Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2005. In der taz klärt Greil Marcus über die "unsichtbare Republik" der Folksongs auf. In der FAZ erfahren wir, wie reformistische Politiker im Iran peinliche Interviewfragen beantworten. Die FR stöhnt über Globalisierung - jetzt auch in der Kunst. Und die SZ diskutiert über Fotografie: Egal ob digital oder analog, es gibt heute so viele schöne Bilder wie nie.

NZZ, 13.06.2005

Der Dirigent Ingo Metzmacher und der Regisseur Peter Konwitschny blicken im Gespräch mit Marianne Zelger-Vogt auf ihre siebenjährige Zusammenarbeit an der Hamburgischen Staatsoper zurück. Konwitschny gesteht, dass es für ihn ein Abenteuer gewesen war, als Metzmacher ihn 1997/98 nach Hamburg rief: "Es war für mich, wie wenn man in den Wilden Westen gehen und dort zusammen eine Bude eröffnen würde." Und Metzmacher, der sich am 18. Juni mit Wagners "Lohengrin" als Generalmusikdirektor aus Hamburg verabschiedet, habe schon vor drei Jahren gewusst: "'Lohengrin' wird meine letzte Vorstellung sein. Es wird sehr traurig sein."

Stefan Weidner war auf einer Tagung deutscher und arabischer Poeten in Rabat. Man las sich gegenseitig Gedichte vor und versuchte sie zu übersetzen: "Der Gesprächsbedarf, weit davon entfernt, schon befriedigt zu sein, ist gerade erst wirklich entdeckt worden. Es ist eine Entdeckung, die für beide Seiten spannende, ja vielleicht aufwühlende Erkenntnisse verspricht. Unter den vielen Dialog- und Begegnungsmodellen, mit denen man seit dem 11. September 2001 experimentiert hat, kristallisiert sich dieses vermeintlich elitärste überraschend als das vielversprechendste und produktivste heraus. Und ganz nebenbei beweist es einmal die große Nützlichkeit der Poesie."

Weiteres: Claudia Schwartz schreibt über die Ausstellung "1945 - Der Krieg und seine Folgen" in Berlin und findet es "in Anbetracht der derzeit im Osten verstärkt auftretenden neonazistischen Kräfte ... fragwürdig, die ideologisch geprägte Vergangenheitspolitik der DDR so leichtfertig als historisch abgeschlossen erscheinen zu lassen." Kersten Knipp ärgert sich über Viktor Farias, dessen Antisemitismusvorwürfe gegen Allende sich als haltlos erwiesen hätten.

Besprochen werden außerdem eine Schau zu Leben und Werk des Architekten Robert Mallet-Stevens im Centre Pompidou und eine Inszenierung von Bizets "Carmen" in Lausanne.

FR, 13.06.2005

Die Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gehen an den Bildhauer Thomas Schütte und den französischen Pavillon von Annette Messager, doch drängt es Elke Buhr an die Peripherie - in Venedig und global. "Wer immer geglaubt hat, nach all den Seminarveranstaltungen zu Postkolonialismus, Sex und Gender, die ihren Höhepunkt in der letzten documenta fanden, könne sich die Kunst jetzt wieder in Ruhe ihrer Wertsteigerung widmen, muss sich in Venedig getäuscht sehen. Mit Macht spült die Globalisierung neue Mitspieler herbei, und spätestens wenn jetzt nicht nur China, sondern auch Indien seine erste Dependance in der Stadt eröffnet, erscheint das sorgfältig eingezäunte Biennale-Gelände mit den etablierten Länder-Pavillons wie eine Festung aus einer anderen Zeit."

Weiteres: Ina Hartwig begrüßt Brigitte Kronauers Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis (hier ihre jüngsten Stücke). In den Hamburger Querelen um die geplatzte Verleihung des Irmgard-Heilmann-Preises an den Literaturreferenten und Romancier Wolfgang Schömel stellt sich Frank Keil auf dessen Seite. Rolf Paasch fasst eine Tagung zu Antisemitismus in Osteuropa zusammen, auf der unter anderem der polnische Soziologe Ireneusz Krzeminski und der ungarische Schriftsteller György Dalos diskutierten. Peter Michalzik macht Times mager zum Wörterbuch, mit Einträgen von Arbeitslosigkeit bis Gesamtkonzept. Im Medienteil gratuliert Günter Frech der Zeitschrift mare zur respektablen 50. Ausgabe.

Zwei Besprechungen: Kathrin Rögglas von Schorsch Kamerun inszeniertes Stück "draußen tobt die dunkelziffer" auf den Wiener Festwochen ("eine Extra-Light-Version des Schlingensiefschen Theateraktionismus", schimpft Stephan Hilpold) sowie das Konzert der Metal-Veteranen von Black Sabbath in Dortmund ("Es hat sich ausgedient, ein für allemal", seufzt Jürgen Roth).

TAZ, 13.06.2005

Der Popjournalist Greil Marcus, der ein ganzes Buch über Bob Dylans "Like a Rolling Stone" geschrieben hat, klärt Max Dax über die "unsichtbare Republik" der Folksongs auf. "Die offizielle Geschichte Amerikas, wie wir sie in den Schulbüchern nachlesen können, ist eine Geschichte gebauter Städte, Brücken und Straßen, gewonnener und verlorener Wahlen und Schlachten. In der Tradition der amerikanischen Ballade ist die Geschichte Amerikas eine andere. Statt von den Präsidentschaftswahlen zu singen, sang man von den Attentaten auf die Präsidenten. Was zählte, waren die Brüche in der Kontinuität von Geschichte. Denn die Menschen damals liebten das Drama, und ihre Songs waren wie kleine Theaterstücke, doch blieben sie stets vage und mysteriös, sie erzählten nie die ganze Geschichte."

Weiteres: Jenni Zylka weicht der Band Queens of the Stone Age einen Tag lang nicht von der Pelle. Max Annas und Annett Bush erzählen die Geschichte der "Afro Salseros" aus dem Senegal und preisen die nun durch Deutschland tourende Band als einen der Höhepunkte des Musiksommers. In der zweiten taz trifft Waltraud Schwab auf dem Festival für junge Politik in Berlin erstaunlich viele Unpolitische. Gabriele Lesser freut sich, dass die polnische Schwulen- und Lesbenbewegung trotz Gegenwind und Verbot ihren Christopher Street Day erfolgreich hat abhalten können. Susanne Lang lässt sich von Gesellschaftsreporter Paul Sahner die politische Zukunft deuten. Und taz-Kronjurist Johnny Eisenberg hält den Bundespräsidenten in seiner Kolumne durchaus für kritikfähig.

Besprochen werden der "überzeugende" Auftritt von Ariane Mnouchkine und ihrem Theâtre du Soleil mit dem Stück "Le Dernier Caravanserail (Odyssees)" in Berlin und Dan Grahams "kurze aber energische" Multimedia-Rockoper "Don't Trust Anyone Over 30" an der Berliner Staatsoper.

Schließlich Tom.

FAZ, 13.06.2005

Im Iran ist Präsidentschaftswahlkampf, und Amir Hassan Cheheltan gibt folgenden Dialog wieder: "Wird .. ein reformistischer Kandidat, der die islamische Moderne im Land verwirklichen möchte, in einem Interview der Nachrichtenagentur der Islamischen Republik gefragt: 'Ist das Tragen eines Barts für die Leiter staatlicher Behörden zwingend vorgeschrieben?', so antwortet er: 'Ich kenne keine diesbezügliche Verordnung.' Seine Antwort auf die Frage, ob er je eine Krawatte getragen habe, ist negativ, und fragt man ihn: 'Sind Sie mit dem Verbrennen der amerikanischen Flagge am Jahrestag der Botschaftsbesetzung und Geiselnahme der Amerikaner einverstanden?', so antwortet er: 'Meines Erachtens gibt es noch sehr viel bessere Lösungen als diese.'"

Weitere Artikel: Werner Spies gratuliert im Aufmacher Christo und Jeanne-Claude, die sinniger Weise auch noch am selben Tag Geburtstag haben, zum Siebzigsten. "flf" sinniert in der Leitglosse über die romantischen Benennungen von Autobahnparkplätzen. Heinrich Wefing resümiert eine Berliner Diskussion, in der ein Verfassungsrichter davor warnte, "sich allzuviel von der Aufnahme einer Staatszielbestimmung der Kultur ins Grundgesetz zu versprechen, wie sie eine große Koalition von Kulturpolitikern gerade angeregt hat". Gemeldet wird, dass der Bildhauer Thomas Schütte und die französische Künstlerin Annette Messager für ihre Werke Goldene Löwen der venezianischen Kunstbiennale erhalten haben. Der Soziologe Tilman Allert beklagt, dass sowohl die Sozial-, als auch die Christdemokraten eine "rücksichtsvolle Institutionenpolitik" vermissen lassen. Jordan Mejjias liest amerikanische Kulturzeitschriften, die sich mit den politischen Verhältnissen in Hollywood auseinandersetzen. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des argentinischen Autors Juan Jose Saer.

Auf der Medienseite erinnert sich der CNN-Korrespondent Nic Robertson an dreißig Kilo schwere Satellitentelefone, mit denen er zur Zeit des ersten Irakkrieges arbeiten musste, und freut sich über technologische Entwicklungen, die ihm die Arbeit und das Gepäck entschieden erleichtern. Jürg Altwegg meldet die Freilassung der französischen Reporterin Florence Aubenas und ihres irakischen Dolmetschers Hussein Hanoun al-Saadi, für die die französische Regierung angeblich 15 Millionen Dollar bezahlt haben soll. Und Michael Hanfeld berichtet nochmals von der Programmreform der ARD, welche die "Tagesthemen" um eine Viertelstunde vorziehen und die politischen Magazine dafür um eine Viertelstunde kürzen will.

Auf der Schallplatten- und Phonoseite, die wegen des Druckerstreiks an diesem Montag nachgereicht wird wird, geht es um eine CD der Band White Stripes, um den Cellisten David Geringas, um Aufnahmen französischer Lieder mit Susan Graham und um die britische Band Savoy Grand. Und Eleonore Büning erinnert an die aussterbende Art der Soubrette.

Auf der letzten Seite zeigt sich Andreas Platthaus beeindruckt vom Debattenniveau der Jugend beim Wettbewerb "Jugend debattiert". Und Andreas Hoffmann knüpft an die Person des neuen Kölner Kulturdezenerten Georg Quander Hoffnungen auf eine Professionalisierung der Kölner Kulturpolitik.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Kurt Vonneguts Roman "Schlachthof 5 " in Hannover, Richard Wagners kompletter "Ring" in der Dschungeloper von Manaus, Garth Jennings' Verfilmung von Douglas Adams' Roman "Per Anhalter durch die Galaxis" und einige Sachbücher, darunter ein prächtiger Bildband über die Geschichte des Punk.

SZ, 13.06.2005

Anfang 1940 versuchten nationalsozialistische Funktionäre vergeblich, die deutschen Juden in die Sowjetunion abzuschieben, wie der zur Zeit in Freiburg lehrende Historiker Pavel Polian aus neuen Dokumenten erfahren hat. Die bisher unbekannte Initiative liegt zeitlich zwischen der gescheiterten Deportation nach Nisko und dem Madagaskar-Plan, die Gründe für die Absage Stalins liegen "in der Spionomanie des Regimes, im Misstrauen gegenüber den Massen jüdisch-kapitalistischer Umsiedler aus kapitalistischen Ländern, und in der ernormen Dimension, die Berlin für die Umsiedlung vorgesehen hatte".

Droht das Ende der klassischen Fotografie, titelt die SZ mit alarmierendem Unterton, um gleich darunter wieder Entwarnung zu geben. Egal ob digital oder analog, es gibt heute so viele schöne Bilder wie nie, meint Alexander Hosch, der im Aufmacher einen weiten Kunstbegriff pflegt. "Millionen von Knipsern befreien sich jeden Tag mit einer radikalsubjektiven Geste von der Diktatur des guten Bildaufbaus. Sie schaffen Fotos, die auf eine ganz andere Weise schön sind." Claus Heinrich Meyer gibt sich im Artikel darunter schon konservativer. Im besten und kreativsten Fall gesteht er der digitalen Fotografie ein "hohes Maß an Künstlichkeit, Surrealismus" zu. Ansonsten glaubt er, man wird sich bald nach der analogen Fotografie zurücksehnen.

Weitere Artikel: Andrian Kreye gratuliert dem Verpackungskünstlerpaar Jeanne-Claude und Christo zum jeweils Siebzigsten. Im letzten Teil der Serie über das Verhältnis von Frauen und Männern spricht Dirk Peitz mit dem nächsten Künstlerehepaar, Michaela Melian (Bilder)und Thomas Meinecke (Bücher). Melian entdeckt einen neuerlichen "Trend zum Sofabild", ihr scheint es, als ob "erneut nur Männer die Wohnzimmerwände dekorieren dürfen". Klaus Lüber berichtet von einer Münchner Tagung zur Bedeutung des Gartens im Haus der Gegenwart. Auf der Medienseite informiert Klaus Ott über die geplante Gebührenklage der ARD, die die Landesregierungen mit einer konzertierten Aktion verhindern wollen, wie jetzt bekannt wurde. Senta Krasser sorgt sich um das wuchernde und schwer zu kontrollierende Geschäft mit Klingeltönen für Mobiltelefone.

Besprochen werden Nicolas Stemanns im Zentrum "nicht stimmige" Bühnefassung von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug", die in Hannover aufgeführt wurde, Armin Petras' Inszenierung von Ibens "Wildente" am Schauspiel Köln, der Thomas Thieringer einen "großen dramatischen Zug" bescheinigt, Paul McCarthys "mehr als gelungene" Umgestaltung des Münchner Hauses der Kunst in ein temporäres "Lala land parodie paradies", Tamara Wyss' Film "Die chinesischen Schuhe" über eine Reise auf dem Jangtse kurz vor dem Staudammbau, und Bücher, darunter Francois-Rene de Chateaubriands "Geist des Christentums", eine "grandiose Verteidigung" des christlichen Glaubens als Religion der Schönheit, Dea Lohers Erzählband "Hundskopf" sowie Michael Turners Roman "Das Gedicht des Pornographen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).