Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2002. Die FR begleitet Günter Grass nach Jemen. In der FAZ plädiert der französische Diplomat Jean-Daniel Tordjman für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Die SZ fragt, warum die Kosten im Gesundheitswesen explodieren. Die NZZ schreibt sehr kritisch über Jörg Friedrichs viel diskutiertes Buch "Der Brand". Die Zeit telefoniert mit Handys mit Kamera und verliert dabei den Gegenwartsbezug. Kinofilm der Woche ist "Atanarjuat", ein Film, der das Leben in der kanadischen Tundra schildert.

Zeit, 12.12.2002

In Hamburg geht's zu! So stellt Robin Detje in einer Besprechung neuer Stücke von Marius von Mayenburg und Ronald Schimmelpfennig das Verhältnis der Kultursenatorin Dana Horakova zur Kunst dar: "Ihre Beschreibung des 'Salons', in dem sie mit Hamburger Kulturschaffenden gern die 'Grenzen künstlerischer Freiheit' diskutiert, klingt ein wenig nach einer Geiselnahme der ungezogenen Künstler zu pädagogischen Zwecken: hoffentlich bringt der Innensenator Schill dort nicht gleich sein Moskauer Spezialgas zur Anwendung."

Wir verlieren nun vollends jeden Bezug zur Gegenwart, meldet Hanno Rauterberg im Aufmacher, und zwar liegt das an den neuen Handys mit Kamera: "Weil uns das Gespür für Gegenwart entgleitet, für das, was im Hier und Jetzt liegt und wahrgenommen werden könnte, suchen wir Zuflucht im Dort und Damals, im Vorzeigbaren, zum Foto geronnen."

Weitere Artikel: Peter Roos erzählt die Geschichte des Buchs "Der Judenacker" von Ulrich Völklein: Der Autor hat ein Stück Land dieses Namens in dem Dorf Geroldshausen bei Würzburg geerbt, recherchierte wegen des Namens und erzählt in dem Buch die Geschichte der Juden in diesem Dorf - was dortselbst für einige Unruhe sorgte. Jens Jessen beklagt, dass in Frankfurt und Berlin einige Hochhäuser der klassischen Moderne abgerissen werden sollen. Der Theologe Jürgen Moltmann erklärt, "warum viele Amerikaner die Bibel als verschlüsselten Fahrplan der Weltgeschichte lesen" (vielleicht glauben sie an Gott?).

Besprochen werden die Londoner Uraufführung von Nicholas Maws' Oper "Sophie's Choice" unter Simon Rattle, Otar Iosselianis Film "Montag Morgen", der Film "Atanarjuat" von Zacharias Kunuk, der das Leben der Inuit in der arktischen Tundra schildert, die neue CD der Rapperin Missy Elliott und die von Paul Virilio betreute Austellung "Ce qui arrive" in der Pariser Fondation Cartier.

Kurz vor Weihnachten war die Anzeigenlage so günstig, dass die Zeit auch einen kleinen Musikteil bieten kann. Mirko Weber schreibt hier über den Pianisten und Komponisten Wladyslaw Szpilman, auf dessen Erinnerungen Roman Polanskis Film "Der Pianist" beruht. Konrad Heidkamp stellt ein Buch über den Komponisten Conlon Nancarrow vor. Wolfram Goetz bespricht einen Band mit Musikerhandschriften von Heinrich Schütz bis Wolfgang Rihm. Christian Kortmann widmet sich der neuen französischen Chansonnier-Szene. Michael Naura bepricht eine Kassette mit den gesammelten Liedern der Billie Holiday. Und Volker Hagedorn schreibt zum 250. Geburtstag des Komponisten Johann Friedrich Reichardt.

Im Leben unterhalten sich Mark Spörle und Sven Hillenkamp mit dem Soziologen Dieter Rucht über die Frage, warum trotz Arnulf Barings Aufruf in Deutschland keine Protestbewegung entstanden ist (vielleicht weil wir in einem Land leben, in dem die Journalisten erst den Herrn Professor fragen um zu erfahren, wie die Lage ist).

Ferner liefert die Zeit heute ihre letzte Literaturbeilage aus. Aufmacher ist Martin Mosebachs Besprechung des neu übersetzten Romans "Senilita" von Italo Svevo. Und Reinhard Baumgart widmet sich Reiner Stachs großer Kafka-Biografie. Wir werden die Beilage in den nächsten Tagen auswerten.

FAZ, 12.12.2002

Endlich mal einer, der sich für die Türkei in die Bresche schlägt. Das Land gehöre schon seit vorgestern zu Europa, meint der französische Diplomat und Generalinspekteur im französischen Finanzministerium Jean-Daniel Tordjman, und da er "die Überwindung der sich zwischen Islam und Abendland abzeichnende Konfrontation" für Europas größte Herausforderung hält, plädiert er: "Strafen wir die Unheilsverkünder Lügen. Der Türkei ist die Rolle eines Vermittlers zwischen Islam und Okzident bestimmt. Das ist eine Chance für Europa. Lassen wir sie nicht vorbeigehen."

Wie Imre Kertesz am Dienstag in Stockholm seinen Nobelpreis bekam, erzählt Robert von Lucius. So hat es Kertsez in seiner Dankesrede "eine besonders grausame Form der Gnade" genannt, "das wahre Antlitz des Jahrhunderts" gesehen zu haben und davon berichten zu können. "Fast 1300 Gäste lauschten dem in Berlin lebenden Ungarn. Viele waren sichtlich ergriffen, nicht nur, als Kertesz die Frage stellte, weshalb er noch am Leben sei, und zur Antwort gab: wegen der Liebe."

Weitere Artikel: Dietmar Polaczek berichtet, dass vierzig Direktoren der wichtigsten Museen der Welt in London eine Resolution gegen die Rückgabe von geraubten Kunstwerken an ihre Ursprungsländer unterzeichnet haben, darunter: das British Museum, der Louvre, die Ermitage, das New Yorker Metropolitan, der Prado. In Gotha dagegen wurde ein Manifest unterzeichnet, wie wir von Siegfried Stadler erfahren, das sich in Bezug auf geraubte Kulturgüter für "Rückgabe und Ethik" ausspricht. Die Unterzeichner waren nicht ganz so prominent.

Wenn man sich einmal richtig ins Räderwerk der Industrie begeben möchte, müsse man ins Disneyland fahren, findet Michael Althen nach einem Ausflug in dessen Pariser Dependance: " Nirgend empfindet man sich so sehr als Teil eines weltumspannenden white trash, der seine kulturellen Ansprüche auf den kleinsten globalen Nenner heruntergeschraubt hat und seine Vergnügungen nur noch in den Abraumhalden der Phantasie findet."

Christian Geyer erklärt die Präimplantationsdiagnostik als Testfall dafür, ob die nicht ganz zu unrecht privatisierte Moral wieder eine öffentliche werden kann. Dirk Schümer attestiert der kroatischen Buchmesse in Pula den Wagemut der habsburgischen Marine. Gina Thomas erzählt, wie sich Vanessa Redgrave für tschetschenische Schauspieler einsetzt.

Auf der Medien-Seite beschreibt Josef Ohrlein, wie Venezuelas Regent Hugo Chavez im Fernsehen Hof hält ("Alo Presidente"), während auf den Straßen die Kämpfe zwischen Oppsosition und Militär toben.

Besprochen werden: eine Schau mit Fotografien von Charles Sheeler im Museum of Fine Arts in Boston, Robert Wilsons Inszenierung der "Frau ohne Schatten" an der Pariser Bastille-Oper, Rudi Bekaerts "Ach ja... nein wirklich" am Schauspiel Stuttgart, Otar Iosselianis schön antimoderner Film "Montag Morgen". Und Bücher, darunter Fritz Mauthner Roman "Der neue Ahasver" und Eric-Emmanuel Schmitts Erzählungen "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Korans".

FR, 12.12.2002

Andrea Nüsse hat unseren Nobelpreisträger Günter Grass zu einem Dichtergipfel ins südjemenitische Sanaa begleitet, wo er bedeutende Vertreter der arabischen Literatur getroffen hat. "Obwohl Grass durch seine Kritik an der Politik Israels und an den amerikanischen Kriegsplänen gegen Irak in der arabischen Welt einen Vertrauensvorschuss genießt, trugen jemenitische Schriftsteller die üblichen Solidaritätsadressen für die Palästinenser und Proklamationen zur zionistischen und jüdischenWeltverschwörung vor. Grass bemühte sich hingegen, die für viele arabische Teilnehmer irritierende Tatsache zu erklären, dass man gleichzeitig ein Freund Israels und der Araber sein könne... und Grass verkniff sich nicht die Frage, wieso die arabischen Staaten die palästinensischen Flüchtlinge nie zu integrieren versucht hätten."

Rainer Jung widerspricht Befürchtungen, das Jörg Friedrichs Buch über die Zerstörung deutscher Städte während des Zweiten Weltkrieges könnte einen neudeutschen Opferkult zur Folge haben. Denn das angebliche Tabu, darüber zu sprechen, sei Fiktion. "Trotzdem haben die scharfen Töne aus England ihren Wert. Sie können daran erinnern, dass in Deutschland ein einmaliger Erfahrungsschatz zum Thema Luftkrieg existiert und bislang ungenutzt vermodert. Das Volk, dessen Generäle einst das Flugzeug als Terrorinstrument erfanden und gegen Warschau, Rotterdam, Coventry und Belgrad einsetzten, dessen heutige Politiker alle Jahre wieder entscheiden müssen, ob sie sich an Luftangriffen mit angeblich humanitären Zielen beteiligen, sollte sensibler als jedes andere für militärische Möglichkeiten und mörderisches Potenzial dieser hoch potenten Kriegstechnik sein."

Andere Themen: Die Kolumne Times Mager befasst sich mit der Sorge des Bundespräsidenten um die deutsche Theaterlandschaft, und Petra Kohse hat sich im Berliner "Collegium Hungaricum" unter die Kertesz-Landsleute und -Fans gemischt und sich die Nobelpreis-Verleihung als Fernsehaufzeichnung angeschaut. Besprochen werden:
Frank Hilbrichs Inszenierung von Manuel de Fallas seltener Don Quixote-Oper "El Retablo de Maese Pedro" an der Staatsoper Stuttgart, die zweite Berliner "Tanznacht" in der Akademie der Künste und der erste Band der Memoiren des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez "Leben, um davon zu erzählen".

NZZ, 12.12.2002

Recht kritisch bespricht Christoph Jahr Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" über den Bombenkrieg in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Das Buch sei zwar nicht apologetisch, aber die Sprache irritiert den Rezensenten doch: "Die Trauer und Wut über die militärisch meist sinnlose Zerstörung der deutschen Städte bis wenige Tage vor Kriegsende führt den Autor auf Abwege. Die etwa 500 000 Bombenopfer werden durchgängig als 'Gefallene' bezeichnet, und der Luftkrieg gerät zur 'Vernichtungspolitik'. Die deutschen Städte sind das Ziel eines 'mongolischen Luftvernichtungsorkans', in dem die Luftschutzkeller 'arbeiteten wie Krematorien'. Diese semantische Nähe zur Sprache des Völkermords erreicht ihren Höhepunkt, indem eine britische Bomberstaffel zur 'Einsatzgruppe' gestempelt wird." Deswegen sei Friedrich noch kein Revisionist, aber er lasse die Chance verstreichen, "den Bombenkrieg als eine viele europäische Länder vereinende, transnationale Erfahrung auszuleuchten".

Alexandra Sträheli hat sich Woody Allens neuen Film "Hollywood Ending" angesehen und ausführlich besprochen. Sie unterstreicht die Einschätzung, dass Leben und Werk von Woody Allen "ein Recycling in beide Richtungen" zu seien scheint. Der Film handelt von einem Hollywood-Regisseur, der die Karriereleiter hinunter purzelt, aber noch einmal verzweifelt einen Blockbuster abdrehen will. Sträheli ist dem Film nicht abgeneigt, bei ihr entsteht aber der Verdacht, "dass Woody Allen sich für einmal in buchstäblich blindem Eifer allzu sehr mit seiner Hauptfigur identifiziert haben könnte".

Besprochen werden die Ausstellung "Synthese und Architektur" des spanischen Architektenduos Antonio Cruz und Antonio Ortiz im Aedes East Forum in den Berliner Hackeschen Höfen und eine Orchesteraufführung der "Herodiade-Fragmente" des jungen Komponisten Matthias Pintscher in der Zürcher Tonhalle.

Vorgestellt werden auch mehrere CDs, darunter die Alben von Rapper Common ("Electric Circus") und den Hip-Hoppern The Roots ("Phrenology") und zwei neue CDs des britischen Produzentenduos Spring Heel Jack ("masses" und "Amassed"). Außerdem eine CD und eine DVD vom kubanischen Orquesta Anacoana . Und jede Menge Bücher darunter der Roman von Catalin Florescu "Kurzer Weg nach Hause" und eine Monografie über "Nietzsches Italien" von Tilmann Buddensieg (lesen Sie dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 12.12.2002

"Wie kann es sein, dass ein Bereich, der mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht, also einen mehr als doppelt so hohen Anteil als noch
vor 40 Jahren, dass so ein Bereich damit nicht auskommt?" fragt Rainer Erlinger angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Seine Erklärung: Gegenwärtig erlebten wir nicht einfach eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, "sondern eine Leistungsexplosion, bei der die Medizin Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden ist."

Der Schrifsteller Jochen Schmidt (mehr hier) ist in Stendhal einer Sensation begegnet, nämlich einer ostdeutschen Immobilienmaklerin: "Dieser Beruf hat für viele Ostdeutsche immer noch etwas Anrüchiges. Immobilienmakler, Rechtsanwälte und Hausbesitzer waren die ersten, die zur Wendezeit in die neuen Länder ausschwärmten, um aus der Ahnungslosigkeit der Menschen Profit zu schlagen..."

Weitere Themen: Susan Vahabzadeh befasst sich mit dem Widerstand einiger Hollywoodstars gegen President Bushs Kriegspläne im Irak. Enno Patalas, Filmhistoriker und langjähriger Leiter des Filmmuseums in München, schreibt über die aufwendige Rekostruktion des letzten Films von Max Ophüls "Lola Montez", Norbert H. Ott verabschiedet den Würzburger Mittelalter-Germanisten Kurt Ruh, der am 8. Dezember gestorben ist. Thomas Thiermeyer schreibt über das Deutsch-Französische Jugendwerk, das den Jugendaustausch zwischen Litauen und Westeuropa fördert. 

Schadenfroh wird außerdem vermeldet, dass die FAZ-Rezension des ehemaligen wissenschaftlichen Direktors des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Horst Boog, von Jörg Friedrichs Bombenkriegsbuch "Der Brand" vom 10. Dezember, fünf Tage zuvor schon ziemlich gleichlautend in der Jungen Freiheit zu lesen war." (Wo sie leider nicht mehr online steht.)

Besprochen werden die Albrecht-Dürer-Schau im British Museum, das den deutschen Künstler als europäische Größe der Renaissance feiert, der kanadische Nomadenfilm "Tanarjuat - The Fast Runner" von Zacharias Kunuk, zwei Filme von Agnes Varda "Les glaneurs et la glaneuse" und "Deux ans apres", für die die Filmemacherin in Paris sogar einen kleinen Laden eröffnete, der neue Jackie-Chan-Film "The Tuxedo", Knut Webers Inszenierung von Yukio Mishimas "Der tropische Baum" am Badischen Staatstheater in Karlsruhe und Bücher, darunter die Marquez-Memoiren (mehr hier) und ein kulturwissenschaftliches Lesebuch über das Imaginäre politischer Herrschaft: "Des Kaisers neue Kleider". (Mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr)

TAZ, 12.12.2002

Donnerstag ist Kinotag in der taz.

Cristina Nord besingt den kanadischen Spielfilm "Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer": "Draußen überwältigen die Totalen: eine weite, weiße Fläche, das kräftige Azur des Himmels, das gleißende Licht. Nicht zu sehen ist eine Furcht, die man der Dunkelheit zuschlägt, hier ist es an der Helligkeit, die Sicht zu nehmen. Und galt bisher das Gesetz, dass Landschaftsaufnahmen und digitale Videotechnik sich nicht vertragen, so zeigt
'Atanarjuat' das Gegenteil: Indem die Bilder auf die Tiefenschärfe und die Brillanz des normalen Filmmaterials verzichten, retten sie sich vor der bloßen, schwelgerischen Landschaftsmalerei."

Claudia Lenssen bestaunt Eugenie Jansens "Zwischenland": "einer von den Filmen, die auf das disparate Alltägliche schauen, beharrlich, voller Zuneigung, bis dessen utopische Kraft an die Oberfläche dringt. Eine Art Märchen aus einer holländischen Reihenhaussiedlung." Und Claus Löser ist beeindruckt von Ulrike Frankes und Michael Loekens Dokumentation "Herr Schmidt und Herr Friedrich", die von einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte zwischen Männern erzählt: "Ein schöner und trauriger, ein wahrer Film."

Weitere Themen: Jan Engelmann hat einem Vortrag von Jan-Philipp Reemtsma über das Thema "Terroristische Gewalt: Was klärt die Frage nach den Motiven?" gehört, die er vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Potsdam gehalten hat. Brigitte Werneburg kommentiert den Umstand, dass die Direktoren der wichtigsten europäischen und amerikanischen Museen eine Erklärung vorbereitet und unterzeichnet haben, in der es heißt, dass sie Forderungen nach Rückgabe ihrer antiken Kunstschätze nicht nachkommen werden und auf der Internetseite ist Dietmar Kammerer unzufrieden mit dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung für ein neues Urheberrecht

Und Tom.