Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2001. Die NZZ kritisiert die Unempfindlichkeit der deutschen Öffentlichkeit für israelische Ängste, während die SZ eine Einschränkung der Bürgerrechte in den USA fürchtet. In der FR fragt sich Claus Leggewie, wie Universitäten auf die Anschläge reagieren sollten. Alle Blätter kommentieren den Verkauf des Luchterhand-Verlags an Random House.

SZ, 30.10.2001

Eine "dramatische Einschränkung der Bürgerrechte" erwartet Andrian Kreye vom "USA Patriot"-Gesetz, das Sicherheitsmaßnahmen gegen den Terror regeln soll. Aus dem Horrorkatalog, der mit großer Mehrheit verabschiedet wurde: "Der große Lauschangriff auf Telefon und Internet ist ab sofort mit minimaler Kontrolle durch Gerichte erlaubt. Hausdurchsuchungen dürfen künftig ohne Hausdurchsuchungsbefehl auch in Abwesenheit der Bewohner durchgeführt werden. Der Auslandsgeheimdienst CIA darf nun auch im Inland spionieren."

Auch der "Otto-Katalog" wird durch die SZ einer Prüfung unterzogen. Dieter Thomä findet, dass Innenminister Schily allzu tief in die philosphische Trickkiste greift, um seine Sicherheitsgesetze zu rechtfertigen. "Schily vollführt einen verbalen Hüpfer über den Abgrund, der sich an dieser Stelle auftut, und er tut so, als dienten alle Maßnahmen zur Verteidigung der Bürgerrechte ohne Naht und Bruch. Ehrlicher wäre es, den Zielkonflikt anzuerkennen, der an dieser Stelle herrscht: Offene Gesellschaften sind immer Gefährdungen ausgesetzt, und wenn man diese Gefahren beseitigen will, so geht dies unweigerlich einher mit der Beseitigung von Offenheit."

"Wie ein Vampir geistert das Kapital durch die Nacht der deutschen Verlagsszene auf der Suche nach dem frischen Blut lebendiger Inhalte." So kommentiert "ijo" den Kauf des Luchterhand-Verlags durch Random House.

Weiteres: Rainer Gansera resümiert die Hofer Filmtage und lobt an erster Stelle den Film "Toter Mann" von Christian Petzold, dessen Dokumentarfilm "Die innere Sicherheit" kürzlich Erfolge feierte. Thomas Steinfeld gratuliert Ruth Klüger zum siebzigsten. Nicolas Pethes hat einer Diskussion zwischen Peter Sloterdijk und Peter Singer über bioethische Fragen in Stanford zugehört. Jens Bisky findet die Novembernummer des Merkur allzu bellizistisch.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Pieter Bruegel im New Yorker Metropolitan Museum, eine Ausstellung über Norman Foster in Köln, drei Sampler mit schicker alter Funk-Musik, eine Diskussion im Goethe-Forum über den Islam als Zivilisation, Christopher Marlowes "Edward II." in der Inszenierung von Martin Kusej am Hamburger Thalia Theater und einige Bücher, darunter Stanley Paynes "Geschichte des Faschismus" und Gedichte von Eugenio Montale (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 30.10.2001

Claus Leggewie (mehr hier), der drei Jahre lang in der New York University mit Blick auf das World Trade Center lehrte, fragt sich, wie Universitäten auf die Anschläge reagieren sollen. Sie sollen sich nicht politisch instrumentieren lassen, meint er, sieht ihre Arbeit aber auch selbstkritisch: "Die Universität muss vielmehr als ein Ort der Reflexion wirken und so in jener Rolle bestehen, die ihr freie Gesellschaften seit der frühen Neuzeit zugewiesen haben. Die Rolle als öffentliches Forum haben sie heute weitgehend an die elektronischen Medien verloren, die sich dabei einem immer hohler werdenden Infotainment hingeben. Daran beteiligen sich auch Universitätslehrer mit mehr oder weniger erhellenden Minuten-Statements, aber via Universität haben sie sich diesen Herbst noch nicht aus den Semesterferien zurückgemeldet."

Weitere Artikel: Thomas Fitzel gratuliert Ruth Klüger zum Siebzigsten. In der Hochhaus-Serie der FR erzählt Christian Holl die Geschichte des Stuttgarter Trump-Towers. Besprochen werden Christopher Marlowes "Edward II." in Hamburg, Volker Koepps Dokumentarfilm "Kurische Nehrung", die Müller-und-Kleist-Collage "Schlaf Traum Schrei" im Kölner Schauspiel, das Deutsche Jazzfestival in Frankfurt und eine Ausstellung Sophie Totties beim DAAD in Berlin.

TAZ, 30.10.2001

Die Schwäche der britischen gegenüber ? ausgerechnet! ? der französischen Musikindustrie ist Daniel Bax auf der Weltmusikmesse Womex in Rotterdam bewusst geworden. Die Franzosen beherrschen den Markt. Die Briten betreiben "Ethno-Separatismus", meinen die Franzosen. "Dass dies nicht nur die Weltmusik betrifft, sondern auch populäre 'schwarze' Stile wie Reggae, RnB und HipHop, die, gemessen an ihrer tatsächlichen Relevanz, eher stiefmütterlich behandelt würden, meinte sogar John Kieffer vom British Council. Der Preis dieses 'insularen Denkens' sei, den Anschluss an den Rest der Welt zu verpassen, befürchtete er, und nannte alarmierende Zahlen: Hätte der britische Anteil am US-Markt vor zehn Jahren noch bei 30 Prozent gelegen, so dümpele er heute unter einem Prozent! Doch obwohl man mit unverkauften Oasis-CDs längst den Ärmelkanal auffüllen könnte, wartet man dort noch immer auf die nächsten Beatles. Nur was, wenn die nächsten Beatles keine vier Mittelschichts-Jungs sind, die Gitarre spielen?"

Weiteres: Auch Katja Nicodemus rühmt in ihrer Bilanz der Hofer Filmtage Christian Petzolds neuen Film "Toter Mann". Brigitte Werneburg erinnert in einem kleinen Kommentar zu den Berliner Koalitionsverhandlungen daran, dass "Meck-Pomm und das PDS-tolerierte SPD-Land Sachsen-Anhalt die schwächste Performance aller neuen Bundesländer abgeben, was den wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau angeht. Das spricht nicht gerade für Rot-Rot in einem armen Land wie Berlin." Brigitte Werneburg erinnert in einem weiteren Kommentar daran, dass Andy Warhol "lange schon vor George W. Bush (wusste), dass Einkaufen außer Lust und Laster vor allem eine patriotische Tat ist. Denn: 'Einkaufen ist sehr viel amerikanischer als Denken.'" Besprochen werden der neue Roman von Fay Weldon und Juli Zehs "Adler und Engel".

Schließlich Tom.

FAZ, 30.10.2001

Der Luchterhand-Besitzer Dietrich von Boetticher hat seinen Verlag an Random House verkauft, weil er nicht genug Umsatz machte. Hubert Spiegel kommentiert: "Seit Jahren sucht die Branche ihr Heil im Wachstum, werden Verlagsprogramme sinnlos aufgebläht, Umsätze gesteigert, Vorschüsse verzehnfacht. Aber wer kassiert, sind am Ende stets die Konzerne. Das Lied vom Wachstum singt die Logik einer Branche, die sich selbst verschlingt."

Die Notizen aus dem Iran werden fortgesetzt. Hans-Magnus Enzensberger, Raoul Schrott und Adolf Muschg hatten sich in die Provinzstadt Schiras begeben, um den Dichter Hafis zu ehren. Christine Hoffmann hat die Reise begleitet ("Schrott rezitierte auf Farsi ein Gedicht von Hafis, das das Publikum halb amüsiert, halb gerührt mitmurmelte.") Außerdem liefern nach Enzensberger nun Schrott und Muschg ihre Impressionen. Muschg schildert die passionierten Reaktionen des Publikums, das "überwiegend aus Töchtern" bestand. "Fast alle stürmten sie die Bühne und deckten uns förmlich zu. Sie drängten auf unsere Schriften, wenigstens Unterschriften, auf unsere Adressen, selbstverständlich E-Mail. So schrieben die Schriftsteller ihren Namen auf die hingehaltenen Programmränder, überwältigt von einem schwarzen Getümmel, das ihnen kaum genug Raum ließ, die Ellbogen zu spreizen. All diese schönen Mädchen kannten uns nicht, die wenigsten konnten uns lesen, aber sie hatten uns gehört und gesehen, und schon waren sie unsere Fans. Wehe dem Land, das soviel Liebe zu den Dichtern nötig hat!" Wir wetten: Spaß gemacht hat's trotzdem

Weitere Artikel: Verena Lueken resümiert New Yorker Diskussionen um die städtebauliche und architektonische Zukunft des Südens von Manhattan. Jordan Mejias und Gerhard R. Koch melden, dass James Levine München verlässt, um die Leitung des Orchesters von Boston zu übernehmen. Dieter Borchmeyer gratuliert Ruth Klüger zum Siebzigsten, und auch Marcel Reich-Ranicki sendet ein Grußwort ("Ruth Klüger ist eine österreichische Jüdin, eine amerikanische Professorin, eine deutsche Schriftstellerin und eine der vorzüglichsten Germanistinnen weit und breit."). Eberhard Rathgeb schildert die verzweifelte Suche nach einem Hamburger Kultursenator (warum nicht Christoph Stölzl, der ist doch jetzt frei?) Michael Allmaier zieht eine Bilanz der Hofer Filmtage. Joseph Croitoru schildert die Stimmung in Israel nach der Ermordung des Tourismusministers Rechavam Zeevi, der den ultrarechten Oslo-Gegnern angehört hatte - sein Tod gibt dieser Strömung Aufwind.

Auf der Medienseite erzählt Angelika Heinick den Fall des französischen Fotojournalisten Michel Peyrard, der sich in einer Burka in Afghanistan einschlich, als Spion festgenommen wurde und nun auf seinen Prozess wartet, bei dem ihm die Todesstrafe droht. Joseph Croitoru berichtet, dass im israelischen Staatssender keine Palästinenserführer mehr live interviewt werden sollen, damit sie das Medium nicht als Propagandainstrument nutzen, eine Entscheidung die für viel Kritik sorgt.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite meditiert Heinrich Detering anlässlich neuer Bände in der Gesamtausgabe über Dramen Heiner Müllers. Und auf der letzten Seite schildert Paul Ingendaay Geschichte und Bedeutung der Prinz-von-Asturien-Preise, die vom Thronfolger verliehen werden und für die die spanische Haute volee einmal im Jahr nach Oviedo reist.

Besprechungen gelten der Ausstellung "Die Brücke in Dresden" ebendort, dem Deutschen Jazzfestival in Frankfurt, einer Ausstellung zum 200. Geburtstag des Baumeisters Melchior Berri in Basel, Rolf Hochhuths Drama "Mozarts Nachtmusik", das in Glasgow uraufgeführt wurde, der Fotoausstellung "Nightscapes" im Ulmer Stadthaus und Judith Herzbergs Stück "Crankybox" in Aachen.

NZZ, 30.10.2001

Joachim Güntner kommt auf die Kontroverse zwischen Günter Grass und Paul Spiegel zurück. Grass hatte Israels Siedlungspolitik kritisiert, Spiegel wirft ihm Stimmungsmache gegen Israel vor. Güntner kommentiert: "Die Verhaltenheit, mit welcher deutsche Intellektuelle und die deutsche Öffentlichkeit den Affront zwischen ihrem prominentesten Schriftsteller und dem wichtigsten Vertreter der Juden in Deutschland notieren (oder besser ignorieren), scheint zu der Ruhe zu passen, mit welcher nach Ansicht der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung zurzeit Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland behandelt werden. So seien etwa im Gefolge des 11. September die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau mit antisemitischen Parolen beschmiert worden, ohne dass Politiker auch nur ein Wort der Anteilnahme geäußert hätten, sagt Judith Hart. Die Vizepräsidentin des Zentralrats hat dafür nur eine Erklärung: 'Absolutes Desinteresse, Gleichgültigkeit und Ignoranz.'"

Eine längst vergessene Debatte greift Stefan Stirnemann auf - die um die neue Rechtschreibung. "Die neue Schreibung von langer Weile versetzt den ersten Bestandteil in den Stand eines freien Attributs. Verbunden hat man das Attribut allerdings genau deswegen mit dem Substantiv, weil es diesen Stand verloren hat." Unser Tipp: einfach nicht dran halten.

Weiteres: Oliver Herwig schickt eine Reportage aus Jena, wo man in der Plattenbausiedlung Lobeda durch innovative Projekte dem Wohnungsleerstand trotzen will. Besprochen werden ein Auftritt der Pianistin Helene Grimaud in Zürich, ein Konzert der St. Petersburger Symphoniker in der Zürcher Tonhalle eine Proust-Übersetzung von Hanno Helbling und Richard Wagners Roman "Miss Bukarest".