Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2002. Unterschiedliche Auffassungen über den musikalischen Charakter der Stadt Berlin vertreten die taz und die NZZ: Während die taz Seele und Sex will, "zum Wowereit!", ergeht sich Berlin für die NZZ im "Hauptstadt-Blues". In der FAZ schlägt Norman Birnbaum dem Kanzler vor, doch auch mal Außenpolitik zu betreiben. In der FR warnt John Wray vor den Schrecken eines deutschen Konservativismus. In der SZ wettert Thomas Steinfeld mal wieder gegen MRR.

FAZ, 20.09.2002

Über allem schwebt die Drohung des Irak-Kriegs, ein Thema, das sich heute durch mehrere Beiträge zieht.

Norman Birnbaum (mehr hier), Doyen der amerikanischen Linken, verteidigt zum Beispiel Gerhard Schröders Weigerung an einem Krieg teilzunehmen. Allerdings bekommt der Kanzler trotzdem sein Fett ab: "Wenn Schröder jetzt kurz vor der Wahl wegen seiner Irak-Politik Opportunismus vorgeworfen wird, so hat er sich das selbst zuzuschreiben. Er hat sich um Politikfelder wie die Bekämpfung der globalen Armut oder den Entwurf einer neuen internationalen Ordnung nicht gekümmert. Sein Widerstand gegen einen Krieg mit dem Irak wäre einleuchtender, wenn er Teil einer schlüssigen Weltsicht wäre. Zur Durchsetzung dieses Weltbildes aber hätte Schröder erheblich größere Anstrengungen unternehmen müssen, die deutsch-französischen Beziehungen zu modernisieren. Und er wäre verpflichtet gewesen, der britischen Labour Party therapeutische Hilfe anzubieten, um Tony Blair von einer englischen Krankheit zu heilen: systematische Heuchelei."

Zum Thema gehören auch ein kleiner Artikel von Joseph Croitoru über Schröder als Held der irakischen Presse, ein Artikel von Heinrich Wefing über den konservativen Thinktank der Hoover Institution, die die amerikanische Regierung in der Irak-Politik berät, und eine Glosse von L.J. über den New York Times-Kolumnisten der William Safire, der dezidiert deutschfeindliche Töne anschlägt und im übrigen beklagt, dass Bertelsmann und Holtzbrinck das amerikanische Verlagswesen beherrschen.

Weitere Artikel: Regina Mönch kommentiert die jüngsten drastischen Sparpläne in Berlin: "Wenn alles so bleibt, wie es ist in Berlin, wird die Stadt in einigen Jahren in einer Reihe stehen mit Gemeinwesen, um die sich gemeinhin der Weltwährungsfonds sorgt." In einer Meldung erfahren wir, dass mehrere Juroren des Bachmann-Wettlesens nächstes Jahr nicht mehr mitmachen wollen. Peter Richter finde Eric Fischls (mehr hier) Skulptur "Die Stürzende" (Bild), die an die Fensterstürzer des 11. September erinnern soll, wie die meisten New Yorker auch sehr fragwürdig. Christoph Hämmelmann informiert uns über den Stand im Seligsprechungsprozess für den Pfarrer Georg Häfner, der 1943 in Dachau starb. Werner Jacob feiert Günter Behnischs dekonstruktivistischen Turm für die Norddeutsche Landesbank in Hannover.

Auf der letzen Seite schildert Joseph Oehrlein die unheimlich Erfolge protestantischer Fundamentalisten in Brasilien. Und Andreas Rossmann porträtiert Ulrich Andreas Vogt, den Intendanten der neuen Dortmunder Philharmonie. Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz die amerikanische Serie "Push, Nevada" vor. Und Michael Hanfeld befasst sich mit der Talkshow "Quergefragt" beim SWR.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über den Reportagefotografen Erich Lessing in Wien (Bild), den Golden Days-Festival in Kopenhagen, der Düsseldorfer Uraufführung von Quentin Thomas' Stück "Bird Garden", einem Konzert von Bryan Ferry in Köln und Gerard Pires' Film "Riders".

NZZ, 20.09.2002

Vier Jahre nach der Hauptstadtwerdung nimmt Claudia Schwartz im "Neuen Berlin" einen gewissen "Hauptstadt-Blues" wahr und meint damit eine leicht melancholische Grundstimmung, die langsam der ersten Aufregung gewichen ist. Dennoch sei die Stadt angesichts des "notorischen Genörgels" ihrer Bürger nach wie vor das, was sie immer war - "die spannendste und spannungsreichste Stadt" die Deutschland zu bieten hat. "Mit dem Verlust von einigen Illusionen ist Berlin in der Gegenwart angekommen. Vielleicht werden sich nun Anspruch und Wirklichkeit einfach etwas annähern. Das wäre nicht das Schlechteste, was man derzeit über die Stadt sagen könnte. Berlin braucht dringend Realitätssinn, um seine schwerwiegenden Probleme endlich anzupacken." Aha.

Martina Sabra resümiert den Verlauf des Weltkongresses der Orientalisten, der mit "überwältigender" Resonanz überraschte. Jenseits aktueller politischer Themen standen, so Sabra, auch "spannende akademische Debatten" auf der Tagesordnung - und "interessante Forschungsansätze". So versucht der Semitist Christoph Luxenberg sich momentan an einer brisanten Neuinterpretation des Korans"; andere Nahostforscher tauschten sich unter anderem über den "Märtyrerkult in Kaschmir und Palästina", die "Mittelmeer- und Nordafrikapolitik der EU", die "mittelalterliche Geschichtsschreibung" sowie "die moderne Gender-Forschung" aus.

Weitere Artikel: Bei der Aufführung von Dejan Dukovskis Stück "Das Pulverfass" in Basel wurde, so moniert Barbara Villiger Heilig, überdeutlich, dass sich dieser "kraftstrotzende, alkoholtriefende, sexgetriebene und - trotzdem - galgenhumorige 'Reigen der Gewalt' (...) nicht von Ost nach West versetzen" lässt. Außerdem: Frank Helbert beleuchtet, wie italienische Lehrer mit Hilfe eines furiosen Buchs der beabsichtigten Schulreform der Regierung Berlusconi entgegentreten wollen. Tobias Hoffmann lässt sich zu den aktuellen Schauspielproduktionen am Theater Biel-Solothurn aus; Thomas Schacher zeigt sich nicht allzu begeistert von der Inszenierung eines Händelschen Oratoriums im aargauischen Holderbank. Zu guter Letzt: Die FAZ, so wird gemeldet, will sich in der derzeitigen Krise aufs "Kerngeschäft" konzentrieren.

TAZ, 20.09.2002

Mit einiger Verspätung hat jetzt auch die taz ihre Online-Ausgabe freigeschaltet. Thomas Winkler hat von Ironie und Zynismus genug und will endlich wieder den Sound von Berlin hören, der in den Achtzigern so schön nach Revolte klang, wild und wütend, respektlos und ein wenig großkotzig. Zumindest den Willen zum Pop und nostalgische Ankläge hat er bei den neuen Berliner Bands Mia, Quarks und Zweiraumwohnung schon entdeckt. Aber es reicht noch nicht: "Weg mit der Unfehlbarkeit! Weg mit abgesicherten Aussagen, weg mit abgeschotteten Pop-Diskursen. Her mit Liebe und Leid, her mit Bauch und Besinnlichkeit, mit Aufregung und Affekt, mit Empfindung und Euphorie, mit Seele und Sex, her mit Pop, wie er sein muss. Also her damit, zum Wowereit!, mit dem Sound von Berlin."

Hanns Zischler denkt an die wilden und hysterischen Zeiten der Berliner Schaubühne zurück. Andreas Merkel watscht die neue Platte "UP" des Großgewerbekünstlers Peter Gabriel als ein "bedeutungsschwangeres Album voller Gemeinplätze und esoterischer Abstraktionen" ab. Niels Michaelis attestiert Beenie Man ein Quäntchen Restwahnsinn.

FR, 20.09.2002

Wahltipp, der Erste: Der amerikanische Autor John Wray (mehr hier) warnt uns eindringlich vor den Schrecken einer konservativen Regierung. Die USA hätten es ja vorgemacht: "Der Ausgang der Präsidentenwahl des Jahres 2000 war das unmittelbare Resultat der irrigen Ansicht, es bestünde in den USA ohnehin kaum ein Unterschied zwischen einer kompromittierten Linken und einer sich leutselig präsentierenden Rechten, vor der niemand Angst haben müsse. Der Abscheu vor der immer beherzter im Mainstream mitschwimmenden Demokratischen Partei hat uns jetzt das reaktionärste und übelste Regime seit mehr als hundert Jahren eingebrockt."

Wahltipp, der Zweite: Warum ich Schröder wähle? Weil er einfach lockerer ist! Petra Kohse outet sich als Kanzler-Fan: "Während Helmut Kohl die Welt hinter seiner zunehmenden Leibesfülle immer mehr verschwinden ließ und auch Edmund Stoiber bemüht ist, jede Umgebung auf sein eigenes Rentnerimage herunterzurechnen, hat Schröder kein Problem damit, zuzugeben, dass es vieles gibt, was NICHT ER ist."

Frank Keil wundert sich, dass die Erziehungspolitik als Wahlkampfthema schon wieder ausgedient hat. Fast schien es, als ob "die Erziehungsdebatte in eine Wertedebatte übergehen könnte". Nichts dergleichen! "In drei Tagen ist all das vorbei, kann das verbliebene parteipolitische Erziehungspersonal endgültig abgezogen werden. Dann kann Oma Reiche daheim auf die Enkel aufpassen und muss nicht länger in Hinterzimmern auf das Ende von Wahlkampfauftritten und Pressekonferenzen warten."

Weitere Artikel: "Wird der Geist der Republik den Sieg davontragen?" fragt bang Hella Faust anlässlich des Prozesses gegen Michel Houellebecq, der sich in Paris für seine islamkritischen Äusserungen verantworten muss. Michael Kohler hat sich einen Dokumentarfilm über den Bundeswehreinsatz im Kosovo angesehen und weiß jetzt, dass die Truppe vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. W.E. Baumann schreibt zum Tod der Merve-Verlegerin Heidi Paris. "tt" wähnt sich während einer Schröder-Wahlveranstaltung auf der Palio von Siena.

Besprochen werden Frank Blacks neue Alben "Black Letter Days" und "Devil's Workshop" (hier findet man drei Stücke zum Hören!) und das deutsche Rail-Movie "Verrückt nach Paris".

Auf der heute zum letzten Mal erscheinenden Transitseite ist ein Auszug aus Enn Vetemaas Bestimmungsbuch "Die Nixen von Estland" abgedruckt - darin geht es um die grünhaarige Kokette. Passend dazu wird die Ausstellung der Transit-Macherin und Wandermalerin Antje Schiffers (Kurzportrait hier) vorgestellt, in der sie die künstlerische Ausbeute ihrer dreimonatigen Reise durch Russland, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan präsentiert.

SZ, 20.09.2002

Lothar Müller gratuliert der Berliner Schaubühne zum Vierzigsten - mit gemischten Gefühlen. Denn "irgend etwas rumort im Schnürboden. (...) Es ist ein Rumoren wie in einem Tschechow-Stück, das lang nachhallende Echo einer zersprungenen Saite. Es ist das Drama hinter dem Marionettenspiel, das Drama nicht der Regisseure, sondern des Theaters insgesamt: in den vierzig Jahre, die seit der Gründung der Schaubühne im Jahre 1962 vergangen sind, hat es die herausgehobene Rolle, die es noch in den sechziger Jahren im Ganzen der Kultur innehatte, verloren." Eine These, die Regisseur Thomas Ostermeier eher auf die Nerven geht. "Dass ich mit Peter Stein mithalten müsste, hätte ich nie gedacht", sagt er im Interview, das die SZ mit ihm und Schaubühnen-Direktor Jürgen Schitthelm geführt hat.

Thomas Steinfeld wettert gegen Marcel Reich-Ranickis demnächst erscheinenden Literaturkanon. Dieser ist nämlich, schimpft Steinfeld, "im Geist einer Fernsehsendung namens Wer wird Millionär? entstanden." Fakten statt Wissen, so laute heute die Parole. "An solchem Instrumentalismus indessen geht alle Bildung zugrunde - falls sie nicht, was noch wahrscheinlicher ist, von vornherein das Erscheinen eingestellt hat."

Weitere Artikel: Thomas Thiemeyer schreibt von einer Hildesheimer Tagung über die Geschichte des Streits der beiden christlichen Konfessionen, während Christian Jostmann über die Kölner Diskussion "Herbst des Mittelalters" berichtet, die klären sollte, ob im 15. Jahrhundert etwas Neues begann oder nur das Alte zu Ende ging. Michael Struck-Schloen erzählt von Schorsch Kameruns Theaterprojekt "Hollywood Elegien" für die RuhrTriennale. "agrb" stellt einen neuen Preis des Forschungsinstituts für Philosophie in Hannover vor - 12500 Euro gibt es für die beste Antwort auf die Frage "Welt ohne Tod: Hoffnung oder Schreckensvision?". "jby" schildert den vorerst letzten Akt im Drama um das Deutsche Nationaltheater in Weimar. Tilmann Buddensieg hat in Mantua die erstmals nach vierhundert Jahren ausgestellten unvergleichlichen Schätze der Gonzaga-Dynastie bewundert. Claus Koch hat sich Notizen gemacht, unter anderem zum größten aller politischen Laster - der Leichtgläubigkeit. Martin Z. Schröder singt ein "Prosit uffde Talente bei die Ullsteins", speziell uff Karsten Krampitz. Schließlich porträtiert Fritz Göttler den "Puristen" und "Aristokraten" Otto Schily.

Besprochen werden Lucrecia Martels meisterlicher Film "La Cienaga - Morast", Becks neues Album "Sea Change", und Bücher, darunter der Thriller "Das schwarze Haus" von Stephen King und Peter Straub, Günter Brosches "Musikerhandschriften" oder Karin Rocholls Bildband "bilderlust lustbilder" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).