Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2001.

FAZ, 24.04.2001

Verena Lueken berichtet über die Aktivitäten des Guggenheim-Museums, das nach Soho, Venedig, Bilbao und Berlin im Sommer seinen nächsten Außenposten in Las Vegas errichten wird. "Während die kleineren Museen nun befürchten, mit dem Einzug des einundzwanzigsten Jahrhunderts in die musealen Operationsstrategien vollends den Zugang zu den Sammlungen zu verlieren, die durch weitreichende Partnerschaften des Guggenheim mit der Ermitage und dem Kunsthistorischen Museum in Wien - andere werden folgen - gebunden sind, müssen die großen Traditionshäuser sich als Fossilien vorkommen, übrig geblieben aus der Kreidezeit des Museumswesens, als dessen Herz noch das Sammeln, Konservieren und Ausstellen von Kunst war."

Jörg Magenau war bei einer Lesung von Günter Grass, Harry Mulisch und Wole Soyinka im Berliner Haus der Kulturen der Welt: "Als wollten sie die Leichtigkeit des Seins coram publico genießen, tranken Grass und Mulisch fröhlich Rotwein und schmauchten ihre Pfeifen, wie es sich für Dichter gehört. Der Heiterkeitskoeffizient nahm folglich zu, bis die abschließende Bitte des Moderators Dietrich Simon, zum Weltttag des Buches eine Leseempfehlung abzugeben, Bestürzung auslöste. Eine Empfehlung? Wie meinen Sie das? Also etwas anderes als die eigenen Bücher?"
Die FAZ hat außerdem das zweite Kapitel aus Mulischs neuem Roman über Hitler und Deutschland, "Siegfried", abgedruckt, der im Herbst bei Hanser erscheint.

Der Genozidforscher Mihran Dabag erinnert an den Völkermord an den Armeniern 1915/16 und stellt fest, dass dieser Genozid keinen "festen Platz im historisch-politischen Weltgedächtnis" hat. Türkischer "Verleugnungspolitik" sei es gelungen, "Deutungsmuster von Feindschaft und Konflikt im wissenschaftlichen Diskurs zu etablieren und die Geschichte des Genozids als Streitobjekt erscheinen zu lassen. Gedenken und wissenschaftliche Analyse sind so stets dazu gezwungen, zu verteidigen, zu rechtfertigen oder zu widerlegen. Die armenische Überlebendengemeinschaft wird in eine Kontroverse über die Wahrheit ihrer Erinnerung gezwungen."

Gerhard Stadelmaier kommentiert die Aufregung um Peter Stein, der bei einer Diskussion in Berlin vom 'Braten' oder vom 'Grillen' von Juden in Auschwitz gesprochen hat: "Und in allen Punkten hat er sogar ? geschmacklos ? recht. Denn natürlich bezeichnet das viel gebrauchte, so aseptisch und geschmackvoll klingende Wort 'Holocaust' in seiner Bedeutung als 'Brandopfer' nichts anderes als das 'Braten' und 'Grillen' und 'Brennen' von Juden."

Weitere Artikel: Jordan Mejias berichtet über den Erfolg des Wissenschaftstheaters in den USA, Petra Kolenko war dabei, als Jürgen Habermas vor 2000 Studenten einen Vortrag über "Drei Modelle der Demokratie" an der Peking-Universität hielt, Dietmar Polaczek beschreibt Italiens Trauer um Giuseppe Sinopoli, Eva Menasse hat sich über einen Artikel von Jens Jessen in der Zeit geärgert, der behauptet habe, die Auffindung der Wiener Gestapo Akten sei eine Art PR-Gag gewesen, und stellt erst einmal die Fakten richtig. Ellen Kohlhaas schreibt den Nachruf auf Cembalistin Edith Picht-Axenfeld, Peter Kroos erinnert an Hans Scharouns Deutsche Botschaft in Brasilia, die vor dreißig Jahren eröffnet wurde.

Besprochen werden die Uraufführung von Hans Neuenfels' "Neapel oder die Reise nach Stuttgart", eine Ausstellung über den Maler Fritz Hofmann-Juan in der Städtischen Kunstsammlung Freital, das Fotoprojekt "100 Jahre" von Hans-Peter Feldmann im Folkwang-Museum in Essen, ein Konzert der Sängerin Dido in Offenbach.

Auf der Medienseite kritisiert Eva Menasse Xaver Schwarzenbergers "peinliche Faschisten-Farce" "Edelweiss" im Österreichischen Rundfunk. Und Amelie von Heydebreck berichtet über die Geldsorgen einer der besten Lyrikseiten im Internet: lyrikline.org. Schlappe 200.000 Mark jährlich bräuchte die lyrikline, um über die Runden zu kommen. Deutsche Firmen kopieren doch so gerne die Amerikaner, wenn es um wirtschaftliche Strategien geht. Vielleicht sollten sie sich daran erinnern, dass amerikanische Unternehmen auch große Sponsoren sind.

NZZ, 24.04.2001

Hubertus Adam schreibt über eine Ausstellung des niederländischen Architekturbüros MVRDV im Stroom Center for the Visual Arts in Den Haag. Die Niederländer, die bereits mit einer Metacity Datatown (siehe dazu auch unser Link des Tages vom 11.4.) eine autark organisierte Stadt entworfen haben, dokumentieren mit einer "KM3 Pig City" ein weiteres Beispiel für Verdichtung in der Großstadt: "Bestimmend für die Grösse dieser Türme sind die Rentabilitätsziffern von Schlachthöfen, die bei mehr als 200 000 Schweinen pro Jahr liegen. Bei einer Lebenszeit von 180 Tagen bedeutet dies, dass gut 100 000 Schweine auf 40 Ebenen über dem in den Sockelgeschossen der Pig Towers untergebrachten Schlachthof leben ... Mit 77 Türmen könnte die gesamte existierende Schweinezucht der Niederlande ersetzt werden."

Weitere Artikel: Martin Krumbholz hält einen Rückblick auf acht Jahre Intendanz von Friedrich Schirmer am Stuttgarter Staatsschauspiel, und Reingard Dirscherl schreibt über den offiziellen und privaten Totenkult in Iran.

Besprochen werden eine Aufführung von Glucks "Iphigenie en Tauride" im Opernhaus Zürich und Bücher, darunter Saul Bellows "Ravelstein" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 24.04.2001

Über den Zusammenhang von konservativer Familienpolitik und abnehmenden Bevölkerungszahlen in den westlichen Gesellschaften hat sich Petra Steinberger Gedanken gemacht. Besonders die Frauen in ex-faschistischen Ländern, wo rein ideologietechnisch besonders viel über Mutterschaft geredet wurde, also Japan, Italien und Deutschland, hätten heute die wenigste Lust, Kinder zu bekommen. Aber auch anderswo wären Frauen längst über die familienfreundlichen Parolen konservativer Politiker ins Grübeln gekommen. Das Hausfrauenmodell, lesen wir auch, habe ohnehin ausgedient. Der Trend gehe zur Null-bis Ein-Kind-Familie. Statistisch gesehen sei aber die 2,2 Kind-Familie von Nöten. Durch die Abnahme der Bevölkerung ergibt sich aber ein "merkwürdiges Paradox ", das Petra Steinberger freudig begrüßt: die Arbeitskraft von Frauen werde zunehmend begehrt. Und: "Wen man aber dringend braucht, den behandelt man besser."

Konrad Lischka beschreibt, wie in den USA die Gefängnisse zum Wirtschaftsfaktor wurden. Hätte man früher Militärstützpunkt als Wirtschaftshilfe für arme, ländliche Regionen ausgebaut, seien es heute die Gefängnisse - mit teilweise fatalen Folgen für das Rechtssystem. Lischka stützt seine Thesen auf Arbeiten von Joseph Hallinan und Eric Schlosser, die für das Phänomen den Begriff "prison-industrial complex" geprägt haben. Mit über 600000 Beschäftigten seien die staatlichen und privaten Gefängnisse nach General Motors und Wal-Mart der drittgrößte Arbeitgeber in den USA, schreibt Lischka. Auch Firmen wie AT&T profitierten von den Gefängnissen. "Für Ferngespräche geben Häftlinge im Jahr Schätzungen zufolge eine Milliarde Dollar aus. Nur können sie nicht den billigsten Anbieter wählen. Die Gefängnisleitung entscheidet, mit welcher Firma telefoniert wird. Deshalb gibt AT&T bis zu 50 Prozent der Gewinne an die Gefängnisse weiter, allein in New York kamen 1997 so 21,2 Millionen Dollar zusammen." Die Abkehr von der Rehabilitation hin zu Strafe und Profit hat Lischka zufolge zu einer extremen Brutalisierung des Gefängnisalltags geführt.

Holger Liebs hat auf der Berlin Bienale Arbeiten des südafrikanischen Künstlers Kendell Geers gesehen, und dabei schwer beeindruckt in Horrorkabinette geblickt, wo er Momente eingefangen sah "wenn Sprache und Kultur versagen oder zerfallen". Liebs erzählt auch von einer Bonner Ausstellung vor zwei Jahren, wo eine Arbeit Geers in den Heizungskeller verbannt worden war, weil sie zu laut war: Bilder von einem martialisch schreienden Mann, der im Begriff war, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. "Ein Wachmann stand neben der Videoinstallation: Zwischen den enormen Schalldämpferhalbkugeln, die die Ohren schützten, hatte sich sein verzweifeltes Gesicht unter der Stressfolter der Selbstmörderfratze erstaunlich angenähert. Nach einer Woche wurde die Arbeit wegen Boykottaufrufen des Wachpersonals entfernt."

Ein mit "RJB" kürzelnder Kritiker über Giuseppe Sinopolis Einspielung von Bruckners fünfter Sinfonie: "Ein in Katastrophen zerschmetterter Belcanto wird erinnert, immer im rhythmisch packenden Aufruhr, 75 Minuten lang vorandrängend auf die letzte Eruption hin, die aber auch keine Erlösung bringen wird."

Besprochen werden außerdem Holger Schultzes Augsburger "Lulu"-Inszenierung, William Blake Herrons' Film "Texas Story" und Matthias Schönfelds "Don Giovanni" am Nationaltheater Mannheim. Rainer Stephan zeigt sich hoch erfreut über Lukas Bärfuss und Samuel Schwarz, die in Basel ihre Stück "Meienbergs Tod" uraufführten. Hans Jakob Meier hat in der Pariser Bibliotheque Nationale de France eine Ausstellung mit Handschriften französischer Schriftsteller und Dichter aus sieben Jahrhunderten gesehen.

FR, 24.04.2001

Roman Luckscheiter befasst sich mit Gedankenspielen französischer Schriftsteller über die Zukunft nationaler Kulturdenkmäler, vor deren Ausverkauf an multinationale Konzerne die einen warnten, andere wiederum ihre pietätslosen Gedankenspiele trieben. "Die Kathedralen sind der Ruin Frankreichs", zitiert Luckscheiter die Hauptfigur des jüngsten Romans von Laurence Cosse, einen Beamten, der mit der Verwaltung des nationalen Kulturguts beauftragt ist. Und weil dieser Beamte zwei Drittel aller französischen Kirchen sowieso häßlich findet, beauftragt er eine Freund beim Geheimdienst, besagte Gebäude innerhalb einer Nacht zu zerstören. Statistisch gesehen befindet sich der Mann auf der sicheren Seite, schreibt Luckscheiter und präsentiert Emnid-Ergebnisse: 37 Prozent aller Franzosen konnten sich vorstellen, "die Sakralbauten in Abenteuerspielplätze umzuwandeln, andere dachten gar an Diskotheken oder Ladengeschäfte. Mit 12 Prozent schlug die Empfehlung der Kurzentschlossenen zu Buche, man möge die historischen Gebäude einfach abreißen und den freien Platz anderweitig nutzen".

Für eine "deformation professionelle" hält Hans-Klaus Jungheinrich das Beharren Peter Steins auf sein Recht, den Holocaust als "Juden-Braten" bezeichnen zu können. "Voriges Jahr hat er den Faust inszeniert, den ganzen. In schönster Verantwortlichkeit. Wenn solch ein enormer Produktionsdruck weicht, mag das Bedürfnis nach Verantwortungslosigkeit ins Ungeheure wachsen. Die psychische Entlastung bricht viele Dämme."

Philipp Meuser ist durch die usbekische Stadt Taschkent spaziert, die ihm wie in Architekturmuseum erschien. Doch bestaunt hat er dort weniger "die Ikonen orientalischer Baukunst als vielmehr die unzähligen Dekor-Varianten an den Fassaden der Plattenbauten. Es scheint, als habe die Profession der Architekten in der mittelasiatischen Metropole mit der Formenvielfalt sich selber etwas beweisen wollen."

Die Rubrik "Times mager" sinnt über den "gehobenen Blödsinn im Geiste einer mönchischen Verschwörung" nach, den sie im "Kukulistischen Nachtcafe" der Berliner Schaubühne ausgemacht hat, wo man sich zu fortgeschrittener Stunde "einen Reim auf die Manifestfreude der frühen Jahre" gemacht habe, und nun Ostermeier mit Mao und Stefan Raab kreuzen würde.

Weitere Artikel: Ein Interview mit dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould über Evolution und Fortschritt. Peter Iden hat in Mailand Cesare Lievis Inszenierung von Calderons "Der standhafte Prinz" am "Piccolo Teatro" gesehen und mutig gefunden. Jens Roselt hat in Berlin Philip Tiedemanns erste Heiner-Müller-Inszenierung am BE gesehen und irgendwie nett gefunden - aber Vorsicht: "Wer Heiner Müller treu sein will, muss ihn verraten" sagt Roselt auch.

TAZ, 24.04.2001

Dorothee Wenner erzählt die skurile Geschichte von Makiba aus Ghana, die einen kleinen Handel zwischen Afrika und Kreuzberg auf die Beine stellte. Eine Geschichte, die nach den poetischeren Seiten der globalen Provinz klingt.

Christiane Kühl hat Luk Percevals Hannoveraner "Kirschgarten" gesehen und für gut befunden. "Dass es hier keinen Kirschgarten gibt, zeigt Katrin Bracks Bühnenbild deutlich. Im Ballhof stehen ein Billardtisch, ein Flipper, ein paar selbst gezimmerte Holzsessel und drum herum nichts als die schwarzen Wände des Theaters. Was der Garten sein könnte, zeigt sich allein im Sprechen über ihn: ein Augenblick der Stille. Eden ist der Ort, wo die ganze Familie die Klappe hält."

Volker Weidermann gibt anlässlich des aktuellen Peter-Stein-Mißverständnisses, beim Holocaust habe es sich um eine Judenbraterei gehandelt, weitere Stein-Zitate zum besten, die Steins Ruf als Schöngeist und Kulturmensch wahrscheinlich unwiderruflich ruinieren.

Außerdem: ein Essay von Peter Fuchs über "Die kostbare Zeit im Sandkasten", in dem es um die Betreuung von behinderten Kindern geht. Teil IV einer Serie über das Selbstverständliche im Umgang mit Menschen.

Besprochen werden eine Club-Tour von Hector Zazou und Sandy Dillon und Bücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Und schließlich Tom.