Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2004. Martin Walser verlässt den Suhrkamp Verlag, behauptet die Welt. Die taz und die FR artikulieren ihren Ekel über die Bild-Zeitung. Die SZ fragt: Woher kommt der Hass auf alles Ökonomische? Die FR betrachtet außerdem algerische Fotos aus dem Algerienkrieg. Die NZZ stellt die deutsche Theatergruppe Rimini Protokoll vor.

Welt, 17.02.2004

Martin Walser verlässt den Suhrkamp Verlag, behauptet die Welt
Wohin er geht, und ob ihm andere Suhrkamp-Autoren folgen werden, ist ungewiss. Aber, heißt es in einem im Netz ungezeichneten Kommentar, "Walser ist Walser, bleibt Walser - und wenn er, wie Günter Grass, in einem Göttinger Kleinverlag erscheint. Daniel Kehlmann hingegen, um nur diesen Jungautor pars pro toto zu nennen, wird zu einer Größe durch Suhrkamp. So könnte es sein, dass der Lokomotive Walser gar nicht so viele Waggons folgen werden."

SZ, 17.02.2004

"Es handelt sich um ein miserables Stück, das bald in Vergessenheit geraten wird", konstatiert Nikolaus Piper zu Rolf Hochhuths umstrittenen Stück "McKinsey kommt" und kommt schnell zur eigentlichen Frage: " Woher kommt dieser Hass auf alles Ökonomische, ein Hass, der erst knapp vor der Rechtfertigung eines Mordes halt macht?" Unter anderem sind die Berater auch selbst schuld an ihrem Image als Arbeitsplätze-Vernichter, schreibt Piper, und erinnert sich an einen satirisch-fiktiven McKinsey-Bericht über die Berliner Philharmoniker. "Darin wird zum Beispiel bemängelt, dass die Partitur zu viele Wiederholungen enthalte. 'Es dient keinem sinnvollen Zweck, wenn das Horn eine Passage wiederholt, mit der sich bereits die Geigen beschäftigt haben. Werden alle überflüssigen Passagen eliminiert, dann dauert das Konzert, das jetzt zwei Stunden in Anspruch nimmt, nur noch schätzungsweise zwanzig Minuten, so dass die Pause wegfallen kann ... '"

Der Ethiker Nikolaus Knoepffler verteidigt das Klonen von Menschen. Mit einer einfachen Grundannahme: "Ich habe ernste Zweifel an dem wirklichen Menschsein geklonter Embryonen, denn sie tragen noch kein menschliches Antlitz. Mir machen die Experimente der südkoreanischen Forscher nicht Angst, sondern Hoffnung."

Der Jazzmusiker Klaus Doldinger (Homepage) hofft in seinem Beitrag zur SZ-Serie über die Krise der Musikindustrie auf eine baldige Wende zum Besseren. "Wovon soll denn der Künstler dereinst leben, wenn er weder Royalties für seine Alben noch Gema-Tantiemen für seine Schöpfungen erwarten darf? Was soll aus der Musikindustrie mit all ihren gesellschaftlichen Ausprägungen werden, wenn sie sich, von den Medien bestenfalls süffisant belächelt, selbst entleibt?"

Weitere Artikel: Petra Steinberger leidet mit John Kerry, der verdächtigt wird, einst mit der verhassten Hanoi-Jane gegen den Vietnam-Krieg demonstriert zu haben (Der Stein des Anstoßes ist dieses Foto). Für Alexander Kierdorf zeigt der Einsturz des Moskauer Schwimmbads die Verstrickung von Investoren, Behörden und Stadtregierung. Harald Eggebrecht zweifelt, ob man New York und Chicago wegen der Ökobilanz versetzen sollte. Claus Heinrich Meyer nimmt sich eine Zwischenzeit, um über Alfred Brehm, den "Knigge des Thierlebens" zu sinnieren. Albert von Schirnding schreibt zum Tod des Schriftstellers und Übersetzers Herbert Schlüter.

Joachim Kaiser kann sich nicht so richtig über die allzu glatte "Tristan"-Aufführung in Mannheim freuen. Holger Liebs findet, das hat schon was, wie Berlin sich dem gastierenden Museum of Modern Art an den Hals wirft. Und Johannes Willms besucht den Sammler, Kunstkenner und Autor Heinz Berggruen (mehr) in Paris, aber erst, nachdem er bewiesen hat, dass er den Namenspatron der Rue Guynemer kennt. Natürlich meistert unser Mann die "Gralsprobe". Auf der Medienseite stellt Detlef Esslinger schließlich einen von Schülern entwickelten Anti-Gewalt-Spot vor, der nun im Privatfernsehen läuft.

Besprochen werden eine Berliner Ausstellung über die digitale Poesie, Mike Figgis' Horrorfilm "Cold Creek Manor" und einige Bücher, darunter Aleksandar Tismas "großartige" Tagebücher "Reise in mein vergessenes Ich" sowie Helmut Schümanns Überlebens-Handbuch für Eltern "Der Pubertist" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 17.02.2004

Milo Rau diskutiert die neueste Inszenierung der "Zeugen" des Regiekollektivs Rimini Protokoll, das den Alltag in Gerichtssälen "still und unangestrengt" rekonstruiert hat: "Tatbestände werden aufgerollt, das Behauptete wird gegen das Wahrscheinliche abgewogen, aus dem Strafgesetzbuch wird zitiert. Immer von neuem wird die Linie zwischen echt und erfunden abgegangen, bis sie im (ausgesparten) Urteil zum Verschwinden kommt." Rau ist begeistert von diesem dokumentarischen Theater neuen Zuschnitts, "denn unter dem Zugriff von Rimini Protokoll wird alles zugleich real und verdächtig. Nicht eine vorgegebene Dramaturgie sichert die Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit, sondern der Beobachter selber wird zum Spezialisten, der den Kriterien für Authentizität und Inszenierung auf die Spur kommen muss."

Weitere Artikel: Jutta Scherer erinnert an den sowjetischen Gulag und empfiehlt dringend einen Blick in die Bildbände des russischen Fotografen Juri Brodski und des Polen Tomasz Kizny. Angelo Garovi stöbert die historischen Quellen für Schillers "Wilhelm Tell" auf (leider nur in der Druckversion) und Joachim Güntner meldet den Appell von fünfzig Rechtsprofessoren gegen die Rechtschreibreform

Besprochen werden Bücher, darunter Michael Stolleis Metapherngeschichte "Das Auge des Gesetzes" und Adam Hasletts Erzählband "Das Gespenst der Liebe" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 17.02.2004

Der Algerien-Krieg wird in Frankreich immer offener diskutiert, in Paris ist nun eine Fotoausstellung angelaufen, deren Schwerpunkt auf den seltenen nichtfranzösischen Aufnahmen liegt. Beeindruckt haben Martina Meister in erster Linie die wenigen Bilddokumente von algerischer Seite. "Die Qualität dieser Fotos ist indes oft so miserabel, dass sie ohne Legende gar nicht zu dechiffrieren wären. Eine verschwommene Aufnahme etwa, aus sicherer Ferne aufgenommen, zeigt eine Reihe Menschen wie in einem Trauerzug. Die Legende verrät den Horror: Es sind Dorfbewohner, die von den französischen Militärs über einen verminten Weg geschickt werden. Ein zweites Foto, das eine mögliche Explosion zeigen könnte, gibt es nicht."

Weitere Artikel: Ulf Erdmann Ziegler stolpert über David Denbys Besprechung des Bertolucci-Films "Die Träumer" im New Yorker (leider schon vom Kollegen verdrängt) und muss schmunzeln. "Denby glaubt im Ernst, Bertolucci versuche uns mit seinem jüngsten Film 'zu schocken'. Offenbar hat er nicht den Hauch einer Ahnung, wie alt Europa wirklich ist." Reinhart Wustlich besichtigt das AOL Time Warner Center in New York (mehr), für das der Ground-Zero-Aufbauleiter "Mr. Childs" vergiftete Komplimente erntet. Johannes Wendland fasst Michael Geyers Berliner Vortrag über den Endkampf als konstituierendes Element des Nationalismus zusammen. Michael Tetzlaff wettert in Times mager gegen Kollegen, die nichts Besseres zu tun haben als in der Vergangenheit von Sibel Kekilli herumzuwühlen, die Hauptdarstellerin aus Fatih Akins "Gegen die Wand". Gemeldet wird, dass das Theaterfestival von Avignon diesmal eine recht deutsche Veranstaltung wird und dass Russlands stellvertretende Kulturministerin Natalja Dementjewa sich für eine Rückgabe von Beutekunst an Deutschland ausgesprochen hat.

Auf der Medienseite diskutiert Tilmann P. Gangloff die These eines Soziologen, der die Journalisten für die Politikverdrossenheit verantwortlich macht. Es werde einfach zu negativ berichtet, wie in der Weimarer Republik. "Auch damals hat eine konsequent negative Berichterstattung dazu geführt, dass die Deutschen Politik nur noch als schmutziges Geschäft mit unfähigen Protagonisten betrachtete."

Besprechungen widmen sich einer Ausstellung mit Geschichten rund um das Essen im Strauhof Zürich, Rolf Hochhuths Stück "McKinsey kommt" in Brandenburg an der Havel und Büchern, nämlich Gerhard Werles "juristisch genauem" Werk über das "Völkerstrafrecht" sowie David Grossmanns Appell an Israelis und Palästinenser "Diesen Krieg kann keiner gewinnen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.02.2004

Dirk Knipphals macht in einem Kommentar seinem Ekel über die Bild-Zeitung Luft, die gestern mit großen Bildern die Vergangenheit der "Gegen die Wand"-Darstellerin Sibel Kekilli als Porno-Darstellerin ausgeweidet hat: "Dass sie die Story als Aufmacher auf die erste Seite gepackt haben, dass sie sie mit zwei Bildern aus den fraglichen Pornovideos garniert haben, dass sie sie dann auf der dritten Seite noch mal fotografisch groß hochziehen - das alles ist, selbst an Bild-Maßstäben gemessen, nichts anderes als widerlich."

Weitere Artikel: Als Auftakt einer Serie über die Theorie der Pädagogik liefert Dirk Baecker einen stimmigen Einführungsartikel ab, in dem er in soziologischer Mundart den Selbstzweck von Uni und Schule fordert. Christian Broecking hat sich auf der Berlinale mit Genuss die ersten Teile von Martin Scorseses großer, siebenteiliger Bluesserie (mehr) angesehen. Kolja Mensing frohlockt, dass es die gebeutelte Kulturzeitschrift Du noch einmal heldenhaft mit einem Relaunch versucht, also alles in etwa bleibt wie gehabt.

In der zweiten taz kann Christian Fischer in Hülyia "Julia" Sahin (siehe FR von gestern) kein Opfer des Kulturimperialismus sehen.

Besprochen wird einzig und allein eine Kompilation aus Meriwether Lewis' und William Clarks berühmten "Tagebuch" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FAZ, 17.02.2004

Lorenz Jäger begleitet Angela Merkel mit guten Wünschen in die Türkei und stellt klar, dass ein EU-Beitritt dieses Landes allenfalls dem Kalkül der Amerikaner entsprechen würde, denn "der zu erwartende innereuropäische Dauerzwist würde die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft lähmen und sie leichter manipulierbar machen". Dieter Bartetzko stellt den siegreichen Entwurf der Coop Himmelb(l)au für das Gebäude der Europäischen Zentralbank in Frankfurt vor, das er als "zwei wie von Riesenfäusten verdrehte kristalline Prismen" beschreibt. Christian Geyer mokiert sich in der Leitglosse über Pläne Otto Schilys, aktuelle Fahndungsdaten per SMS unters Volk zu bringen. Michael Jeismann gratuliert Christoph Stölzl zum Sechzigsten. Gustav Falke war nicht zufrieden mit dem vom Friedrich-Meinecke-Institut organisierten Gedenken an den Namensgeber der Institution, wo die "jungen Kläffer" ihm nicht genehmer Professoren die Hauptvorträge hielten. Eleonore Büning macht sich Sorgen um Berlins Rundfunkorchester und Chöre, die in der "Roc" zusammengeschlossen sind - der Senat hat Kürzungen angekündigt, die den Bestand der Organisation in Frage stellen, und Kent Nagano hat seinen Vertrag beim Deutschen Symphonieorchester bereits nicht mehr verlängert.

Hans-Peter Riese hat sich außerdem einen Kongress über Malewitsch in New York zu Gemüte geführt. Caroline Neubauer lauschte einem Vorlesungszyklus zur psychoanalytischen Psychosomatik am Berliner Karl-Abraham-Institut. Monika Osberghaus gratuliert dem Che-Guevara-Biografen Frederik Hetmann zum Siebzigsten.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite setzt sich der ehemalige Bayerische Kulturminister und Vorsitzende des Zentralkomitees der Katholiken in Deutschland Hans Maier mit dem Märtyrer-Begriff in den verschiedenen abrahamitischen Religionen auseinander.

Auf der Medienseite führt uns Patrick Bahners in die letzte Staffel der Serie "Sex and the City" ein, die heute anläuft. Christian Schubert berichtet über den fortdauernden Clinch der britischen Regierung mit der BBC. Und Michael Hanfeld berichtet über Pläne der ARD, ihre terrestrischen Frequenzen zu verkaufen.

Auf der letzten Seite beschwert sich der Germanist Heinz Rölleke über die didaktische Zurichtung und Kürzung klassischer Texte der Literatur für den Deutschunterricht. Regina Mönch hat einem munteren Spendenjahrmarkt für das notleidende Berliner Naturkundemuseum beigewohnt. Ilona Lehnart porträtiert die neue Generaldirektorin der Berliner Staatsbibliothek Barbara Schneider-Kempf.

Besprochen werden eine große Dali-Ausstellung in Barcelona und ein "Tristan" in Mannheim.