Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2003. "Sie irren sich, meine Herren!", ruft George Steiner in der SZ Jacques Derrida und Richard Rorty zu. In der NZZ schreibt Konstantin Asadowski über die dunkle Seite von Sankt Petersburg. In der taz setzt sich Naomi Klein genau zwischen den Economist und die Trotzkisten. Die FAZ annonciert: Mit dem Föderalismus geht's bergab, und zwar rasant.

SZ, 17.05.2003

Auf der Literaturseite lesen wir ein wunderschönes Interview mit dem Literaturwissenschaftler George Steiner, der in einer Woche den Ludwig-Börne-Preis erhalten wird. Steiner spricht über Studenten, die ihn hassen, die Abenddämmerung in Europa und seine Zeitgenossen. "Wenn der Herr Derrida mir sagt, es gibt keinen Sinn, wenn der Herr Rorty sagt, anything goes, kann ich das nicht rational widerlegen, ganz unmöglich. Ich kann nur sagen, Sie irren sich, meine Herren. Der ganze Poststrukturalismus und die Dekonstruktion kommt vom Dadaismus her, von Hugo Ball und seinen Unsinn-Gedichten. Es ist ein dadaistisches Spiel. Ich glaube, es war ein Schüler von Derrida: Während der Vorlesung schreibt er den Namen 'Jesus' auf die Tafel und sagt: Das ist nicht Jesus, das ist die Vergangenheitsform von 'ich weiß': 'je sus'. Da bin ich weggegangen, ganz ruhig, hab keinen Lärm gemacht, bin aus dem Saal gegangen, weil diese Art Wortspiele, das ist Bluff."

Quasi als Beleg der These Steiners kann man den Essay des Schriftstellers Philippe Sollers lesen: Die Geschichte ist aus dem Gleis geraten, warnt er, und der Nihilismus hält Einzug, ob passiv oder aktiv: "Taumel und Verdummung auf der einen Seite, Zerstreuung und Belustigung auf der anderen." Die USA sind in einem unaufhaltbaren Prozess des Aufräumens verstrickt. "Es gibt noch Kessel, in denen archaischer Widerstand geleistet wird? Damit wird man fertig werden, um so besser, als den Bevölkerungen durch die Möglichkeit der Klage der Geist vernebelt wird. Ihre Revolte? Sie ist vorhergesehen, sie wird noch Schäden anrichten, doch es sind Kanäle der somnambulen Zerstreuung für sie vorgesehen. Die Achse des Bösen wartet nur darauf, zur Pipeline des Guten zu werden." Jesus!

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh meldet sich aus Cannes, wo gerade Filme von Samira Makhmalbaf, Andre Techine und Wim Wenders im Wettbewerb gelaufen sind. Gunna Wendt kommentiert in der Reihe Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von Clara Rilke-Westhoff an Paula Becker aus dem Jahr 1901. Jens Bisky erinnert sich nur ungern an die beiden Abende eines Berliner Symposions, wo die aktuelle Weltlage diskutiert werden sollte. "Von beiden kann man sagen, dass sie unbedingt dümmer machen." Arno Orzessek war auf einer Tagung in Potsdam über den Sexualreformer Magnus Hirschfeld, dessen Leistung in folgendem Zitat nur unzureichend zum Ausdruck kommt. "Normalerweise reden Nicht-Juden nicht über den Sex von Juden, erst recht nicht von schwulen Juden". Henning Klüver berichtet von den Plänen des neuen Sovrintendente Giorgio Van Straten mit dem Maggio Musicale Fiorentino, dem ältesten Opern- und Musikfestival in Italien. Kristina Maidt-Zinke kann den neuesten Plänen zur Erforschung des Erdinneren nur mit Sarkasmus beikommen. Fritz Göttler schreibt zum Tod des britischen Bühnen- und Filmstars Wendy Hiller und des Akteurs Robert Stack, "der mehr als Eliot Ness war". Ago. verabschiedet die ebenfalls verstorbene Countrysängerin June Carter Cash (mehr hier).

Auf der Medienseite plaudert ein gutgelaunter Dieter Hildebrandt nach seiner letzten Scheibenwischer-Sendung und bei warmen Käsekuchen über Gott und die Welt, etwa Literatur made by Dieter Bohlen. "Ich glaube, dass dieser Dreck von vielen Menschen als solcher erkannt wird. Schund hat es immer gegeben. Nur heute wird er besser verkauft. Begonnen hat es mit Beckenbauer, der plötzlich bei Tengelmann in den Regalen lag. Gerade beim Fußball schreitet die Vernetzerung ständig voran."

Besprochen werden die Installationen im "Lebendigen Museum" in Frankfurt, die Uraufführung von Rudolf Zollners Stück "Obersalzberg" in Esslingen, John Polsons Hochschul-Filmthriller "Swimfan", eine Ausstellung in Münster mit ersten Einblicken in die Sammlung Oetker, Botho Strauß' von Holger Schultze in Augsburg inszenierte menschliche Komödie "Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia", Olaf Nicolais misslungene Bebilderung von Georg Friedrich Haas' Konzertstück "In Vain" und Bücher, darunter Miodrag Pavlovics poetischen Rückgang auf die Mythen "Cosmologia profanata", Till Kinzels Studie über die "Platonische Kulturkritik in Amerika" sowie Robert Jüttes Geschichte der Empfängnisverhütung "Lust ohne Last" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Oh, wie schön ist das Wochenende! In der Beilage gibt es heute einen lesenswerten Reiseessay von Andrzej Stasiuk (Bücher), der in Albanien unterwegs war, dem Land der "Angst, die nachts das schlafende Paris, London und Frankfurt am Main heimsucht. (...) Wir mussten nicht fragen, an welcher Stelle das Schiff nach Saranda abfährt. Die Menge der Wartenden war unbewegt und dicht am Fallreep zusammengedrängt. Sie hatten Kartons, Schachteln, Ringe grüner Gartenschläuche, die in Europa und der ganzen Welt berühmten rotblau karierten Plastiktaschen, mit Plastikband verklebte Bündel, gewöhnliche Säcke, Plastiktüten mit längst verwischter Reklame, und alle sahen müde aus. Aber das war keine Müdigkeit von gestern oder vor einem Monat. Sie war wesentlich älter."

Außerdem: Tom Schimmeck sendet einen Hilferuf aus seinem hoffnungslos mit Liebesbotschaften und Penisverlängerungsofferten zugemüllten E-Mail-Fach. Christopher Schmidt kann nicht verstehen, warum das Theater ausgerechnet in der Krise auf eine Ästhetik des Kleinmuts setzt. Und Alexander Gorkow hat sich wieder einmal auf die ihm eigene Art und Weise unterhalten, diesmal mit der überraschend selbstironischen Pink-Floyd-Legende Roger Waters.

NZZ, 17.05.2003

Die Samstagsbeilage Literatur und Kunst (die hoffentlich niemals modernisiert wird) ist heute fast gänzlich der Stadt Sankt Peterburg gewidmet, die in diesen Tagen bekanntlich 300 Jahre alt wird. Wir greifen die wunderschönen Erinnerungen Konstantin Asadowskis auf, der das andere, das dunkle und zuerst von Dostojewski besungene Sankt Petersbrug der Hinterhöfe beschwört: " Prunk und Pracht lebten in Petersburg schon immer einträchtig Seite an Seite mit entsetzlicher Armut; schmerzlicher als andere hat diese Dualität wohl Dostojewski empfunden - der Sänger der Petersburger Elendsviertel und 'dunklen Winkel'. Übel riechend und staubig im Sommer, feucht und neblig im Herbst, eisig und düster im Winter, die Stadt der Schenken, Spelunken und Polizeireviere - das ist das Petersburg Dostojewskis, der das Bild einer gespenstischen, geheimnisvollen, phantasmagorischen Stadt erschuf. Puschkin besang das architektonische Ensemble des Schlossplatzes, Dostojewski die Wohnviertel um den Heumarkt. Dostojewskis zwiespältiges, kränkliches Petersburg ist dem harmonischen Petersburg Puschkins genau entgegengesetzt."

Weitere Artikel in dem großen Dossier: Andreas Breitenstein schreibt den Eröffnungstext. Adolf Max Vogt erzählt, "wie eine Stadtvision Wirklichkeit wurde". Ulrich M. Schmid schildert den in der Sowjetzeit so produktiven Leningrader Untergrund als Alternativkultur. Thomas liest "Sankt Petersburg als 'Mythos' und 'Text'". Und Andreas Breitenstein bespricht Nikolai P. Anziferows Buch "Die Seele Petersburgs" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Ein einsamer, aber sehr ausführlicher Text ist einem anderen Jubiläum gewidmet: Andreas Suter schreibt über den schweizerischen Bauernkrieg und seine Folgen im Jahr 1653.

Im Feuilleton erzählt Angela Schader von Projekten des Leiters des schweizerisch-arabischen Kulturszentrums Ali al-Shalah im Irak - er will dort helfen, gestohlene Kulturschätze und Bücher zurückzukaufen und Kulturzentren zu gründen, die ein Gegengewicht zur drohenden Islamisierung des Landes bilden. "Ein weiterer Schwerpunkt des Projektes liegt in der Schaffung eines Forums für die irakischen Literatur- und Kunstschaffenden. Eine Redaktion mit drei Mitarbeitern würde eine zweimonatlich erscheinende Kulturzeitschrift und daneben einen kleinen Verlag betreuen, in dem jährlich sechs Bücher verlegt werden sollen." Ali al-Shalah wird übrigens auch den arabischen Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse im nächsten Jahr organisieren.

Weitere Artikel: Joachim Güntner resümiert eine Berliner Konferenz über das Klonen. Güntner kommentiert auch drastische Sparpläne für die nordrhein-westfälischen Theater. Martin Walder berichtet aus Cannes. Samuel Herzog schreibt zur Eröffnung des neuen Zenrums der Dia Foundation in Beacon bei New York. Und "fsb" stellt den Spielplan 2003/04 des Luzerner Theaters vor.

Besprochen werden eine Ausstellung über das "Rural Studio" von Alabama im Wiener Architekturzentrum und das in Basel aufgeführte Stück "In Vain" des österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas.

TAZ, 17.05.2003

Zurück zu den Wurzeln, taz? Nicht ganz: Naomi Klein (Bücher) erzählt von argentinischen Näherinnen, die seit achtzehn Monaten ihre Fabrik besetzt halten, wie das in zweihundert anderen Betrieben landesweit ebenfalls der Fall ist. Sie tun das nicht aus kommunistischer Überzeugung, sondern zur Arbeitsplatzsicherung. Das Unternehmen hätte sonst dichtgemacht. "Trotzkistische Postillen in aller Welt jubeln - voreilig - die besetzten Fabriken in Argentinien, wo die ArbeiterInnen die Produktionsmittel in ihren Besitz gebracht haben, schon zur Morgendämmerung eines sozialistischen Utopia hoch. Dieselben Begebenheiten werden von großen kapitalnahen Magazinen wie dem britischen Economist bereits düster als Gefahr für das geheiligte Privateigentum beschrieben. Die Wahrheit liegt in der Mitte."

Paul Berman unterhält sich mit Tobias Rapp über sein gerade in Amerika erschienenes Buch "Terror and Liberalism" (der gleichnamige Artikel vom Oktober 2001 hier), in dem er Parallelen zwischen Totalitarismus und Islamismus zieht und Said Qutb porträtiert, der als Vordenker von al-Qaida gilt. "Qutb ist eine moderne Figur aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er ist Literaturwissenschaftler - ein Georg Lukacs, wenn man so will. Er ist ein umfassend gebildeter Intellektueller, der über Literatur und Existentialismus schreibt und nichtsdestotrotz ein gigantisches totalitäres Gedankengebäude errichtet. Nur eben nicht auf der Basis völkischer Gedanken oder mit Karl Marx als Zentralgottheit. Qutbs Werk basiert auf einer Interpretation des Koran. Aber darin ist er vollkommen modern. Bei der Lektüre seiner Korankommentare trifft man einen zugänglichen und klarsichtigen Denker. Wenn man Qutb liest, erfährt man keinen dieser Schocks, die man vielleicht erwartet hätte, man prallt auf keinen Geist aus einer anderen Welt. Überhaupt nicht."

Das Feuilleton gibt sich ansonsten klassisch - ausschließlich Besprechungen : Kolja Mensing hat sich in die neuen Werke von Patricia Cornwell, Kathy Reichs, Krystyna Kuhn und Iris Johansen vertieft und findet, dass sie mit ihren Krimis in der Welt der Gerichtsmedizin dem Genre neues Leben einhauchen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Cristina Nord hat sich in Cannes Samira Makhmalbafs dritten Spielfilm "Panj e asr" angesehen, der zwar alle Stärken des iranischen Kinos aufweisen kann, diese manchmal aber in einer Überdosis verabreicht, wie Nord meint. Besprochen wird zudem Haruki Murakamis "Undergrundkrieg", unmotiviert und zäh dramatisiert unter der Regie von Regina Wenig im Dresdener Theater in der Fabrik.

Auf der Medienseite plaudert der Interview-Spezialist Alexander Gorkow über seinen Erstling, "Kalbs Schweigen", einen Medienroman. "Es ist generell nicht originell, einen Roman zu schreiben. Aber wenn Sie das Bedürfnis haben, zu lachen oder mit einer Frau zu schlafen, fragen Sie sich auch nicht, ob diese Vorhaben originell sind." Gorkow, hauptberuflich bei der SZ am Wochenende, leidet unter Existenzängsten. "Aber nicht wegen der Zeitung, sondern weil ich mir ständig Krankheiten einbilde. Die Wochenendbeilage wird übrigens nicht eingestellt."

Im tazmag erregt sich Astrid von Pufendorf über die "Medienelite" von FAZ, Spiegel, WDR und Stern, die nach dem Krieg "lange gegen die Demokratisierung der Bundesrepublik angeschrieben" hat, wie im Buch "Die Herren Journalisten" von Lutz Hachmeister und Friedemann Siering ausführlich dokumentiert. "Ein kompliziertes Geflecht aus NS-Kumpanei, der Sicherung von Insiderinformationen und dem auflagesteigernden Thema Nationalsozialismus lässt sich jedoch am deutlichsten anhand der Geschichte des jungen Spiegels ablesen, wie Lutz Hachmeister skizziert. 'Die Einladung zur Mitarbeit an SD-Führer, Gestapoleute und NS-Propagandisten durch das Redaktionsmanagement des frühen Spiegels' habe nichts Zufälliges gehabt. 'Augstein und Becker kalkulierten vielmehr kühl den Wert von Insiderkenntnissen für die Bearbeitung des deutschen Themenkomplexes schlechthin - den Aufstieg und Fall des NS-Regimes.' Wieder zeigt sich hier das utilitaristische Doppelgesicht fast aller Medien, das den Neustart in die Demokratie stark belastet hat."

Außerdem: Henning Kober streift durch Berlin-Mitte, auf der Suche nach dem Spaß der Neunziger, und findet ihn schließlich im WMF, wo sich "bunte Gestalten, bekleidet in einer Mischung aus Designerstücken und Secondhandtextilien", im plüschig roten Untergeschoss drängen. Cornelia Kurth gesteht, dass sie hochgradig E-Bay-süchtig (mehr zu E-Bay) ist. Gyde Cold stellt das Hamburger Theaterprojekt Hajusom vor, das jugendlichen Flüchtlingen einen Start in Deutschland ermöglichen will. Nicht sehen können wir leider die Fotoreportage von Paolo Woods (zur Person), über einen Bauernhof voller Außenseiter in der Toskana.

Schließlich Tom.

FR, 17.05.2003

Das 40. Berliner Theatertreffen geht seinem Ende zu, und für die dramatische Kunst zieht sich die Schlinge immer enger zu. Bald werden wir uns entscheiden müsssen, ob wir diese merkwürdig hybride Kunst noch haben wollen, prophezeit Peter Michalzik. "Dann wird man die Stadttheater behalten müssen, denn das genau ist es, was sie produzieren können: Eigenartige Zwitter, in denen sich alles überlagert, die oft verwirrend, aber manchmal auch von einer traumwandlerischen Hellsichtigkeit sind, die man andernorts nicht findet. Der wegen seiner autoreflexiven Struktur zur Zeit als besonders stilbildend geltende Film "Matrix" zum Beispiel ist gegenüber Puchers "Richard" schlicht unterkomplex."

Weiteres: Daniel Kothenschulte zeigt sich enttäuscht vom Beginn des Festivals in Cannes. Da hilft auch Matrix nicht, diesmal sogar mit Liebesgeschichte. In Zimt begreift Renee Zucker, dass man sich nur böse schön machen oder ungeschminkt der Frustration anheim fallen kann. Gemeldet wird, dass das deutsche Literaturarchiv in Marbach jetzt Aufzeichnungen von Marcel-Reich-Ranicki (Der Kanon) beherbergt und dass der Berliner Kunstprofessor Lothar Baumann 50 000 Euro für das Gesamtkonzept zur Gestaltung des Innenhofes im Bundespräsidialamt erhält.

In Zeit und Bild macht sich Hannelore Schlaffer lange Gedanken zu Todesangst und Lebenshunger in unserer alterslosen Gesellschaft. Verena Mayer dagegen hat dem Prozess gegen einen Masseur beigewohnt, der Motorsport mag und einfach zu gerne Motorräder knackt.

Besprochen werden der Film "Matrix", das beeindruckende, von Udo Kittelmann initiierte "Lebendige Museum" in Frankfurt, Shakespeares "Wie es Euch gefällt" in einer etwas ermüdenden Version von Jürgen Gosch in Hamburg, und Bücher, darunter Peter Handkes bedenkenswerte Beobachtungen "Rund um das Große Tribunal", der schöne Best-of-Band der Zeitschrift "Visionaire" sowie "Der Unwissende", eine Sammlung von Gedichten und Prosa von Philippe Jaccottet (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite schildert Mechthild Zschau, wie anders Theater im Fernsehen wirkt. Oliver Gehrs weiß von weiteren Interessenten für den Berliner "Tagesspiegel".

Im Magazin spricht ein offensichtlich gut erhaltener Sir Edmund Hillary mit Thomas Wolff über die Erstbesteigung des Mount Everest und sein berühmtes Zitat danach im Basiscamp: "George, wir haben den Bastard drangekriegt". Das ist ihm heute noch peinlich. "Eigentlich bin ich ja in einer Familie aufgewachsen, in der eine so unflätige Sprache nicht geduldet wurde, und daran habe ich mich auch immer gehalten. Aber als wir die Südost Ridge herunter kamen und die ersten Gesichter unserer Kameraden wiedersahen, ist es mir so rausgerutscht, ohne groß drüber nachzudenken. Es war gewiss nicht als Anrede an die Weltöffentlichkeit gedacht."

Weiteres: Thomas Wolff hat sich zu den letzten Männern dieses Landes begeben und sich die Nächte mit Sportfischern um die Ohren geschlagen. Es ist der Auftaktartikel für eine ganze Reihe weiterer Grenzgänge in diesem Magazin, etwa die Goldsuche am Klondike. Lutz Fischer berichtet aus eigener Erfahrung, wie es ist, an einem Tag drei Alpenpässe zu überqueren - mit dem Rad. Und Franz Lerchenmüller erinnert sich schaudernd an seine Zeit mit dem Kajak vor der Ostküste Neufundlands.

FAZ, 17.05.2003

In einem Artikel über die Krise der deutschen Kommunen, an der diese übrigens eine Mitschuld trügen, wagt Jürgen Kaube eine kühne, wann auch nicht tröstliche Prognose: "Das Land wird sich, wenn es so weitergeht, in den nächsten Jahren mehr verändern als durch die fabulöse Globalisierung oder die deutsche Einheit. Denn es ist der Föderalismus, der durch die öffentliche Verschuldung am stärksten getroffen wird... Dass es dem Land gut ging, bewies sich nicht in Nationalbibliotheken oder Millennium-Domen, sondern im Niveau seiner Kreiskrankenhäuser und den Beständen seiner Kunstvereine. Also wird sich die öffentliche Armut auch zuerst hier bemerkbar machen..."

Weitere Artikel: Hans-Peter Riese stellt den neuen Sitz der Dia Art Foundation, eine renovierte Fabrikhalle in Beacon bei New York, und die dort präsentierte Kunst vor. Dazu gehört ein Gespräch mit Heiner Friedrich, der die Dia Art Foundation 1974 gründete. Michael Althen bewundert in seiner Cannes-Kolumne die "märchenhafte Klarheit der Erzählung" in Samira Makhmalbafs (Bild) Film "Um fünf Uhr Nachmittag", der von den Frauen in Afghanistan nach der Befreiung erzählt. Joseph Hanimann analysiert das französisch-amerikanische Verhältnis nach dem Irak-Krieg und stellt eine erstaunlich sanfte Reaktion der Franzosen auf amerikanische Attacken fest. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man in diesen Ländern mit dem 1. Mai umgehen soll. Heinz Thomas schreibt zum neunzigsten Geburtstag des Historikers Eugen Ewig. Angela Heinick besucht die Fondation Henri Cartier-Bresson in Paris und eine dem Fotografen gewidmete Ausstellung in der Bibliotheque nationale. Edo Reents schreibt zum Tod der Country-Sängerin June Carter Cash der Frau von Johnny Cash. "hd" schreibt zum Tod des Sängers Otto Edelmann.

In den Ruinen von Bildern und Zeiten erzählt die südkoreanisch-amerikanische Autorin Suki Kim von ihrer ersten Reise nach Nordkorea seit Jahrzehnten - auf der Suche nach einem Onkel, der in den Kriegswirren in den fünfziger Jahren verschwunden war. ??? legt ein Porträt des meist gespielten Komponisten der Gegenwart, Wolfgang Rihm, vor.

Besprochen werden die späte Uraufführung der vergessenen Oper "Nordische Ballade" von Manfred Gurlitt, ein Konzert Annie Lennox' in der Alten Oper Frankfurt, Jürgen Goschs Inszenierung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" im Hamburger Schauspielhaus, Jo Fabians Stück "Ten years after" im Hebbel-Theater Berlin und eine Ausstellung über die Etrusker im Sepulkralmuseum Kassel und Bücher, darunter ein Hörbuchversion von Jana Hensels "Zonenkinder". Jochen Hieber rechnet in seiner Besprechung gleich gründlich mit der Hörbuchbranche ab, die, mit Ausnahme von Hörbuch Hamburg und der Edition Mnemosyne, den Kunden betrügen, indem sie bei Hörbüchern nur einen Teil des gedruckten Textes auf CD pressen.

Auf der Medienseite meldet "S.K.", dass nun der Hamburger Bauer-Verlag Interesse an der Übernahme des Berliner Tagesspiegels anmeldet. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite schimpft Stephan Mösch über CDs, in denen Carusos Stimme per Computer in moderne Begleitarrangements gepresst wird. Besprochen werden neue Liszt-Aufnahmen von von Yundi Li und Igor Kamenz, CDs mit Schubert-Sonaten von Murray Perahia und mit Beethoven-Sonaten von Maurizio Pollini, CDs, die die "prächtige Musik" Francisco Corselli, der im 18. Jahrhundert in Spanien wirkte, wiederentdecken, eine Country-Platte von Canyon und eine CD des schwedischen Rockduos Martin Hederos & Matthias Hellberg. Auf der Literaturseite erinnert ??? anlässlich zweier Neuerscheinungen an Uwe Johnson.