Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2005. In der FAZ erklärt die stellvertretende Gesundheitsministerin von China Zhao Baige, wie sie die demografischen Probleme des Landes lösen will. Die taz besucht die Kulturszene in Minsk. In der SZ bespricht Kurt Flasch das Heidegger-Buch von Emmanuel Faye und stellt die Frage: Wie nationalsozialistisch ist Heiddeggers Philosophie? Wir verlinken außerdem auf einige Reaktionen zum Freispruch Michael Jacksons.

TAZ, 14.06.2005

Weißrussland mag die letzte Diktatur in Europa sein. Aber die Kulturszene ist außerordentlich aktiv, erzählt Ingo Petz, der Minsk besucht hat. "Die offiziellen Bühnen und Medien sind der weißrussischen Kultur versperrt. Freie Blätter werden verboten, unter neuem Namen wieder gegründet, wieder verboten, wieder gegründet. 'Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel', sagt Sjarhej Sacharau, Chefredakteur einer bekannten Studentenzeitschrift. 'Wie oft musste ich mir anhören, dass es unsittlich sei, was wir in unserem Blatt machen.' Er hat einen eigenen Weg, neben der direkten politischen Konfrontation gefunden, um Kritik zu thematisieren. 'Wenn dir von Politikern gesagt wird, mit wem man schlechten Sex hat, mit wem man guten Sex hat, dann ist jeglicher kritischer Ausfall gegenüber dieser missionarischen Haltung eine Aktion des Protests. Und das ist natürlich cool - das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden: Sex zu haben mit wem und wie man will, wissend, dass du damit gegen die Politik Lukaschenkos vorgehst. Wir nennen das deshalb: Revolution 69!' Nicht alle sind so kreativ. Für andere ist der Kampf der Kultur ein frustrierender, zermürbender - wie für den hoch begabten Dichter Anatoli Syz. Irgendwann beschloss er, sich zu Tode zu trinken. Vor ein paar Wochen hat er dieses Ziel erreicht."

Weitere Artikel: Helmut Höge war bei einem Vortrag des Cyberspace-Juristen und Stanford-Professors Lawrence Lessig über die Open Source Bewegung und Copyright. Robert Misik berichtet über ein Künstlerduo, das in einer Wiener Einkaufsstraße alle Logos und Werbung überklebt hat: "Schwer hatte es das Künstlerduo nicht, die Geschäftsleute der Straße dazu zu bringen, alle ihre Werbeaufschriften überkleben zu lassen. Denn das Verbergen der Werbung, das haben die Krämer verstanden, ist die ultimative Werbung. Die Straße 'wird auf eine spektakuläre Weise neu wahrgenommen' (Steinbrener), die Leute pilgern hin, der Blick richtet sich auf die Waren. Und dann wird gekauft." Michael Rutschky führt die Reihe "Rot-Grün, wir danken dir" in die elfte Runde. Und Thomas Hartmann berichtet über einen von der Bertelsmann-Stiftung ausgerichteten Wettbewerb der Gemeinden um die besten kommunalen Rezepte zur Integration von Migranten.

Schließlich Tom.

Weitere Medien, 14.06.2005

Michael Jackson ist freigesprochen worden - zu spät, als dass unsere Zeitungen reagieren konnten. Hier der Artikel in Spiegel Online. Auch die New York Times berichtet. Hier außerdem ein ziemlich seltsamer Kommentar in der Washington Post: "Move to Europe, Michael. They still love you in Europe." Die CNN-Website hat einige Reaktionen zusammengetragen.

FAZ, 14.06.2005

Christian Schwägerl hat in Berlin die "Bevölkerungsarchitektin Chinas", die Vizeministerin für Gesundheit und Chefin der Familienplanungskommission Zhao Baige getroffen, die auf die Fragen des Reporters erstaunlich liberal antwortet. Die Ein-Kind-Politik solle gelockert werden, die schiere Bevölkerungszahl sei auch nicht länger das größte Problem, schlimmer seien demografische Fragen wie "die Vergreisung des Landes sowie das verzerrte Geschlechterverhältnis. Hundert Mädchen auf hundertsechs Jungen ist das Zahlenverhältnis in westlichen Ländern. In China liegt der Schnitt bei hundertsiebzehn Jungen, der Wert für das zweite Kind sogar bei mehr als hundertfünfzig Jungen auf hundert Mädchen. Das bringt ein gefährliches Ungleichgewicht hervor, die Gefahr von Unruhen durch eine Masse unzufriedener Männer."

Weitere Artikel: In der Leitglosse mokiert sich Hubert Spiegel über den Literaturpreis der Irmgard-Heilmann-Stiftung, mit dem Hamburger Schriftsteller ausgezeichnet werden und der in diesem Jahr an Wolfgang Schömel, Mitglied im Vorstand der Irmgard-Heilmann-Stiftung ging, bis dieser den Preis lieber wieder zurückgab. Friedmar Apel gratuliert dem Schriftsteller Dieter Forte zum Siebzigsten. Andreas Rossmann verfolgte Rezitationen des Lyrikers Marcel Beyer bei den vom Literaturbüro Detmold ausgerichteten "Wegen durch das Land". Thomas Wagner gratuliert Jörg Immendorff zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite erzählt Jürg Altwegg, wie sich die Zeitung Liberation für die Solidaritätskampagnen für ihre Journalistin Florence Aubenas bedankte - und er berichtet, dass die Gerüchte über einen millionenschweres Lösegeld nicht verstummen.

Auf der letzten Seite schreibt der Staatsrechtler Ingo von Münch, Autor des Buchs "Promotion", über eine "Inflation des Dr. h.c." an deutschen Universitäten. Von Rainer Hermann erfahren wir, dass Hitlers "Mein Kampf" zur Zeit auf den türkischen Bestsellerlisten steht und dass antisemitische und antiamerkanische Töne in der Türkei immer lauter würden. Und Elmar Schenkel erinnert an H.G. Wells, dessen "Krieg der Welten" gerade von Steven Spielberg verfilmt wurde.

Besprochen werden ein Konzert der Stadionband "U2" in Gelsenkirchen, die große "Brücke"-Ausstellung in Berlin und ein Konzert Rod Stewarts in Frankfurt.

FR, 14.06.2005

Den "Machern" der Bundesgartenschau in München gilt die Messestadt Riem "als Zukunftsmodell schlechthin, ökologisch, nachhaltig, clean. Bis 2013 sollen Wohnungen für 16.000 Menschen entstehen und Gewerbebau mit 13.000 Arbeitsplätzen", schreibt Rudolf Maria Bergmann. Doch die geplante Architektur findet er abscheulich. "Ein paar verirrte Solitäre gibt es, aber in der Regel: monotone Wohnzeilen, fade Fassaden, billige Materialien, öde Grundrisse. Aufgemöbelte Plattenbausiedlungen sehen so aus. Keine Spur von hoher Verdichtung, Stadt-Gewerbe über die Landschaft gestreut. Keine Spur von Urbanität, von vorbildlichen Wohnmodellen, kein Schimmer von Zukunft, kein Garten Eden. Nur noch eine pseudoökologische, verkorkste Schlafburg, ein Sanierungsgebiet von morgen."

Weiteres: Ursula März gratuliert dem Schriftsteller Dieter Forte zum Siebzigsten. In Times Mager gibt Hilal Sezgin ein Gespräch zwischen zwei Zehnjährigen an der Bushaltestelle wieder. Besprochen wird die Uraufführung von Johannes Kalitzkes Oper "Inferno" nach Dante und Peter Weiss im Bremer Theater am Goetheplatz.

NZZ, 14.06.2005

Lutz Windhöfel informiert über das Vorhaben des Chemiekonzerns Novartis, in Basel Nord einen Forschungscampus zu errichteten. Das erste fertiggestellte Gebäude, das Verwaltungshaus von Diener & Diener, verfüge über "eine hochkomplexe Glasfassade, die der Schweizer Maler Helmut Federle mit dem österreichischen Architekten Gerold Wiederin entwarf und installierte. In der Fernsicht und bei klarem Sommerhimmel ist das Fassadenbild eine strenge, aber sinnliche geometrische Abstraktion. Im diffusen Licht eines spätherbstlichen Tages werden die Farbfelder, die sich häufig überlappen und dann Mischtöne erzeugen, wohl an Aquarelle Paul Klees aus den späten Bauhaus-Jahren erinnern." Eine Ausstellung zum Novartis-Campus ist im Architekturmuseum Basel zu sehen, teilt Windhöfel mit.

Weitere Artikel: Gerd Hammer trauert um den gestern 82-jährig in Porto gestorbenen portugiesischen Poeten Eugenio de Andrade und Martin Krumbholz gratuliert dem Schriftsteller Dieter Forte zum Siebzigsten.

Alfred Zimmerlin hat sich die Uraufführung der Oper "Der Herr Nordwind" von H. C. Artmann und HK Gruber im Opernhaus Zürich angeschaut und ist hin und weg. Hans Ulrich Gumbrecht rezensiert Kurt Flaschs Buch "Eva und Adam", einen "opulenten philologischen Meta-Kommentar zur Geschichte der Kommentare des Paradiesmythos". Weitere Besprechungen widmen sich Damon Galguts Roman "Der gute Doktor", der von Hellmut Flashar herausgegebenen zweiten Auflage des dritten Bandes von Überwegs Handbuch "Grundriss der Geschichte der Philosophie", sowie Bernd Cailloux' Romanerstling "Das Geschäftsjahr 1968/69".

Welt, 14.06.2005

Der Schweizer Uli Sigg besitzt die "weltweit größte" Sammlung zeitgenössischer Kunst aus China. Sie wird gerade in Bern erstmals ausgestellt. Im Interview skizziert Sigg die Lage der modernen Kunst in China: "Anders als in der UdSSR, wo das Betriebssystem Kunst zusammenbrach, ist es in China unter dem unveränderten Parteisystem wieder in Schwung gekommen. Eine eigenartige Trennlinie läuft heute quer durch die Kulturproduktion. Man kann etwa sozialistischen Realismus und Kulturrevolutionskunst auf Auktionen kaufen. Aber wichtige Arbeiten aus diesen Zeiten werden seit 1976 nicht ausgestellt. Die offizielle Kulturpolitik hat auch die Avantgardekunst zuerst bekämpft und später ignoriert. Erst auf Druck von außen änderte sich das."
Stichwörter: China, Sigg, Uli, Auktion

SZ, 14.06.2005

Martin Heidegger hat den Nationalsozialismus in die Philosophie eingeführt, behauptet Emmanuel Faye in seinem in Frankreich schon vieldiskutierten Buch. Kurt Flasch begrüßt die "gescheite und durchdachte Herausforderung" auf der Literaturseite, weil Faye die Heideggerianer nun dazu zwinge, von ihrem hohen Ross herunterzusteigen und Textarbeit zu betreiben. Die Vorwürfe haben es in sich. "Heidegger hat wesentliche Elemente des Nationalsozialismus im eigenen Namen als seine Philosophie emphatisch vorgetragen: eine völkische Vision der geschichtlichen Sendung des deutschen Volkes, die Metaphysik von Blut und Boden, die Rolle des Führers als des einzigen Gesetzes deutschen Lebens, das Recht des deutschen Volkes auf Expansion des Lebensraums."

Der Komponist Johannes Maria Staud spricht mit Jürgen Otten über das für die Berliner Philharmoniker geschriebene Orchesterwerk "Apeiron", das am Mittwoch uraufgeführt wird. Staud komponiert organisch wie "chronologisch, von A nach B, von B nach C, und so weiter. Auch im Falle des Orchesterstücks 'Apeiron' hatte ich zu Beginn eine Keimzelle aus drei, vier Tönen, eine kleinste genetische Information: eine Art Miniatur-Geflecht aus gedämpften Tönen der Streicher, vor allem der Violinen, und von Fagotten. Dann beobachte ich diese Keimzelle, schaue, wohin sie mich trägt." Hier noch ein Interview zur Kompositionstechnik Stauds.

Weiteres: Carlos Widmann macht auf den Zusammenhang zwischen der Flüchtlingskonferenz von Evian 1938, auf der die Staaten erfolglos über die Aufnahme deutscher Juden diskutierten, und das "Rundschreiben Nr. 11" aufmerksam, in dem Juden die Einreise nach Argentinien verboten wurde. Dirk Peitz hat das Festival für junge Politik in Berlin als Abschiedsfeier der rot-grünen Regierung erlebt. Alexander Gorkow fängt schon mal mit dem Klatschen an für die "gottverdammt großartigen Hippies" von Pink Floyd, die am 2. Juli überraschend im Londoner Hyde Park aufspielen. Jutta Göricke gratuliert dem Maler Jörg Immendorf (Bilder) zum sechzigsten Geburtstag. Harald Eggebrecht nimmt sich eine Zwischenzeit, um an seinen amerikanischen Onkel zu denken. Sonja Zekri berichtet über die Empörung, die der Plan des BritArt-Protagonisten Damien Hirst hervorgerufen hat, den Schauplatz eines Mordes zu malen.

Detlef Scholz berichtet, dass die derzeit erfolgreichsten Linux-Variante "Ubuntu" aus Südafrika stammt. Der Millionär Mark Shuttleworth will damit die Basis für eine afrikanische Softwareindustrie schaffen. Christine Heise informiert in bester Dallas-Manier über den nicht allzu glatten Generationswechsel in der der Folkmusik-Dynastie Wainwright/McGarrigle/Roche. Volker Breidecker fasst eine Tagung über die Erfahrungsmuster von Migranten in der Stuttgarter Akademie Schloss Solitude zusammen. Auf der Literaturseite beglückwünscht "tost" den Schriftsteller Dieter Forte zum Siebzigsten. Auf der Medienseite meldet Klaus Ott, dass das ZDF mit der Firma des eigenen Kommentators Günter Netzer um die Fußball-WM 2010 feilscht.

Besprochen werden außerdem HK Grubers Uraufführung seiner H. C. Artmann-Oper "der herr nordwind" in Zürich ("Auf Wirkung versteht er sich weiß Gott", meldet Heinz W. Koch) sowie die Ausstellung "Apoll im Labor" über den Einfluss des Klassizismus auf die Wissenschaft im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charite.