Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2004. In der NZZ erzählt Christoph Geiser, dass sich das Land Brandenburg statt Autoren lieber Kaninchen hält. In der Welt lanciert der Historiker Norman Stone einen Angriff auf den Historiker Hans-Ulrich Wehler. In der SZ präsentiert Timothy Garton Ash einen Demokratiebauplan für den Irak und die Ukraine. Die FAZ erzählt, wie sich ein Literaturkritiker gegen seine Zeitung wehrt, El Pais. Die taz meint: Hans Magnus Enzensberger will sich schlicht zur Ruhe setzen.

Zeit, 22.12.2004

Die Zeit ist schon in Weihnachtsstimmung. Aufmacher ist Patrick Roths Geschichte "Lichternacht" mit einer Hochzeit, einer großen Liebe und einem Todesfall am Heilig Abend (mehr zu Roth hier)

"Es war ein schreckliches Kinojahr", stöhnt Katja Nicodemus im Rückblick auf die Kassenschlager wie "Passion Christi", "Troja", "Alexander", "Last Samurai" und "Mann unter Feuer": "Die Brutalität des vergangenen Kinojahres war eine selbstgenügsame. Sie stand für nichts und verwies auf nichts." Klaus Harpprecht schwärmt von den österreichischen Brettl-Rappern Des Ano, die sich textlich offenbar durch einen "Mangel an sittlich-politischer Korrektheit" auszeichnen und musikalisch alles können: "Natürlich die österreichische Fiedlerei samt Walzerseligkeit, das Almgejodel und Vorstadtgedudel, den traditionellen Jazz und den Cooljazz, die Klassik sowieso, auch die Alt- und Neutöner des 20. Jahrhunderts."

Claus Spahn vergleicht die drei derzeit in Deutschland laufenden "Carmen"-Inszernierungen und stellt eine seltsame Ähnlichkeit fest: "Nicht mehr Leidenschaftsüberschuss treibt sie in den Tod, sondern der Leidenschaftsgeiz." Peter Kümmel sinniert über den Neustart von Charlie Chaplins "Der Große Diktator" in deutschen Kinos und meint dankbar: "Es tut gut, Hitler, den man so oft als fürchterliches, tiefes Genie sah, nun wieder als wahnsinnigen Kellner zu erleben." Michael Mönninger ist angesichts der Neubaupläne für das Pariser Forum Les Halles versucht, sich nach den Zeiten zurückzusehen, als noch Napoleon III. oder Francois Mitterand solche Entscheidungen über die Köpfe der Commune hinweg trafen. Ivan Nagel nimmt mit einem Nachruf Abschied von seinem Regiekollegen Peter Palitzsch. Mirko Weber verabschiedet die Sopranistin Renata Tebaldi.

Besprochen werden Frank Castorfs Wintermärchen für Coole "Meine Schneekönigin" an der Berliner Volksbühne und Johann Kresniks neue Choreografie zu "Hannelore Kohl" ("Der fantasiebegabte Direktor des surrealen Assoziationstheaters triumphiert hier, auch dank seiner choreografischen Virtuosität, über den linken Moralisten", findet Evelyn Finger).

In einem Essay im Politikteil gibt der Politologe Peter Graf Kielmansegg der Welt die Kantische Verfassung. Drei Absätze umfasst sie, und die, meint Kielmansegg, reichen völlig: "1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. 2. Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gergündet sein. 3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein."

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Eckard Nordhofen Klaus Bergers "Jesus"-Oeuvre. Das Dossier befasst sich mit dem Boulevard.

SZ, 22.12.2004

Das Aktuellste zuerst: Die Süddeutsche meldet online den Tod des Bestsellerautors Dietrich Schwanitz.

"Haben Sie lieber Demokratien als Nachbarstaaten oder Diktaturen? Demokratien, werden Sie antworten, richtig? In wirklichen liberalen Demokratien geht es den Bewohnern besser, und auch ihre Nachbarstaaten profitieren davon." Nur, wie baut man eine Demokratie auf? Der bristische Historiker Timothy Garton Ash nennt sechs Grundregeln, darunter maximale Transparenz, das Heraushalten der Geheimdienste und Verhältnismäßigkeit: "Um eine sicherere Grundlage zu haben, brauchen wir mehr Fakten. 'Fakten sind subversiv', erklärte der große amerikanische Journalist I.F. Stone. Ihre subversive Kraft kann vor allem auch Mythen vom Sturz vergangener Regime entlarven. Worauf wir aber in erster Linie achten sollten, ist unsere Gespür für Angemessenheit. Der Befund österreichischer Ärzte lässt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass versucht wurde, Viktor Juschtschenko, Präsidentschaftskandidat der ukrainischen Opposition, zu vergiften. Jeder, der meint, die Finanzierung von Umfragen sei moralisch gleichzusetzen mit der Vergiftung eines politischen Gegners, gehört auf seine Zurechnungsfähigkeit hin überprüft."

Der russische Politologe Emil Pain beschreibt Auswirkungen des Tschetschenienkrieges, die nicht so offensichtlich sind wie die Zehntausenden von Toten und Millionen verrohter Soldaten: Die Fremdenfeindlichkeit ist enorm angestiegen, im Kreml haben die Offziere wieder die Akademiker abgelöst und mit der so genannten Reform der Regionalverwaltung wurde das föderale System faktisch abgeschafft. Das, fürchtet Pain, lenke die Unzufriedenheit auf den Kreml, statt wie bisher auf regionale Institutionen: "Man spürt heute eine Wiederbelebung der nationalen Eliten - die Intellektuellen sind unzufrieden mit den Kreml-Gesetzen, weil sie die Interessen der nationalen Kulturen knebeln, indem sie etwa nationale Sprachen verbieten, die nicht auf Kyrillisch geschrieben werden. Die Business-Eliten stöhnen über die Korruption (früher verlangten die Beamten Bestechungsgelder, heute wollen sie das ganze Unternehmen). Und die politische Elite, selbst jene, die Putins Reform öffentlich unterstützt, verbirgt nur ihre Wut. Die informelle Elite hingegen gewinnt an Stärke. Sie ist kaum mit den neuen Gesetzen auszusöhnen, aber leicht zu neuem Widerstand aufzuhetzen."

Weiteres: Susan Vahabzadeh sieht auf ein nur mäßig erfolgreiches Hollywood-Jahr zurück: "In Amerika wächst das Kinogeschäft nur noch, weil die Ticketpreise steigen." Alexander Kissler glossiert den Ethikrat, den der Bischof von Westminister, der anglikanische Erzbischof und der britische Oberrabiner für Peking ins Leben rufen wollen. Petra Steinberger berichtet von der Plattform "Kunst und Krieg", die das Goethe-Institut in Tel Aviv, Jerusalem und Ramallah veranstaltete. Christoph Bartmann trauert weiter um die "Andere Bibliothek", deren Ende (bei Eichborn) Hans Magnus Enzensberger gestern eingeläutet hat. Henning Klüver erzählt von den Feierlichkeiten rund um den fünfhundertsten Geburtstag von Michelangelos David. Peter Rumpf war auf einer Diskussion, bei der sich Architekten über Stilfragen unterhielten.

Besprochen werden Oliver Stones Monumentalfilm "Alexander" ("Live fast, die young, das hat nach ihm keiner mehr so überzeugend hingekriegt", findet Tobias Kniebe), Tina Laniks Schnitzler-Inszenierung "Liebelei" am Deutschen Theater Berlin, Bizets "Carmen" an der Semperoper in Dresden, ein Konzert des Pianisten Martin Stadtfeldt im Münchner Prinzregententheater und Bücher, darunter Kurt Bayertz Brevier "Warum eigentlich moralisch sein" und Maria Frises Erinnerungen "Meine schlesische Familie und ich" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 22.12.2004

Auf der Meinungsseite kommentiert Dirk Knipphals Hans Magnus Enzensbergers Rückzug aus der "Anderen Bibliothek": "Der Mann ist 75 Jahre alt. Gerade hat er angekündigt, die von ihm betreute Buchreihe Andere Bibliothek einzustellen. Und alle Welt - Feuilletons, Verlage, Fans, Verächter - wittern sofort einen Schachzug. Keiner fragt sich, ob er sich nicht allmählich zur Ruhe setzen will. Mit Enzensberger im Blick braucht man gewiss kein Methusalemkomplott gegen den vermeintlichen Jugendwahn in unserer Gesellschaft anzuzetteln. Eher müsste man über eine Heraufsetzung des Rentenalters nachdenken."

Auf den Kulturseiten fasst Gerrit Bartels die ganze Geschichte um die "Andere Bibliothek" noch einmal kurz zusammen. Robert Misik porträtiert den umstrittenen Genfer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan und kommt zu dem Schluss: "Sympathisch muss einem Ramadan bei Gott nicht sein. Doch es ist wohl wie immer in Orthodoxien - selbst die Häretiker sind noch gefangen in den Dogmen, die sie langsam aufweichen, sie beginnen als Grenzgänger, und wie sie enden werden, weiß man am Anfang nie. Wenn man den Islamismus nicht nur mit der Polizei bekämpfen, sondern ihm auch mit geistiger Auseinandersetzung beikommen will, dann wird man um Tariq Ramadan als Gesprächspartner nicht herumkommen." In der Rubrik "Modernes Lesen" werden Bücher von Anatol Szerb, Imre Kertesz, Stephen Vizinczey und Deszo Kosztolanyi besprochen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 22.12.2004

Christoph Schröder fasst noch einmal den Streit um Enzensbergers "Andere Bibliothek" zusammen - Enzensberger hatte angekündigt, die Reihe einstellen zu wollen, ohne vorher den Eichborn Verlag darüber informiert zu haben. Mirja Rosenau schreibt den Nachruf auf den Pop-Art-Pionier Tom Wesselmann (hier einige Bilder). In Times Mager amüsiert sich Oliver Herwig über den Münchner Hochhausstreit.

Besprochen werden Jonathan Glatzers Film "Birth" mit einer "grandiosen" Nicole Kidman und Bücher, darunter der "wichtige, unerhörte, ergreifende" Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Thea Sternheim (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 22.12.2004

Einer der letzten Gäste von Schloss Wiepersdorf, das in der Mark Brandenburgischen Einöde stipendierten Künstlern als Gästehaus diente, war der Schriftsteller Christoph Geiser, der sich angesichts der drohenden Schließung wehmütig an seinen jüngsten Aufenthalt erinnert. Er fragt sich, wer wohl nach den Künstlern das Schloss bevölkern wird. "Preisgekrönte Karnickel?! In der Ausstellungshalle der bildenden Künstler nämlich, wo Heidrun ihre heiteren Flugzeuge zeigte, Pawel das Ballett seiner japanischen Autolackier-Roboter und Uwe den Weg zum Stadion, hat sich mittlerweile der Kaninchenzüchterverein des Niederen Fläming eingerichtet. Monster in Käfighaltung, die Vorboten dessen, was womöglich nach uns kommen wird. Mit womöglich poetischen Namen. Zu gewinnen, bei der Schau, ist, als erster Preis, ein Blauer Wiener, der fetteste Braten unter den konsumierbaren Monstern."

Weiteres: Roman Bucheli beklagt das dräuende Ende eines der "aufregendsten und vielfältigsten Verlagsprojekten", der Anderen Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno, weiß aber auch nichts Neues. Samuel Herzog schreibt einen Nachruf auf den Pop-Art-Maler Tom Wesselmann, der am 17. Dezember dreiundsiebzigjährig das Zeitliche gesegnet hat und der den Europäern immer ein wenig zu schrill, zu amerikanisch, zu erotisch war - "kurz zu viel ästhetisches Cholesterol" hatte. Und Marianne Zelger-Vogt stellt die Operetten-Saison der Schweizer Bühnen vor.

Besprochen werden Bücher, darunter eine Studie zu Hölderlins "Hyperion", ein Buch über Zahlen von dem Mathematiker Rudolf Taschner ("spannend wie ein Krimi") und ein "kapitales" Werk über chinesische Schriftzeichen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 22.12.2004

Der in der Türkei lehrende Historiker Norman Stone lanciert einen Angriff auf Hans-Ulrich Wehler, der sich in der Zeit wiederholt (hier 2002) gegen den EU-Beitritt der Türkei aussprach: "Professor Wehler hat einmal einen sehr guten Artikel über die Polen in Deutschland geschrieben. Vor gut einem Jahrhundert wanderten sie in Scharen an die Ruhr aus und konnten sich - anders als die Polen in Frankreich oder Belgien - absolut nicht einfügen. Sie hatten ihre eigenen Kirchen und Klubs, und so ging es - darin ist Deutschland einmalig - von Generation zu Generation weiter, bis schließlich in den fünfziger Jahren polnische Namen massenhaft im Hamburger Fußballverein und im Politbüro der DDR auftauchten. Wehler wollte zeigen, dass der deutsche Umgang mit der polnischen Immigration eine Integration praktisch ausschloss. Derselbe Professor schreibt jetzt in der Zeit, die Türken könnten niemals Teil Europas sein, und wir ahnen schon, was dahintersteckt..."

FAZ, 22.12.2004

Auf der Medienseite erzählt Paul Ingendaay aus Spanien eine hübsche Geschichte über die Macht großer Zeitungen - und die Möglichkeiten des Internets. Es geht um den in Deutschland bei Suhrkamp erscheinenden Autor Bernardo Atxaga, dessen jüngstes Buch in El Pais mit süßlichster Hofberichterstattung bedacht wurde, schon weil es im selben Verlag erschien. Aber dann hat es der Kritiker Ignacio Echevarria ebenfalls in El Pais nach Kräften verrissen. Der Kritiker wurde fortan von der Zeitung geschnitten, bis er im Internet einen offenen Brief schrieb und die Zeitung Selbstkritik leisten musste: "Aus der ganzen Affäre ist mehrerlei zu lernen: welche Gefahren der freien Meinungsäußerung in Zeiten der Konzernverflechtung drohen; wie leicht eine Zeitung ihre Glaubwürdigkeit beschädigen kann; und welche Möglichkeiten das Internet bietet, um die Debatte zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, die von niemandes Gnaden abhängt." Libertad digital! (Hier die Kritik Echevarrias, hier seine "Carta abierta" an El Pais, hier ein Artikel über die Affäre, hier eine "carta abierta" von Autoren, die sich mit dem Kritiker solidarisieren.)

Weitere Artikel: Im Aufmacher des Kulturteils besucht Paul Ingendaay (der Mann mit den zwei Aufmachern) die nordvietnamesische Stadt Dien Bien Phu, die weniger an die große Vergangenheit als an die gloriose kapitalistische Zukunft denkt. Mark Siemons erzählt in der Leitglosse die Geschichte der Dichterin Helga M. Novak, die durch Heirat nach Island, spätere Scheidung und weitere Lebenswirren ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlor und nun um ihr Aufenthaltsrecht fürchtet. Jürg Alwegg meldet, das die Belegschaft des renommierten Pariser Verlags Le Seuil gegen die neuen Eigner in den Streik getreten ist. Rolf Gunter Dienst schreibt zum Tod des amerikanischen Malers Tom Wesselmann. Christian Schwägerl resümiert ein Berliner Symposion über das Verhältnis der Naturwissenschaften zu Bildern. Karol Sauerland erinnert an die polnische Exilzeitschrift Kultura, die schon in Zeiten des Kalten Kriegs zum Entsetzen polnische Nationalisten eine Unabhängigkeit der Ukraine befürwortete.

Auf der letzten Seite schreibt Frank Pergande einen großen Artikel über Geschichte, Baumeister und Renovierung des Schweriner Schlosses. Joseph Hanimann annonciert eine Aufsehen erregende Premiere an der Comedie francaise - Thomas Bernhards "Heldenplatz", morgen Abend. Und Hannes Hintermeier porträtiert Mswati III., den König des bitterarmen und schwer unterdrückten Swasilandes, der zur Freude von Daimler Chrysler einen Maybach gekauft hat.

Besprochen werden Oliver Stones "Alexander"-Film (der den Schlachtenhistoriker Andreas Kilb nur mäßig befriedigte, mehr zum Film hier), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Daniel Barenboim, die Wilhelm Furtwänglers e-moll-Sinfonie gaben (und dabei handelt es sich laut Eleonore Büning keineswegs um "Kapellmeistermusik"), eine neue Choreografie Trisha Browns an der Pariser Oper und zwei Ausstellungen über die Comiczeichner Franquin und Moebius in Paris (mehr hier und hier).