Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2005. In der Welt verteidigt Herfried Münkler den "stilistischen Extremisten" Carl Schmitt. In der FAZ schreibt Dominik Graf eine Hommage auf Jean Eustache. Spiegel Online eröffnet eine Serie über die Politik der Zeitungen im Internet. Die SZ denkt über die "Peinlichkeit" des älteren Mannes in der Rockmusik nach. Und natürlich viele Nachrufe auf Saul Bellow.

Welt, 07.04.2005

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler verteidigt zum zwanzigsten Todestag Carl Schmitt, den Denker des Ausnahmezustands, gegen seine Bewunderer und Verächter: "Schmitt ist ein stilistischer Extremist. Dass er dem Ausnahmezustand einen größeren Erkenntniswert für das Funktionieren der politischen Ordnung beigemessen hat als der Normalität, ist das inhaltliche Pendant dazu. Die Mehrheiten mögen in der Mitte liegen, die Erkenntnis dagegen wächst an den Rändern - wer so denkt, muss auch entsprechend formulieren. Schmitt hat das meisterlich beherrscht. Wie kaum ein anderer hat Schmitt sprachliche Prägnanz als Mittel der Selbstverrätselung genutzt." Und zu Schmitts vielgescholtenem Dezisionismus schreibt Münkler: "Es ist freilich alles andere als zwingend, dass, wie einige Kritiker argumentieren, dieser Gestus der Dezision Schmitt zwangsläufig in die Arme des Nationalsozialismus führen musste. Wenn in Deutschland nach 1933 etwas der Entscheidung bedurfte, dann der Widerstand gegen Hitler. Entscheidungsverweigerung dagegen führte ins Mitläufertum."

FAZ, 07.04.2005

Malte Ludins Dokumentarfilm "2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß" handelt von seinem Vater Hanns Ludin, der einst als blutiger Statthalter der Nazis in der Slowakei waltete und 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, oder genauer, nicht von seinem Vater, sondern von seiner traumatisierten überlebenden Familie. Eva Menasse ist sehr beeindruckt: "Aus diesem Film lässt sich lernen, was der mörderische Wahnsinn des Nationalsozialismus psychisch in den Täterfamilien angerichtet hat und wie das bis heute fortwirkt, das Verschleiern und Lügen und Beschönigen um den Preis der eigenen seelischen Gesundheit."

Auf der Kinoseite schreibt Dominik Graf eine wunderschöne Hommage auf Jean Eustache, dessen Filme gerade in einer Berliner Retroskeptive gezeigt werden. Auch ein Vergleich mit Eric Rohmer anhand von Eustaches großem Film "Die Mama und die Hure" lesen wir: "Man darf sich nicht täuschen: Eustache hat - anders als Rohmer, bei dem die Leute ja auch dauernd reden - außergewöhnlich neurotische und widerspenstige Figuren, keine bourgeoisen Jedermänner. Sie sind Liebesräuber und Straßenköter. Eustaches Figuren bekommen scharfsinnige und pointierte Dialoge zugeschrieben, seine Menschen sind von Anfang an 'bigger than life'. So betritt Leaud in der 'Mama' die Cafes auf der Suche nach seinen Verabredungen immer, als ginge er zum letzten Gunfight im OK Corral."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings nimmt den Bestsellerautor Frank Schätzing ("Der Schwarm") gegen Plagiatsvorwürfe in Schutz, die der Meeresbiologe Thomas Orthmann auf seiner Seite ozeane.de äußert - Kämmerlings bemerkenswertes Argument: "Das Internet ist eben der Ozean des Wissens, und die Weltmeere gehören bekanntlich niemandem." Im Interview mit Yvonne Pioch nennt Schätzing die Vorwürfe "maßlos überzogen". In der Leitglosse spekuliert "boom", welche Farben künftige Revolutionen im ehemaligen Moskauer Einflussgebiet dereinst sonst noch so annehmen könnten (eigentlich alles außer rot). Kerstin Holm schildert das gespannte Verhältnis der russischen Orthodoxie zum Papsttum. Eleonore Büning stellt das Programm des Berliner Musikfests vor, das für September geplant ist. Gemeldet wird, dass der ARD-Vorsitzende Thomas Gruber in Antwort auf einen Artikel Gerhart Baums, der Streichungen im Musikbereich kritisierte, den Unterhalt von Orchestern zur "Kür" innerhalb des Kulturauftrags der Sender zählte.

Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Max Bächer zum Achtzigsten, Jürgen Kaube dem politischen Ökonomen Albert O. Hirschman zum Neunzigsten, Lorenz Jäger dem Filmemacher Werner Schroeter zum Sechzigsten. Paul Ingerndaay schreibt zum Tod von Saul Bellow und Patrick Bahners zum Tod der Historikerin Jenifer Hart.

Auf der Medienseite kritisiert Michael Hanfeld eine lasche Medienaufsicht, die vermeintliche oder tatsächliche Schleichwerbung bei n-tv kaum verfolgt. Und Joseph Croitoru stellt eine israelisch-palästinensische Zeitung vor. Auf der letzten Seite wirft Mittelalterhistoriker Michael Borgolte einen gelehrten Blick auf die Grabstätten der Päpste. Dirk Schümer porträtiert den ehemaligen Bürgermeister der Stadt Venedig Massimo Cacciari, der wieder für das Amt kandidiert. Und Angelika Heinick meldet, dass Mona Lisa wieder auf ihren angestammten Platz im Louvre zurückkehrt.

Besprochen werden eine Max-Ernst-Retrospektive im New Yorker Metropolitan Museum, ein Musical nach den "Drei Musketieren" in Berlin und ein Konzert der Chansonsängerin Annett Louisan in Frankfurt.

NZZ, 07.04.2005

Zum Tod des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Saul Bellow schreibt Romeo Giger (leider nicht online): "Richtig ist, dass Bellow nie ein Gesellschaftskritiker im herkömmlichen Sinn gewesen ist - obwohl seine frühen Romane den Einfluss Theodore Dreisers verraten. Weit wichtiger war ihm das Aufzeigen von Zuständen und Befindlichkeiten, die den heutigen Menschen in jene Orientierungslosigkeit geführt haben, die sich gegen Ende des zweiten Jahrtausends zunehmend abzeichnete. Was diesen tiefsinnigen und unablässigen Sucher nach tragfähigen Werten in einer dem totalen Wertezerfall verschriebenen Welt umtrieb, war nichts Geringeres als die ethische Grundfrage der Menschheitsgeschichte: Wie sollen wir leben, was müssen wir tun?" (Wir weisen noch einmal auf das lange Interview mit Saul Bellow in der neuen Lettre hin. Einen Auszug können Sie hier lesen.)

Online gibt es Rezensionen: Besprochen werden Michael Radfords Verfilmung des "Kaufmann von Venedig" mit Al Pacino als Shylock, alte Aufnahmen von Bach bis Strauß in neuem nostalgiaschen Glanz, Neuaufnahmen von Vivaldi, Aleksander Rowiskis Reportageband über den polnisch-jüdischen Widerstandskämpfer Szmul Zygielbojm "Zygielbojms Reise", Chang-rae Lees Roman "Turbulenzen" und Urs Faes' Roman "Als hätte die Stille Türen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 07.04.2005

In Spiegel Online eröffnet Frank Patalong eine lesenswerte Serie über die Politik von Zeitungen im Internet - selbst die New York Times erwägt Zahlmodelle im Netz: "Stolz und stetig wachsende, aber nach wie vor zweistellige Online-Profite stehen dreistelligen Umsatz- und Profiteinbrüchen im Printbereich gegenüber. Im Klartext: Was eine Medienmarke Online gewinnt, gleicht die Offline-Verluste nicht aus - und das gilt selbst für eine der stärksten Zeitungsmarken der Welt."

Der polnische Publizist Adam Krzeminski veröffentlicht im Perlentaucher einen großen Essay über divergierende Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Europa. War der 8. Mai eine Befreiung? Polen oder Litauer sehen das ein wenig anders: "Der Zweite Weltkrieg hat Europa von Grund auf verändert, aber bis zum heutigen Tag gibt es über ihn nicht die eine europäische Erzählung. Zu verschieden und in sich widersprüchlich sind die Kriegserfahrungen der einzelnen Nationen."

SZ, 07.04.2005

Thomas Steinfeld denkt über die "Peinlichkeit" des älteren Mannes in der Rockmusik nach und landet dabei bei der Band Gov"t Mule, hervorgegangen aus den Allman Brothers. "...der Maulesel, das unfruchtbare, störrische, langsame, aber unendlich nützliche Lasttier, ist ihr Wappentier, und ihre Musik, zwischen weißem Blues, Soul, geradem Rock und ein wenig Jazz changierend, ist das Beste, was nach dem Ende der heroischen Periode in der populären Musik in diesen Genres hervorgebracht worden ist. Es ist die klassische Form des Rock, und die Gruppe spielt sie weiter im Bewusstsein, dass sie gegen das Auge wird antreten müssen: Sehr vollschlank ist der Gitarrist und Sänger Warren Haynes, die Haare hängen lang, und wenn im Sommer im Freien Musik gemacht wird, wölbt sich der Bauch über bleichen Stachelbeinen in kurzen Hosen. In der Stimme von Warren Haynes aber drängt ein süßer Schmerz, der Tanksäulen zum Heulen bringen könnte." Die Jungen, wie Adam Green, The Strokes oder Franz Ferdinand, kommen "gegen die Musik der Alten, von Alten gespielt, nicht an, denn diese besitzt, gleichermaßen unverdient, den Vorteil, dass man von ihr in Gestalt von Lebensläufen erzählen kann."

"Er, der scharfe Kritiker des American Way of Life, hat nie daran gezweifelt, dass der amerikanische Traum, wie er von den Gründervätern formuliert wurde, zumindest prinzipiell verwirklicht worden war," schreibt Kristina Maidt-Zinke zum Tod des amerikanischen Literaturnobelpreisträgers Saul Bellow. "Die scharfen Worte, mit denen Günter Grass ihn beim New Yorker Pen-Kongress von 1986 angriff, dürften an dieser Überzeugung nichts geändert haben. Und es lässt sich nicht leugnen, dass sich für ihn erfüllte, was sein Vater ihm vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten vorgeschwärmt hatte, als er aus Russland eingewanderte."

Weitere Artikel: Der Historiker Horst Fuhrmann erläutert das Prozedere der Papstwahl. Jana August und Hanns Zischler befassen sich mit der ausgesprochen diskursrelevanten Flugschau in Brescia (mehr) am 11. September (!) 1909, an der auch Franz Kafka und Max Brod teilnahmen. Deshalb druckt die SZ außerdem kurze Auszüge aus zwei konkurrierenden Reportagen von Kafka und Brod. Andrian Kreye trauert um das New Yorker Luxus-Hotel "Plaza", das Ende April geschlossen und in Luxus-Eigentumswohnungen parzelliert werden soll. Und Sabina Griffith berichtet über Plagiatsvorwürfen gegen Frank Schätzing und seinen Bestseller "Der Schwarm".

Besprochen werden Istvan Szabos Film "Being Julia", ("ein Film mit doppeltem Boden"), Jack Polsons Gruselfilm "Hide And Seek" und Bücher, darunter Hans Christoph Buchs Roman "Tanzende Schatten oder Der Zombie bin ich" und Schriften des "furchtbaren" Carl Schmitt, den Stephan Schlak anlässlich seines heutigen 20. Todestages nicht ohne Unbehagen als "Fürsprecher antiimperialistischer Sektierer" auf den Buchmarkt zurückkehren sieht (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.04.2005

Wo steht eigentlich der Feminismus, fragt sich Nancy Frazer, zur Zeit Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg. "Die Geschichte des Feminismus wird meist als eine des Fortschritts entworfen: Eine separatistische Bewegung in den Siebzigerjahren - dominiert von weißen, heterosexuellen Mittelschichtfrauen - entwickelte sich hin zu einem eher integrativen Konzept in den Neunzigern, das die Belange von Lesben, von farbigen oder armen Frauen und Angehörigen der ArbeiterInnenschicht einschließt. Diese Geschichtsschreibung versäumt es aber, die Entwicklungen innerhalb des Feminismus zu der breiteren historischen Entwicklung in Beziehung zu setzen." Aus Frazers Sicht befinden sich besonders amerikanische Feministinnen in der ideologischen Sackgasse, weshalb sie eine Erweiterung des Aktionsrahmens unter anderem auf Herrschaftsbedingungen der globalen Wirtschaft und ausbeuterische Handelsbedingungen fordert.

"Es wäre naiv, zu glauben, der Erfolg all dieser 'echten' Bands, deren Alben seit einigen Monaten die Charts verstopfen, sei eine quasi natürliche Reaktion auf den 'Deutschland sucht den Superstar'-Fabrikpop", räumt Tobias Rapp mit entsprechenden Selbstdarstellungen von deutschen Bands wie "Wir sind die Helden" auf. "Natürliche Reaktionen gibt es in der Wirtschaft nicht. Hier bastelt sich das gutwillige weiße und deutschstämmige Bürgertum ein Welterklärungsmodell, in dem die nicht immer weiße und nicht immer deutschstämmige Unterschicht nur als Objekt vorkommt."

Weiteres: Gar auf der Seite 1 meldet die taz eine neue, "trostlose" Wendung im Drama Rolf Hochhuth. Demnach hat Hochhuth eine ausgesprochen hässliche Bemerkung verbreitet, die Alfred Grosser angeblich über den Zentralratsvorsitzenden Paul Spiegel gemacht haben soll, was Grosser jedoch bestreitet. Gerrit Bartels verabschiedet den meditierenden Metaphysiker und genauen Beobachter amerikanischer Lebensweise Saul Bellow. Besprochen werden Terry Georges Film "Hotel Ruanda" (der Cristina Nord befremdete, weil sie den Schrecken dessen, was 1994 in Ruanda geschah, in den effizienten Erzählmustern des Unterhaltungskinos aufgehoben fand), Hirokazu Kore-Edas Film "Nobody knows" und James L. Brooks' Sozialkomödie "Spanglish".

Und Tom.

FR, 07.04.2005

"Der aufgebahrte Tote, den man gut zu kennen meinte, entfaltet auf einmal eine Fremdheit, von der ein letztes Mal Macht auszugehen scheint", schreibt Harry Nutt in Times Mager zu den Bildern aus dem römischen Petersdom. "Das Liegen zeigt aber bereits einen Zustand der Schwebe an.Vielleicht ist darin einer der Gründe für die massenhafte Empathie zu suchen, die der tote Papst nun evoziert. Wann war zuletzt so häufig und völlig ironiefrei von der Jugend der Welt die Rede?"

"Bevor er geht und uns wirklich ganz verlässt, werden seine Hauptwerke sicher noch eine lange Zeit bleiben", ruft Hans-Klaus Jungheinrich dem amerikanischen Literaturnobelpreisträger Saul Bellow nach.

Weitere Artikel: Christian Broecking berichtet vom Cape Town International Jazz Festival 2005. Hans-Jürgen Linke freut sich über den Frankfurter Musikpreis für den Komponisten György Ligeti. In der FR-Plus feiert Christian Schlüter den schwedischen Gitarristen IA Eklundh. Tim Gorbauch befasst sich mit den deutschen Swinglegenden Hugo Strasser, Paul Kuhn und Max Greger, für die der Jazz ein Gegenentwurf zum Tausendjährigen Reich war, das sie als Jugendliche in den Krieg schickte.

Besprochen werden die Ausstellung "Über Schönheit" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin, zwei Filme über Kathastrophenbewältigung: Terry Georges Film "Hotel Ruanda" und Hirokazu Kore-edas Film "Nobody Knows" über das Sterben eines Kindes (nach Ansicht von Daniel Kothenschulte eines "der bleibenden humanistischen Zeugnisse des Kinos überhaupt"), sowie Istvan Szabos gelungene Komödie "Being Julia".