland BMW fährt

23.06.2022. Anfang April war es zunächst nur eine Meldung: Der Fotograf Maksim Levin sei in der Nähe von Kiew russischer Bombardierung zum Opfer gefallen. Nun stellt sich heraus, dass er exekutiert wurde - die "Reporter ohne Grenzen" bringen dazu ein Dossier. In Berlin soll ein "Dokumentationszentrum Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa" entstehen - die FAZ bescheibt das Konzept. Das Problem mit Israel ist konstitutiv für den postkolonialen Diskurs, konstatieren Tagesspiegel und FAZ.

Die seltsamen Forderungen des Westens

22.06.2022. "Putin kann sich darauf verlassen, dass Energie für europäische Wohnungen immer wichtiger sein wird als die Freiheit der Ukrainer und Russen", fürchtet der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko in der NZZ. Der Guardian bringt ein Dossier über russische Kriegsverbrechen. Großen Widerspruch lösen Äußerungen des Scholz-Beraters Jens Plötner aus, der findet, jetzt sei genug über Waffenlieferungen an die Ukraine geredet worden. In der SZ schreibt Michael Brenner über den Mord an Walther Rathenau vor hundert Jahren.

Abgebaut

22.06.2022.
Literatur und Engagement: Simbabwes Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga im Gespräch - Amélie Nothomb schreibt ihren meinem 105. Roman - PEN: Wo es um mehr als nur um Meinung geht - Documenta-Fiasko: Gespräche mit Heinz Bude und Claudia Roth

Dieses Gefühl des Verrats

21.06.2022. In Lettland soll ein Denkmal für die "Befreier Sowjetlettlands und Rigas von den deutschen faschistischen Okkupanten" abgerissen werden, berichtet die FAZ, der Streit offenbart einen tiefen Riss im Land. Die "republikanische Front" ist zerbrochen, konstatiert Le Monde nach den Parlamentswahlen in Frankreich. Don't mention the Brexit: Dass der Brexit der britischen Wirtschaft schadet, wird in der Politik des Landes gern beschwiegen, so die Financial Times. Spiegel online und New Statesman fragen, warum Putin in Lateinamerika und Indien so beliebt ist.

Das ist nicht Demokratie. Es ist Oligarchie

20.06.2022. Die schockierende Gewalt, die die Russen über die Ukrainer gebracht haben, ist kein Exzess, in Russland ist sie ein alltäglicher Teil des Systems, schreibt Sergei Medwedew in Dekoder. Das Problem der SPD mit Russland hat nicht mit Wladimir Putin angefangen, sondern spätestens in den achtziger Jahren, sagt der Historiker Jan C. Behrends bei ntv.de. Die taz erinnert an die serbischen Kriegsverbrechen in Višegrad vor dreißig Jahren. Daten amerikanischer Nutzer von Tiktok werden trotz gegenteiliger Beteuerungen des Konzerns sehr wohl in China gelagert, hat Buzzfeed herausgefunden.

Zeichen von hoher Symbolkraft

18.06.2022. Ist die der Ukraine versprochene EU-Perspektive die richtige Entscheidung? Es gibt skeptische und befürwortende Kommentare. Die ukrainische Rechtsanwältin Kateryna Busol berichtet in der taz über drastischste Verbrechen sexualisierter Gewalt an der ukrainischen Bevölkerung. Das Team von Nawalny zeigt in einem neuen Video die Datscha von Alexej Miller - das ist der Mann, der uns das Gas abstellt. Außerdem: Ärger um eine Veranstaltung des Goethe-Instituts in Hamburg, das einen Sprecher auslud.

Ein solches amphibisches Leben

17.06.2022. Am Tag 113 des Krieges war Olaf Scholz nun in Kiew - und das war ein historischer Tag, finden die Zeitungen. Putin zerstört mit seinem Krieg auch alles, was von russischer und "postsowjetischer" Softpower geblieben ist, schreibt Ivan Krastev in der Financial Times. Der Krieg darf nicht anfangen, uns zu langweilen, warnt Nick Cohen im Jewish Chronicle. Ebenfalls im Jewish Chornicle: Empörung über Amnesty International, deren Vorsitzende jede Kritik an ihrem Apartheids-Vorwurf gegen Israel als Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs zurückweist.

Hallo an alle aus der Hochsicherheitszone

16.06.2022. Ein Foto bei La Repubblica zeigt Scholz, Draghi und Macron im Salonwagen auf dem Weg nach Kiew. Eine EU-Beitrittsperspektive sollte für die Ukraine schon rausspringen, meint Pierre Haski bei France Inter. Robert Habeck meldet sich auf Twitter zum Teilstopp der russischen Gaslieferungen: Sparen, Sparen, Sparen. Eine Gruppe ukrainischer AutorInnen antwortet in der taz auf den Emma-Brief - mit einem Brief an die junge Generation in Deutschland. Sönke Neitzel glaubt in der Welt nicht, dass die Ukraine den Donbass zurückerobern kann.

Und das leere Flugzeug kehrte in seinen Hangar zurück

15.06.2022. Wir sind mit schuld an diesem Krieg, schreibt der französische Russland-Experte Nicolas Tenzer in seinem Blog. Von wegen "Zeitenwende", schreibt Jagoda Marinic in der New York Times: Dieses Versprechen habe sich "in monatelangem Zögern und Zaudern aufgelöst". Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass eine antisemitische Schmähskulptur weiterhin an Luthers Kirche in Wittenberg prangen darf, weil sie durch eine Gedenktafel kontextualisiert wird. Diese Kontextualisierung müsste nur noch entschwurbelt werden, kommentiert die taz. Laut Guardian werden 29 britische Journalisten aus Russland ausgewiesen. Der polnische Historiker Jan Grabowski prangert in der Welt einen antisemitischen Vorfall bei der "Hijacking-Memory"-Konferenz im Berliner Haus der Kulturen an.

Ungeheure Explosionen aus Fehldeutungen

14.06.2022. Der Krieg gegen die Ukraine ist noch längst nicht zu Ende, aber die New York Times beschäftigt sich in einem beeindruckenden Dossier schon mit der Frage, wie seiner gedacht werden wird. Unternehmerfamilien wie die Quandts, die den Grundstein für ihr Vermögen in der Nazizeit legten, sollen für Transparenz sorgen, sagt der niederländische Autor David de Jong in der NZZ. Clemens Setz staunt bei Twitter über die Verwandlung von Text in Bild mittels KI. taz und Libération berichten über die islamistischen Morde in Burkina Faso. Und der Missbrauch in der Katholischen Kirche ist wieder Thema.

Noch jahrelang eine Gefahr

13.06.2022. Hunderte von Zivilisten in Charkiw sind wohl durch den russischen Einsatz eigentlich geächteter Streubomben gestorben, berichtet die BBC. Putins Weizen-Blockade ruft bei Timothy Snyder historische Erinnerungen wach, die er bei Twitter aufarbeitet. Die SZ freut sich über den harmonischen Verlauf einer Debatte von BDS-Befürwortern im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die NZZ staunt, wie woke Islamismus sein kann.

Aber der Irakkrieg!

11.06.2022. "Die meisten meiner Freunde sind im Exil, im Gefängnis oder umgebracht worden", sagt Garri Kasparow in der SZ. Auch Andrej Kurkow erzählt in der Financial Times vom Exil - es ist ein Exil im eigenen Land. Obszön ehrlich: Auf der Website des Kreml breitet Wladimir Putin neue Geschichtsversionen aus. Russland plant, sich vom Internet abzukoppeln, sagt der Experte Alexey Yusupov in der Berliner Zeitung. In der taz streiten drei Transpersonen über Sinn und Zweck des Feminismus.

Zorn der Ahnen

10.06.2022. In der Welt prangert Navid Kermani das "dramatische Versagen" nicht nur von SPD und Merkel, sondern aller Parteien an. Den Russen steht nicht nur Putin im Weg, sondern ihre eigene Geschichte, schreibt Artur Becker in der FR. In Frankreich stehen Parlamentswahlen an. Mit der neuen Linkspartei unter Jean-Luc Mélenchon hat der Putinismus gute Chancen, analysiert Le Monde. Im Guardian beschreibt Joan Nyanyuki vom "African Child Policy Forum" Gewalt gegen Kinder in Afrika.

Ganz froh, dass es jetzt vorbei ist

09.06.2022. Das Desaster des Geschehenlassens: Angela Merkel machte es sich im Berliner Ensemble mit ihrer Rolle in der Geschichte recht gemütlich, findet die Politico-Journalistin Zoya Sheftalovich. Und der Interviewer mit ihr, so die taz. Man habe es ja aber auch nicht wissen können, beharrt Manuela Schwesig in der Zeit. Wenn Putin die Ukraine filetiert, wird Deutschland als mitverantwortlich angesehen werden, warnt Ralf Fücks in der Berliner Zeitung. In Berlin klärt eine Konferenz, wie die "Neue Rechte" den Holocaust instrumentalisiert. Die mitorganisierende Susan Neiman vom Einstein-Forum erklärt in der SZ, warum sie es in diesem Kontext so wichtig findet, dass Institutionen "weltoffen" für Israelkritik sind.

Die Regierung sitzt im Aufsichtsrat

08.06.2022. In der taz erkärt der belarussische Autor Alhierd Bacharevič, warum er die Regimes in seinem Land oder Russland faschistisch nennt. Angela Merkel will sich für ihre Russlandpoltik nicht entschuldigen, berichtet der Tagesspiegel. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verweigert einigen deutschen Firmen, die gern in Xinjiang produzieren, Investitionsgarantien, berichtet die FAZ: Und nebenbei wird klar, dass VW nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Opportunismus dort produziert, und mit Billigung der Politik.

Moskaus künstliche Vorwände

07.06.2022. Putin hat schon gewonnen, wenn er die Ukraine dauerhaft in die Handlungsunfähigkeit zwingt, dazu muss er Kiew gar nicht erobern, schreibt die Politologin Tatiana Stanovaya in Spiegel online. Daniel Cohn-Bendit verabschiedet in der NZZ den deutschen Pazifismus. Die SZ beobachtet Björn Höcke auf Höhenflug in Thüringen. Im Observer blickt Nick Cohen mit Grausen auf den kommenden König Charles III. Die taz versucht sich nach einem blutigen Attentat auf einen Pfingstgottesdienst ein Bild von der Lage in Nigeria zu machen.

Diese Aktenschrank-Rhetorik

04.06.2022. Catherine Belton fürchtet in der Washington Post einen Zermürbungskrieg, und alles in allem, konstatiert sie, sind die Russen dabei erstaunlich guter Dinge. Die Zeit spielt dennoch für die Ukraine, hofft der Militärhistoriker Lawrence Freedman in der Financial Times und warnt davor, einem neuen Pessimismus Raum zu geben. Die taz bringt ein Dossier zu hundert Tagen Krieg: 1.800 Bildungseinrichtungen  und 600 medizinische Einrichtungen wurden in der Ukraine mindestens teilweise zerstört. Die FAZ erklärt, warum es in Hongkong heute gefährlich ist, ein schwarzes T-Short zu tragen.

Wir kaufen eure Jachten, und ihr kauft unser Gas

03.06.2022. Die New York Times berichtet über die Arbeit von "KleptoCapture", einer Ermittlungseinheit, die sich mit dem "oligarchisch-industriellen Komplex" befasst: Tausende verdienen auch in Deutschland ihr Geld damit, russischen Oligarchen zuzuarbeiten. Der russische Faschismus kommt aus dem Stalin-Kult, schreibt der ukrainische Autor Dmytro Bushuyev in der Berliner Zeitung. Die FAZ fragt, warum SPD-Politiker das Wort "gewinnen" nicht mehr über die Lippen bringen. In der SZ setzt sich der Historiker Kai Struve mit der Wahrnehmung Stepan Banderas im Westen und in der Ukraine auseinander.

So oft in diesem Park der Kuckuck 'kuckuck' ruft

02.06.2022. "Warum hat Europa den Krieg in der Ukraine zugelassen", fragt Viktor Jerofejew in der Zeit, und die Blindheit Europas halte an. Eliot A. Cohen erinnert in Atlantic an die Tugend der Beharrlichkeit im Krieg. Mit Russland wird man keinen "Interessenausgleich" erzielen, meint Richard Herzinger im Perlentaucher. Das Tableau verschiebt sich immer mehr "zugunsten der Illiberalen", fürchten die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna in der NZZ.

Erheblich Vorschub

01.06.2022. Joe Biden erklärt in einem Artikel für die New York Times, warum die USA die Ukraine weiter unterstützen - und bis zu welcher Grenze. In der NZZ warnt der Historiker Martin Rhonheimer vor den Folgen für Europa, sollte die Ukraine den Krieg verlieren und von Russland einverleibt werden. Sollte Hamburg tatsächlich erwägen, die Staatsoper Hamburg zu schleifen, um Platz für ein Immobilienprojekt zu machen, fragt die FAZ. Der Historiker Stephan Malinowski hat für sein Hohenzollern-Buch den deutschen Sachbruchpreis bekommen. Die taz und andere Medien würdigen seinen Beitrag zur Debatte. Die Welt warnt vor Chatkontrolle.