Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2002. In der Zeit beklagt Leon de Winter den grassierenden Antisemitismus. Die FAZ beklagt dagegen den grassierenden Antisemitismus-Vorwurf. Die SZ schimpft auf die Fußballintellektuellen. Die FR feiert die Geburt des Kanons aus dem Geiste MRRs. Die taz beschreibt den Spagat afrikanischer Popmusiker zwischen Europa und Afrika. Die NZZ resümiert das Theatertreffen.

Zeit, 23.05.2002

Jörg Lau macht sich unbeliebt bei unserer idealistischen Jugend (und bei einem Teil seiner Kollegen, fürchten wir). Er wagt es, die Bibel der Globalisierungskritiker, das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts (es ist nur viel länger, und schlechter geschrieben) zu kritisieren, das Buch "Empire" von Antonio Negri und Michael Hardt: "Es geht ja hier nicht bloß um Stil- und Geschmacksfragen. Das Buch ist eine einzige große Geschichtsklitterei im Dienste altlinker Gewissheiten, die man längst auf dem Müllhaufen der Geschichte wähnte: Der Nationalsozialismus wird in fast schon vergessener altmarxistischer Manier ökonomistisch abgeleitet - als unvermeidliche 'kapitalistische Ausdrucksform' einer Krise der Moderne. Die Totalitarismus-Theorie gilt den Autoren hingegen als Ideologie des Kalten Krieges. Dem Sowjetkommunismus indes wird der Ehrentitel einer 'produktiven Zivilgesellschaft' verliehen: 'Die Ideologie des Kalten Krieges nannte diese Gesellschaft totalitär, doch war sie in Wahrheit eine von starken und vielfältigen Momenten der Kreativität und Freiheit durchzogene Gesellschaft.'" Der Schoß ist fruchtbar noch! Lau verweist übrigens auf eine ebenfalls kritische Auseiandersetzung mit dem Buch von Alan Wolfe in der New Republic. Hier der Link.

Und noch ein ziemlich unbequemer Text: Leon de Winter (mehr hier), niederländischer Schriftsteller, schickt eine leidenschaftliche, aber gut dokumentierte Polemik gegen jene "Freunde" Israels, die die Hauptschuld für den Nahostkonflikt in Tel Aviv ansiedeln und zwischen Gewalt und Gewalt nicht unterscheiden wollen: "Es lässt sich nicht leugnen: Nach terroristischen Anschlägen auf Israel werden Palästinenser kollektiv mit Straßensperren und der Zerstörung von Gebäuden bestraft (wobei, das kann ebenso wenig geleugnet werden, Unschuldige den Tod finden). Aber wenn ein Gebäude zerstört wird, werden die Palästinenser im Voraus gewarnt. Und die Palästinenser vertrauen darauf. Sie wissen, dass die Israelis nie mit gleicher Münze zurückzahlen und niemals gut besuchte Restaurants, Cafes oder Hotels in Hebron oder Ramallah in die Luft jagen würden, sondern dass sie als westliche Demokratie immer peinlich genau die Verantwortlichen für die Anschläge herausfinden müssen und dass sie bei einem Irrtum unerbittlich durch die eigene und die westliche Presse gestraft werden."

Weiteres: Hans Neuenfels inszeniert in Stuttgart den "Don Giovanni" und hat für die Zeit eine literarische Fantasie über Mozart verfasst. Karin Schulz freut sich über die Tendenz der jüngsten Kunst zu "Hintersinn, Scherz und Schelmenstreich" und nennt Künstler wie Christian Jankowski, Maurizio Cattelan und Wim Delvoye. Christof Siemes schlägt vor, statt eines Stadtschlosses in Berlin einfach nur einen "Themenpark Stadtschloss" zu bauen (wäre billiger) und malt sich das Szenario schon mal aus: "Im Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme werden zunächst die arbeitslosen Holzmann-Angestellten vom Bundeskanzler in spätgotische Handwerkerkittel gewandet." Katja Nicodemus schreibt über israelische und palästinensische Filme in Cannes. Und Thomas Groß würdigt das Jugendwerk der Mädchengruppe Destiny's Child, welche auf Deutschlandtournee weilt.

Aufmacher des Literaturteils ist Thomas Assheuers Besprechung von Francis Fukuyamas neuem Buch "Das Ende des Menschen" (siehe hier und unsere Bücherschau ab 14 Uhr). Im Dossier wird das "grauenvolle Geheimnis der Insel Jeju" enthüllt, wo die deutsche Fußballmannschaft während der Weltmeisterschaft wohnt - Südkoreaner brachten hier im Koreakrieg Tausende von Menschen um. Im Wirtschaftsteil geht's um die arge Werbekrise, die die Medien in Bedrängnis bringt. Und im Leben sucht Steffen Kopetzky bei Google nach sich selbst. (1.270 Einträge.)

SZ, 23.05.2002

Aus aktuellem Anlass ruft Florian Coulmas nach fußballfreien Räumen und schimpft auf die "Fußballintellektuellen": "Wenn den deutschen Schulen Versagen bescheinigt wird, machen die Politiker betretene Gesichter und berufen eine Kommission ein. Wenn Fußballfernsehen durch das Missmanagement eines megalomanen Unternehmers auch nur für ein Wochenende gefährdet zu sein scheint, melden sich ohne Verzug selbsternannte Retter zu Wort, die laut darüber nachdenken, diesem nationalen Notstand durch einen Griff in öffentliche Kassen abzuwenden. Wie kann den Jugendlichen diese wichtige Botschaft entgehen? Fußball ist wichtig, Geld ist wichtig, und wenn etwas schief geht, sind die Mächtigen zur Stelle. Die zu dumm sind, einen Ball zu treten, sollen doch Lehrer werden." Daneben werden die besten Zitate der "geballten Grasnarben-Intelligenz" von Reich-Ranicki bis Gerhard Schröder präsentiert. Zum Beispiel Peter Handke: "Wie alles, was rund ist, ist auch der Fußball ein Sinnbild für das Ungewisse, für das Glück und die Zukunft."

DDR-Hochhausarchitektur im zeitgemäßen Retro-Trend: Andreas Höll berichtet, dass in Dresden derzeit das erste Freilicht-Plattenbaumuseum Deutschlands gestaltet wird. "Launisch wie das Wetter ist der Coolness-Faktor in der Architektur - und das gilt vor allem für Plattenbauten. Während sie zu DDR- Zeiten als 'Arbeiterschließfächer' bespöttelt und nach der Wende als Inbegriff sozialistischer Einheitstristesse gedeutet wurden, stehen die Hochhäuser spätestens seit ein, zwei Jahren unter dringendem Kultverdacht. Begeistert vom brutalistischen Chic zogen Künstler, Designer und Architekten in die Wohnmaschinen im Osten Berlins; Location Scouts entdeckten die Betonkolosse für Werbespots und Musikvideos; und ein 'Plattenbau-Quartettspiel' machte gar aus grauen Häusern strahlende Helden des Superlativs - so kam es, dass ein völlig unscheinbares Gebäude - als potenter 21-Geschosser mit 269 Wohneinheiten - zum Joker des Kartenspiels avancierte.

Weitere Artikel: Achim Hölter, Professor für Komparatistik an der Universität Münster, macht sich Gedanken zur Lage und Zukunft seines Fachs in Deutschland. Stefan Kornelius hat eine "ungehaltene Gegenrede an George W. Bush" verfasst ("Herr Präsident, ... legen Sie endlich den innenpolitischen Terrier an die Leine. Sie werden sehen: Amerika ist noch mächtiger, wenn es Freunde hat."). Robert Jacobi sorgt sich nach Erfurt um den Verlust des Vertrauens der Gesellschaft in sich selbst.

Marcus Jauer spricht mit Klaus-Dieter Lehmann, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, weil der Bund nun doch nicht alle Kosten für die Museumsinsel trägt. Wolfgang Schreiber fragt den neuen Intendanten der Ruhr-Triennale, Gerard Mortier, wieso er sein Büro von Salzburg nach Gelsenkirchen verlegt hat. ("Das ist eine ganz besondere Gegend in Deutschland: die Wiege der Industrie, später Ort von Hitlers Kriegsmaschinerie.") Dazu gibt es einen Kurzbericht über die Pressekonferenz Mortiers. Tobias Kniebe berichtet vom Filmfestival in Cannes. Harald Eggebrecht schreibt einen Nachruf auf den Geiger Wolfgang Schneiderhan und Gottfried Knapp schreibt zum Tod von Niki de Saint Phalle.

Besprochen werden: Edward Burns' Film "Seitensprünge in New York", George Taboris Inszenierung seines Stückes "Erdbeben-Concerto" am Berliner Ensemble, eine Retrospektive der Filme von Kinji Fukasaku im Münchner Filmmuseum, Gerd Conradts Holger-Meins-Film "Starbuck" und Joseph von Westphalens Roman "Der Liebessalat" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 23.05.2002

"Sechs Verlage haben sich zu einer großen Koalition im Literaturstaat zusammengeschlossen" verkündet Marius Meller, "um Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon ins Licht der Welt zu heben". Doch Meller ist zufrieden: "MRR ist der einzige im Literaturbetrieb, der sich so etwas leisten kann und darf, der einzige, mit dessen Image so ein Projekt kommerziell umzusetzen ist. Seine Souveränität, die ihm der Literaturbetrieb verlieh, macht die Legitimität dieses Projekts aus. Denn es handelt sich, obwohl ökonomisch durchaus vielversprechend, um eine literaturpädagogische Maßnahme: Reich-Ranicki selbst stellte gleich klar, dass es nicht um einen autoritären Kanon für Literaturkenner und -liebhaber gehen kann - so etwas wäre ja im Grunde lächerlich -, nicht einmal um einen für Studierende der Literatur, sondern schlicht um ein Angebot für Anfänger, für Noch-Nichtleser und Gerade-erst-Leser." (Hier die Liste)

Weitere Artikel: Elke Buhr schreibt einen Nachruf auf Niki de Saint Phalle. Die Kolumne Times Mager erzählt von ebenso freundlichen wie musikalischen Demonstranten gegen den Bush-Besuch, und Daniel Kothenschulte berichtet aus Cannes ("Altmeisterliches von der Lynchiade").

Besprochen werden: Andreas Homokis Alban Berg-Inszenierung "Lulu" in De Nederlandse Opera in Amsterdam, Erich Sidlers Stuttgarter Inszenierung von Botho Strauß' "Unerwartete Rückkehr", Marc von Hennings Theaterabend "Erfindung des Lebens" auf den Wiener Festwochen, das Stadthaus in Ostfildern des jungen Berliner Architekten Jürgen Mayer H., Alejandro Agrestis donquichottesker Film "Das letzte Kino der Welt" und Louis Menands Buch "The Metaphysical Club. A Story of Ideas in America", das den diesjährigen Pulitzerpreis gewann.

Weitere Buchbesprechungen widmen sich Ha Jins Novelle "Im Teich", einem Gedichtband von Klaus Kinski und Michael Roes' utopischem Roman "David Kanchelli" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 23.05.2002

Christoph Funke macht abschließende Bemerkungen zum Berliner Theatertreffen, zu dem vor allem jüngere Regisseure eingeladen werden: "Die Botschaft der neuen Generation der Theatermacher, wenn sie denn eine hat, ist in der Tat zwiespältig. Allein durch Fernseh- und Bildverrücktheit, durch phantastische technische Erfindungen, durch Entertainment kann das Theater nicht revolutioniert und rücksichtslos in die Gegenwart gebracht werden."

Weiteres: Samuel Herzog schreibt zum Tod von Niki de Saint Phalle. Derek Weber berichtet vom Wiener Entschluss, das Theater an der Wien künftig nur noch mit Oper und Operette zu bespielen und damit zur dritten Oper der Stadt zu machen (und Berlin wäre so froh, wenn es seine dritte Oper los wäre!).

Besprochen werden "Star Kitty's Revenge", das dritte Album der Soulsängerin Joi Gilliam, das Rap-Projekt "The Street" des jungen Engländers Mike Skinner (hier das Video und hier ein Interview der BBC), eine Antiken-Trilogie von Luca Ronconi im antiken Theater von Syrakus, ein Konzert mit Heinrich Schiff und dem Zürcher Kammerorchester und einige Bücher, darunter Richard Powers' Roman "Schattenflucht", der Roman "Fluchten" des Algeriers Rachid Boudjedra, Erich Wolfgang Skwaras Roman "Zerbrechlichkeit oder Die Toten der Place Baudoyer" und Eric Laurrents Krimi "Was geschieht mit Artur Clein?" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 23.05.2002

Jay Rutledge beschreibt die Schwierigkeiten afrikanischer Popmusiker wie Koffi Olomide, Papa Wemba und Lokua Kanza - allesamt Stars aus dem Kongo, die in Paris große Hallen füllen - beim Spagat zwischen afrikanischen Fanzirkeln und Weltmusikhörern: "Für einen afrikanischen Musiker, mag er in seiner Heimat noch so ein Star sein, führt der einzige Weg zu internationalem Ruhm bis heute gewöhnlich über die Benefiz-Schiene. Einer, der es vorgemacht hat, ist Papa Wemba. Vor zehn Jahren landete der Superstar des Soukous, der populären Partymusik des Kongo, bei Peter Gabriels prestigeträchtigem Weltmusik-Label "Real World" und erlangte mit seinen beiden Popalben "Le Voyageur" und "Emotion" auch in Europa Bekanntheit. So stieg er in die Oberliga der musikalischen Botschafter Afrikas auf und spielte auf Wohltätigkeitsveranstaltungen aller Art: gegen die HIV-Ausbreitung, fürs Internationale Rote Kreuz und Ähnliches."

Weitere Artikel: Auf der Medienseite kommentiert Heiko Dilk die Weigerung der Frankfurter Rundschau, eine Anzeige mit einem Bush-Demonstrationsaufruf zu drucken. Und auf den Tagesthemenseiten schreibt Henrike Thomsen den Nachruf auf Niki de Saint Phalle.

Besprochen werden: Claire Devers Film "Die Diebin von St. Lubin", Demian Lichtensteins Aktionfilm "Crime is king", Gerd Conradts Dokumentarfilm "Starbuck - Holger Meins", Alex Novaks Inszenierung von Jewgeni Grischkowez' Stück "Die Stadt" am Staatstheater Stuttgart und Christina Nords Bericht vom Filmfestival in Cannes.

Schließlich TOM.

FAZ, 23.05.2002

Politisches Feuilleton: Lorenz Jäger beklagt eine Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs und attackiert Michel Friedman: "Gehört Karsli nicht eigentlich zur Klientel von Friedman? Gibt es denn im deutschen Fernsehen einen politischen Moderator, der sich, über viele Jahre, eindringlicher für immer mehr Zuwanderer eingesetzt hätte? Hat er nicht geahnt, daß die kulturelle Bereicherung, die er allen als Folge der Zuwanderung versprach, sich irgendwann auch in einem Landtagsabgeordneten Karsli manifestieren würde?" Hm. Und Mark Siemons untersucht eine deutsche Linke, die so links fühlt, dass sie schon gar nicht mehr antiamerikanisch, sondern gleich antideutsch ist:

Weiteres: Andreas Kilb bespricht in seiner Cannes-Kolumne Filme von Alexander Sokurow, Alxander Payne und Aki Kaurismäki. Gina Thomas tut einen Blick in die Queen's Gallery (und hier) in London mit der Privatsammlung der Königin - sie wurde um einen Neubau erweitert. Jordan Mejias vermutet, dass die amerikanische Regierung vor neuen Terroranschlägen warnt, um sich selbst zu schützen. Patrick Bahners gratuliert dem Historiker Johannes Fried zum Sechzigsten. Roland Kany gratuliert dem Historiker Heinz Schilling zum Sechzigsten. Dirk Schümer stellt in seiner Kolumne "Leben in Venedig" den Drucker Gianni Basso vor. Ellen Kohlhaas schreibt zum Tod des Geigers Wolfgang Schneiderhan. "rmg" schreibt zum Tod von Niki de Saint-Phalle. Andreas Rossmann stellt Gerard Mortiers Pläne für die Ruhr-Triennale vor.

Auf der Medienseite unterhält sich Sandra Kegel ausführlich mit dem FDP-Politiker Rainer Brüderle, der heute Abend in der Harald-Schmidt-Show mit dem Showmaster einen trinkt (diese Partei lässt wirklich kein Fettnäpfchen aus - aber was findet die FAZ eigentlich so interessant daran?) Ferner erfahren wir, dass der insolvente Leo Kirch munter weiter Firmen gründet. Auf der Filmseite unterhalten sich Michael Althen und Bert Rebhandl mit den Filmemachern Christian Petzold und Harun Farocki über das Zusammengehörigkeitsgefühl unter deutschen Filmemachern. Auf der letzten Seite berichtet Michael Gassmann über die Selbstfeiern Baden-Württembergs zu seinem fünfzigjährigen Bestehen. Eberhard Rathgeb porträtiert den Verleger Nikolaus Hansen von Mare-Buch. Und Christoph Albrecht stellt die Ideen des amerikanischen Internetkritikers Lawrence Lessig zu einer eneuen Praxis des Urheberrechts vor.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Miro Sima in Gera, "Romeo und Julia" bei den Ruhrfestspielen, Gerd Conradts Dokumentarfilm "Starbuck" über Holger Meins und Händels Oper "Radamisto" in Salzburg.