Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2003. In der SZ beklagt der palästinensische Publizist Hassan Khader den Realitätsverlust der Palästinenser. Die taz findet Rebellion en vogue. In der FR stellt Boris Groys den Videokünstler Osama Bin Laden vor. Die FAZ erklärt, warum Craig Venter eine Bakterie nachbauen will, die in der menschlichen Harnröhre lebt. Die NZZ ist fantastisch international.

FAZ, 25.04.2003

Robert Darnton (mehr hier und hier), Historiker in Princeton, unternimmt einen tieftraurigen Streifzug durch die Historie der Brandschatzungen, um dann auf den Fall Bagdad zurückzukommen: "Würde man sich eine Horde von Vandalen vorstellen, die die Bibliothek und das Nationalarchiv zerstört, während eine fremde Armee das Hauptquartier des FBI und das Schatzamt bewacht, dann hätte man eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich die Iraker fühlten, als die amerikanischen Truppen einen Kordon um das Ölministerium und das Innenministerium zogen, aber es den Plünderern erlaubten, die Nationalbibliothek zu zerstören und das Nationalmuseum auszurauben. Wie viele bemerkt haben, fügte die mongolische Invasion von 1258 der irakischen Kultur geringeren Schaden zu als die amerikanische Invasion im Jahr 2003."

Auf der letzten Seite stellt Christian Schwägerl die neuen Pläne des "Freibeuters der Gentechnik" Craig Venter vor, der jetzt eine Bakterie, welche normalerweise in der menschlichen Harnröhre lebt, nachbauen will, wenn auch ein wenig modifiziert: "Das Erbgut soll nämlich so konstruiert sein, dass die neue Bakterie jenes Kohlendioxyd unschädlich macht, das die Menschheit als Treibhausgas in die Atmosphäre pumpt. Zugleich soll sie Wasserstoff als umweltfreundliche Energiequelle produzieren. 'Das Ziel ist - und da, glaube ich, muss man den Film 'Superman' heranziehen -, den Planeten zu retten.' Das sagte Venter, gewohnt bescheiden, den Wired News." Hier ein Kommentar mit einigen Links aus The Scientist zu Venters Projekt. Übrigens meldet Reuters gerade, dass Venter einen Forschungsetat von 9 Millionen Dollar bekommt, um die Genome aller Arten im Saragossameer zu entziffern.

Weitere Artikel: Eberhard Rathgeb glossiert eine Aktion zum Welttag des Buchs, die beweisen wollte, dass man ein Buch innerhalb von 24 Stunden verfertigen (und wahrscheinlich noch schneller vergessen) kann. "igl" kommentiert die Äußerungen Peter Handkes zum Vorschlag des Schriftstellerverbands, Joschka Fischer den Friedenspreis zu geben (er wolle "Maikäfer" werden, falls dieser Vorschlag verwirklicht würde, sagte Handke, was doch eigentlich für seine Realisierung spricht). Andreas Rossmann berichtet etwas spöttisch von der Eröffnung eines großen Buchkaufhauses der Gruppe Buch Habel, die noch vor kurzem zu fünfzig Prozent dieser Zeitung gehörte, in Krefeld. Christian Geyer sieht sich den Dokumentarfilm "Fogh hinter den Fassaden" an, für den der Filmemacher Christoffer Guldbransen dem dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen ein heimliches Mikro ans Revers heftete. Gerhard R. Koch gratuliert dem Musikwissenschaftler Kurt von Fischer zum Neunzigsten. Patrick Bahners schreibt zum Tod des Historikers Kurt Kluxen. Patrick Bahners schreibt auch zum Tod der amerikanischen Comic-Verlegerin Helen Honig Meyer.

Auf der letzten Seite erläutert Dietmar Dath die Schwierigkeiten der Country-und-Western-Gruppe Dixie Chicks, die sich gegen den Krieg aussprach, aber auch sofort dafür entschuldigte (auch bei Bush und Rumsfeld hat Dath Western-Assoziationen. Er sieht sie als "zwei Schubiacks, die in klassischen Pferde-Opern allenfalls verkniffene Beerdigungsunternehmer hätten spielen dürfen"). Und Paul Ingendaay stellt den britischen Historiker Paul Preston vor, einen Spezialisten für spanische Zeitgeschichte, der in Spanien mit einer 700seitigen Biografie des Königs einen Bestseller lancierte. Auf der Medienseite erinnert Michael Jeismann an die Präsentation der gefälschten Hitler-Tagebücher durch den Stern vor 20 Jahren. Und Jochen Hieber singt ein Lob des Snooker-Billards im Fernsehen.

Besprochen werden die Vilhelm-Hammershoi-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, Heinar Kipphardts Stück "Zug um Zug" in Elias Perrigs Inszenierung in Stuttgart, György Palfis Film "Hukkle - das Dorf", eine Ausstellung expressionistischer Architektur in Bremen.

FR, 25.04.2003

Der Kulturwissenschaftler Boris Groys (mehr hier) denkt im Gespräch über die Kunst des Terrors vom 11.September nach und kommt zu folgendem Schluss: "Der Medienraum ist auch ein strategischer Raum und die Attentäter oder die Drahtzieher haben ihn besetzt, monatelang waren nur diese Bilder zu sehen. Die Frage ist: Wie bringe ich mich in diesen Medienraum und wie besetze ich ihn, wie akquiriere ich die Medienmacht und übe sie aus. Es ist die Frage, die uns alle beschäftigt. Das beginnt alles mit den Videos von bin Laden. Bin Laden ist im Grunde Videokünstler, der Videos produziert und sie durch Al-Dschasira und andere Medienunternehmen vertreibt. Es ging von Anfang an um eine neue Video- und Medienkunst auf der Ebene der Machtausübung und eines strategischen Spiels."

Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell ist ganz und gar unzufrieden mit den Bildern, die man ihm vom Krieg gezeigt hat: "Die wichtigsten Bilder haben wir nicht gesehen. Welche? Ich nehme an, es gab zwei Arten davon. Zum einen waren wir nicht in den Häusern, nicht zu Hause bei den normalen irakischen Bürgern. Wir konnten nicht die entsetzliche Zeit des Wartens mit ihnen teilen, während die Bomben vom Himmel fielen. Wir waren nie dort, im Warteraum des Todes..."

Weitere Artikel: Manfred Schneider möchte das Völkerrecht nach seinem Bruch wieder hergestellt sehen. Das Landgericht München hat die einstweilige Verfügung gegen Maxim Billers Roman "Esra" bestätigt, Peter Michalzik ärgert sich deshalb über seine Kollegen: "Bisher hörte das Feuilleton alle Alarmglocken klingeln, wenn etwas, das auch nur entfernt nach Kunst aussah, verboten werden sollte. Heute liefert es dem Gericht Pseudoexpertisen als Verbotsbegründungen." In Times Mager fragt sich Daniel Kothenschulte, warum Schauspielerinnen immer wieder und trotz aller Warnungen bei Peter Greenaway mitspielen.

Besprochen werden Oskar Roehlers hemmungsloser Liebesfilm "Der alte Affe Angst", eine Ausstellung mit Fotografien von Christer Strömholm in Berlin und Bücher, darunter Kapitalismuskritik von Naomi Klein und Thilo Bode, grundsätzliche Versuche über Strategie und Moral von Ulrich K. Preuß und Edward Luttwak sowie Detlef Balds Geschichte der "Weißen Rose" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.04.2003

Ein fantastisches internationales Feuilleton liefert das Schweizer Institut heute: Eva Profousova porträtiert in der Reihe "Werkstatt" die Brüder Jachym und Filip Topol. Jachym Topol ist Schriftsteller und hat "binnen drei Monaten wie im Rausch" seinen ersten Roman "Die Schwester" geschrieben. Der Roman erschien 1994 und gilt als der Nach-Wende-Roman in Tschechien. Bruder Filip ist Rockmusiker. "1977 unterzeichnete der Vater Josef Topol - neben Havel einer der bedeutendsten tschechischen Dramatiker der sechziger Jahre - die Charta 77. Quasi über Nacht bekam die ganze Familie das Stigma der Opposition aufgedrückt. Die Nachbarn schnitten die Familie, die Lehrer übten sich in Schikane, direkt vom Schulunterricht wurde man zum Verhör abgeholt. Den einzig möglichen Freiraum fanden der damals 15-jährige Jachym und sein drei Jahre jüngerer Bruder Filip inmitten anderer Dissidenten und verbotener Künstler im tschechischen Underground ... Nachdem er 1978 von Vaclav Havel gebeten worden war, die Vorgruppe bei einem Konzert der 'Plastic People of the Universe' zu stellen, gründete Filip zusammen mit seinen Mitschülern" die Rockband "Psi vojaci / Hundesoldaten", die in Tschechien "bereits zur Legende geworden" ist.

Hoo Nam Seelmann erzählt, wie anders im Vergleich zum Westen alte Menschen in Korea behandelt werden: "Der Altersunterschied regelt den Grad der Höflichkeit in der Kommunikation, ausgedrückt in den unzähligen honorativen Verb- und Anredeformen. Schon bald nach dem Beginn jeder Kommunikation bildet sich eine durch Alter bestimmte Hierarchie heraus, eine Hierarchie übrigens, die der erfolgreiche holländische Fußballtrainer Hiddink aus der koreanischen Nationalmannschaft auszutreiben versuchte. Eine in Europa entstandene, mehr oder weniger auf dem Gleichheitsprinzip und dem individuellen Können aufbauende Sportart wie Fußball hatte in der koreanischen Kultur Schwierigkeiten, Wurzeln zu schlagen." Die Frage ist, ob sich diese Tradition aufrechterhalten lässt. Denn Korea gilt als "aging society", berichtet Seelmann.

Weitere Artikel: Urs Schoettli denkt über die psychologischen Folgen von SARS nach. Joachim Güntner berichtet, dass Maxim Billers Roman "Esra" auch nach dem Prozess am Dienstag verboten bleibt. Ernst Lichtenhahn gratuliert dem Musikwissenschaftler Kurt von Fischer zum Neunzigsten. Gemeldet werden wichtige Premieren der Wiener Burgtheater-Saison 2003/04

Für die Filmseite war Ulrich von Thüna bei einem Symposium über "Bilder des Deutschen im sowjetischen und postsowjetischen Kino", das im Rahmen des Festivals "goEast" in Wiesbaden stattfand. Besonders das Filmprogramm fand Thüna interessant: "Am nuanciertesten war 'Vorstadt' von Boris Barnet: lyrisch-intimistische Notizen über das verschlafene Leben in der russischen Provinz; dann führt der Weltkrieg zu patriotischen Ausbrüchen; zum Schluss wird die ganze Gesellschaft umgekrempelt. Barnet hat einen Blick für Poesie wie für Skurriles, und seine beiden Deutschen sind gänzlich normale Zeitgenossen."

Weitere Artikel: Als. schreibt über die 9. Visions du reel, das Festival des Dokumentarfilms in Nyon. Heinz Kersten stellt neuere Literatur zum ostdeutschen Kino vor. Che. berichtet über das Filmforum Indigene Völker, das gerade zum dritten Mal in Zürich und in Basel stattfindet. Besprochen werden die Filme "Moonlight Mile" von Brad Silberling und "Elsewhere" von Nikolaus Geyrhalter - ein Film, der aus zwölf Filmen besteht, jeder in einem anderen Land gedreht, jeder zwanzig Minuten lang, "in beliebiger Reihenfolge und Stückelung vorführbar: ein auch hinsichtlich der Auswertung in Kino und Fernsehen mustergültiges Konzept", meint Christoph Egger.

Auf der Medien und Informatikseite stellt man eine amerikanische Studie vor, wonach die Börsenpresse in der Zeit des Booms eher versagte und prozyklisch wirkte, statt zu warnen. Und ein längerer Artikel widmet sich den Müttern des Computers, der nämlich keineswegs nur Väter hatte.

TAZ, 25.04.2003

"Rebellion ist en vogue" bemerkt Robert Misik. Slavoj Zizek, Naomi Klein und Che Guevara füllen die Bücherregale, das Peace-Zeichen prangt von Holly- bis Bollywood. "Das böse Wort vom Radical Chic ist schon die aufstrebende Vokabel der Saison. Geprägt in den späten Sechzigern, als die Cocktail-Society zu Black-Panther-Fundraising-Partys lud, klingt in dem Wort an, wie sich die gelangweilte Bourgeoisie und die Sinn suchende Mittelstandsjugend ein bisschen Thrill ins Hause holen: mit Revoltengesten, die zu nichts verpflichten. Man fühlt sich gut und riskiert wenig vom feinen Leben. 'Leere Gesten', hallt es von beiden Seiten - von 'echten' Linken und von rechts. Wobei nicht selten schnöselig die Nase gerümpft wird, ohne dass recht klar würde, was die Kritiker lieber hätten: eine wahre, nicht bloß schicke Revolte - oder besser doch gar keine."

Jacques Naoum beschreibt, wie arabische Intellektuelle den Fall von Bagdad kommentieren: "Eine Batterie an Publikationen, mit der sich ganze Regalwände füllen lassen, und eine bunt gemischte Autorenschaft aus Politikern, Militärstrategen, Schriftstellern und Kolumnisten befasst sich mit der Rolle Israels in diesem Konflikt: als Mitvorbereiter, Mithelfer und alleiniger Nutznießer der Invasion. Unisono erklingt die Wehklage, die eine durchwegs düstere Zukunft beschwört. Befürchtet wird eine gefährliche Zangenlage für die Araber: Im Osten durch die US-Truppen und im Westen durch Israel eingeschlossen, könnte die neue Situation, wie der syrische Schriftsteller Achmed Nagi schreibt, dramatische Folgen zeitigen, 'bis hin zur kollektiven Umsiedlung der Palästinenser in das arabische Hinterland'."

Auf der Medienseite fühlt sich Christian Buss angesichts der Comedy-Offensiven von Sat.1 und RTL am Freitagabend "wie allein am Kneipentresen - mit 'nem schalen Bier".

Besprochen werden George Clooneys Regiedebüt "Confessions of a dangerous mind", neue Alben von Yo La Tengo und The Sea & Cake sowie die Lichtinstallationen des Dänen Olafur Eliasson im Kunstbau München.

Und schließlich Tom.

SZ, 25.04.2003

Der Herausgeber der Literaturzeitschrift Al Karmel, der palästinensische Publizist Hassan Khaderliefert ein Stimmungsbild aus Palästina in Zeiten des Krieges. Zum Machtkampf innerhalb der Autonomiebehörde schreibt er: "Ich ziehe es vor, diese Schwierigkeiten als eine Art Realitätsverlust zu betrachten. Dieser ist das Resultat einer brutalen Besatzungspolitik, die uns sichtbare und unsichtbare Wunden zugefügt hat, körperliche, kulturelle und psychologische Wunden. Er ist ebenso das Resultat unserer Selbstversklavung durch eine Opfermentalität und Opferkultur, welche von der Palästinensischen Autonomiebehörde genährt wurde, um in Palästina ein populistisches Regime ein zuführen - ein Regime also, das den anderen kaputten und bankrotten Regimes in der arabischen Welt ähnelt.

Jens Bisky sieht in der Berliner Hochschulkrise die verheerende Macht des Wohlstandsstarrsinns wirken: "Eine Universität, die darauf verzichtet, junge Wissenschaftler einzustellen, neue Studenten zu immatrikulieren, Professoren aus anderen Städten zu berufen, ist wohl ebenso absurd wie die Zahlen (des Finanzsenators) Sarrazin es sind. Da ringen Alarmisten miteinander: ein Senator, der mit schrecklichen Ankündigungen Zugeständnisse erpressen will, Universitäten, die ihre Selbstverstümmelung androhen, um etwas glimpflicher davon zu kommen."

Weitere Artikel: Sonja Zekri zeigt sich fassungslos über die Selbstmordforen, die sich im digitalen Raum der Verzweiflung ausbreiten ("Wenn ich nicht zurückschreibe, hat es funktioniert."). Kristina Maidt-Zinke fragt sich, wer und was man eigentlich davon hat, wenn Literatur in Rekordzeit entsteht. Gregor Schöllgen erinnert an ein Kapitel deutscher Kolonialgeschichte: Vor hundert Jahren wurden die Bagdadeisenbahngesellschaft gegründet, die Berlin mit dem Persischen Golf verbinden und Deutschland in die erste Reihe der Weltmächte führen sollte. "Cjos" umreißt die Geschichte des Monsignore und Geheimdienst-Manns Eduardo Prettner-Cippico, dessen Nachlass aufschlussreiche Dokumente zum Vorschein gebracht hat. "G.K." freut sich, dass die Glocken der Dresdner Frauenkirche wieder richtig klingen.

Besprochen werden Kathrin Rögglas Stück "Fake Reports" in den Berliner Sophiensälen, Neil Youngs Konzert in Oslo, das Festival "Move Berlin", bei dem brasilianische Tanzkompanien gehörig das Bild ihres Land korrigierten, eine Lucas-Cranach-Ausstellung im Bucerius Kunst Forum in Hamburg und Bücher, darunter Anna Pavords Kulturgeschichte der "Tulpe", Wilhelm Hennis' Studie "Max Weber und Thukydides", Luigi Prandellos wiederaufgelegter Roman "Die Außgestoßene" sowie Flavia Bujors Fantasygeschichte "Das Orakel von Oonagh" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 25.04.2003

In der Welt erklärt der Magnum-Fotograf Luc Delahaye, was ihn in den Krieg treibt: "Um mich voll zu entfalten, muss ich mich extremen Situationen aussetzen, wo ich mit Chaos, Gewalt, Gefahr und Leid konfrontiert bin. Erst später lernte ich den Reichtum und die Schönheit des Krieges und schließlich etwas kennen, was ebenso wichtig und mir bereits in Russland begegnet war: In diesem unterentwickelten Land, das in eine Krise gestürzt war und sich im Kriegszustand befand, stieß ich völlig unerwartet auf den Segen der Menschlichkeit. Man ist dort humaner als hier. Folglich handelt es sich bei dem, was ich tue, um eine Suche nach Menschlichkeit."
Stichwörter: Russland, Magnum