Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2005. Die Welt staunt über Beethoven spielende Ghetto-Kinder in Venezuela. In der SZ wirft Bauer Peter Stein mit Pfirsichsorbet nach Stadelheimer. Die NZZ berichtet über die Unterdrückung weißrussischer Künstler. Die taz gibt Joschka Fischer Gelegenheit zur Selbstkritik - vergeblich. Die FAZ porträtiert den polnischen Krimiautor Marek Krajewski, dessen Romane nicht in Wroclaw, sondern in Breslau spielen.

NZZ, 23.09.2005

In Weißrussland unterdrückt Präsident Aleksandr Lukaschenko alle Versuche einheimischer Künstler und Intellektueller, die nationale Kultur aufleben zu lassen, berichtet Tatjana Montik. Trotzdem kämpfen Schriftsteller und Maler darum, ihre Werke zu veröffentlichen und werden dafür von Schlägertrupps aufgesucht oder zu Gefängnisstrafen verurteilt. Und auch in der breiten Öffentlichkeit bleibt der Konflikt nicht folgenlos: "Im Gegenzug packt das Regime ein neues altes Stereotyp aus: Weißrussisch Sprechende seien von den USA finanzierte Oppositionelle, die eine Revolution vorbereiten und das Land in ein Chaos stürzen wollen. Leider schlägt auch das bei vielen an. So spaltet sich die weißrussische Gesellschaft mit jedem Tag mehr."

Joachim Güntner meldet, dass die bisher zur FAZ gehörenden Verlage Manesse, Kösel und Deutsche Verlagsanstalt an die Bertelsmann-Tochter Random House verkauft werden und fürchtet, dass es vielen anderen mittelgroßen Verlagen bald ähnlich gehen wird. "Schon um Buchhandelsgiganten wie Thalia oder Weltbild Paroli bieten zu können, werden auf Verlagsseite die kaufkräftigen Unternehmen den Konzentrationsprozess weiterhin vorantreiben."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz besucht eine Ausstellung über Wolfsburgs Einwohner von Jörg Herold in der Städtischen Galerie Wolfsburg. Albrecht Beutel erinnert sich an den Augsburger Religionsfrieden, der vor 450 Jahren geschlossen wurde und hofft auf dessen Nachwirkungen auf derzeitige Glaubenskonflikte. Paul Jandl sieht Ferdinand Raimunds "Verschwender" im Wiener Burgtheater und ist mit dem "bissel Reichen-Porno mit gefühlsechten Gummipuppen" überhaupt nicht zufrieden.

Auf der Filmseite erklärt Freddy Litten, warum Anime (japanische Zeichentrickfilme, mehr hier) kein Kinderkram sind. Besprochen werden passend dazu der japanische Zeichentrick für Erwachsene "Howl's Moving Castle" von Hayao Miyazaki (mehr hier) und der Dokumentarfilm über zwei 2001 gesprengte Buddhastatuen in Afghanistan "The Giant Buddhas" von Christian Frei (mehr hier).

Auf der Medien- und Informatikseite empfiehlt H. Sf. "Schröders Medienschimpf als Teil seiner Selbstinszenierung als Don Krawallo am Wahlabend zu nehmen und rasch zu vergessen. Nicht vergessen sollte man allerdings den Vertrauensverlust, den auch die Medien nach diesem Wahlkampf erlitten haben. Denn das Wahlergebnis hat die zahllosen Analytiker und Leitartikler düpiert, die seit Wochen das Resultat zu kennen glaubten und ihren Lesern Kabinettslisten einer neuen schwarz-gelben Koalition präsentierten."

Serbische Journalisten müssen mit allem rechnen, wenn sie ihre Arbeit tun: von pöbelnden Ministern, obszönen Beschimpfungen und Morddrohungen berichtet Irena Ristic. "So geschehen an einer Pressekonferenz im August im serbischen Ferienort Kopaonik, an welcher der serbische Minister für Kapitalinvestitionen, Velimir Ilic, teilnahm. Auf die Frage einer Journalistin der Radio- und Fernsehstation RTV B92, ob Ilic etwas mit der Aufhebung der Anklage gegen Marko Milosevic, Slobodan Milosevics Sprössling, zu tun habe, rastete jener aus: 'Sie sind unausstehlich! So aggressiv, wie Sie sich benehmen, werden Sie nie einen Mann zum Heiraten finden', blaffte der Minister."

Und Gregor Henger berichtet, dass Andreas von Bechtolsheim mit einer "neuen Rechnerarchitektur" zu Sun Microsystems zurückgekehrt ist. Bechtolsheim hatte die Firma mitbegründet, sie aber in den neunziger Jahren verlassen.

TAZ, 23.09.2005

Die taz gibt Joschka Fischer auf ganzen drei Seiten Gelegenheit zur selbstkritischen Bilanz, die er allerdings nicht ergreift. Zu Rotgrün sagt er: "Deutschland ist in dieser Zeit ein anderes Land geworden. Offener, beispielsweise durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht und das Zuwanderungsgesetz. Ökologischer, trotz des Wehklagens der Wirtschaft und zum Vorteil ebendieser. Freier. Es ist uns heute klarer, wer wir Deutschen eigentlich sind. Außenpolitisch zum Beispiel, eingebettet in Europa und den Westen, eine selbstbestimmtere Nation. Auf all das können wir Rot-Grünen stolz sein. Deutschland ist, insgesamt gesehen, ein wunderbares Land." (Und wir weinen unsere Dankestränen ausschließlich in Recycling-Papier.)

Im Kulturteil setzt sich Martin-Walser-Biograf Jörg Magenau (mehr hier) kritisch mit Matthias Lorenz' Buch über Martin Walser und die Juden auseinander: "Lorenz betont zwar, es gehe ihm nicht darum, 'den Menschen Martin Walser zu beschädigen oder herabzusetzen'. Doch er zielt direkt auf die Person, wenn er literarische Figuren und Autor umstandslos gleichsetzt. Er negiert, dass es sich in Walsers Romanen jeweils um ein Figurengeflecht handelt und dass einzelne Positionen nicht unbedingt die des Autors sind - ein Fehler, den man im ersten Semester zu vermeiden lernt."

Weiter Artikel: Daniel Schreiber feiert das postum realisierte New Yorker Projekt "Floating Island" des Earth-Art-Künstlers Robert Smithson. Besprochen wird das Album "Dovetail" von Coloma.

In tazzwei unterhalten sich Jan Feddersen und Martin Reichert mit der deutschen Autorin Necla Kelek über die Frage, was türkischstämmige Jugendliche in Deutschland zu Ehrenmorden treibt.

Tom.

SZ, 23.09.2005

Peter Stein, der demnächst den "Wallenstein" erst öffentlich lesen und dann inszenieren wird, spricht im Interview über sein neues Dasein als Bauer in Italien - "Es ist dringend fällig, dass ich diese Pfirsiche dort drüben ernte und daraus Sorbet herstelle" - das Desinteresse an ihm als Regisseur - "Ich kann in Deutschland nicht arbeiten, weil man mir nichts anbietet" - die Bosheit deutscher Kritiker - "Aber um auf den 'Wallenstein' zurückzukommen: Ich habe ihn also in Frankfurt gelesen, und dann hat mich der Stadelheimer, oder wie dieser Kritiker von der FAZ heißt, sofort lächerlich gemacht. Das macht er seit 15 Jahren, diese Versuche, mich zu vernichten. Was ihm natürlich nicht gelingt, weil ich völlig unabhängig bin" - und seine Mischbegabung - "Organisationstalent, Blick für Finanzen, Beobachtungsgabe, ein mimischer Drang. Ich kann Wörter, Begriffe, Gedanken körperlich ausdrücken. Das ist mir gegeben. Und ich habe lange Zeit nichts anderes getan außer gelesen. Deshalb behauptet jemand, der noch viel blöder ist als ich, nämlich der Peymann, dass ich so intelligent sei."

Weitere Artikel: Christine Dössel meldet ein "verstärktes Interesse" der Theater an Konfliktstoffen aus der globalisierten Wirtschafts- und Arbeitswelt. Bernd Graff kommt leicht deprimiert aus einer Pressekonferenz in Paris mit Apple-Chef Steve Jobs: "Diese 'Q&A' bringt gerade nicht die Presse auf den neuesten Stand, sondern Steve Jobs." Jonathan Fischer erzählt, wie die Rapperin Lil' Kim ihre Haftstrafe wegen Meineids in eine Werbekampagne für ihre neue CD ummünzt: "Die Plattenfirma richtete ein Message-Board ein, über das die Fans Liebesgrüße in den Knast schicken können." Sonja Zekri stellt eine etwas andere Barbie namens "Fulla" vor, die in der arabischen Welt ein Renner ist: "Selbst das teuerste der 150 Fulla-Produkte, ein Gebetsteppich-Set inklusive Rock und Schleier in charakteristischem Fulla-Pink, war in Windeseile ausverkauft." Thomas Urban erklärt am Beispiel von zwei umstrittenen Bischöfen - August Hlond und Carl Maria Splett - warum die kürzlich veröffentlichte gemeinsame Botschaft der deutschen und polnischen Bischöfe nur notdürftig überdeckt, wie sehr beide Seiten das Thema Vertreibung scheuen. Reinhard Kahl gratuliert dem Pädagogen Hartmut von Hentig zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine Max-Bill-Retrospektive im Kunstmuseum Stuttgart, Jochen Hicks Dokumentarfilm "Cycles of Porn - Sex / Life in L.A. Part 2", die "ausgezeichnet gelungene" szenische Erstaufführung von Antonio Vivaldis verschollener, wiedergefundener und juristisch umkämpfter Oper "Motezuma" in Düsseldorf, Rodin-Ausstellungen in Jena, Duisburg und Frankfurt sowie Bücher, darunter zwei Bände über die Reformation und ihre Zukunft in Europa, Alan Hollinghursts Achtziger-Jahre-Roman "Die Schönheitslinie" und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 23.09.2005

Manuel Brug staunt über den Musiker-Nachwuchs in Venezuela, dessen Förderung auf eine Idee Jose Antonio Abreus zurückging - er drückte Ghetto-Kindern Instrumente in die Hand, um sie etwas lernen zu lassen: "Heute überzieht ein unglaublich effektives Jugendorchestersystem das ganze Land. Was als weltfremde Sozialromantik anmuten mag, hat unbeschreiblichen Erfolg. Die Kinder aus den Ghettos greifen tatsächlich lieber zur Oboe als zum Revolver, ihre klingenden Helden sind keine finsteren Rapper, sondern Bach und Beethoven. Die venezolanische Musikfabrik ist heute sicher das am straffsten organisierte und folgenreichste Klangkombinat der Welt."

Weitere Artikel: Uwe Schmitt liest einen nachgelassenen Roman Marlon Brandos ("Fan-tan", Auszug), der gerade bei Random House in den USA erschien (hier die New York Times und hier der Independent zum Thema). Herbert Kremp analysiert "Archaisches Verhalten: Wenn der Herrscher nicht loslassen kann". Anneke Bokern betrachtet vier vom "Rembrandt Research Project" dem Meister zugeschriebene Gemälde. Gerd Midding unterhält sich mit dem Regisseur Jacques Audiard über seinen Film "Der wilde Schlag meines Herzens".

Besprochen wird Vivaldis Oper "Motezuma" in Düsseldorf.

FR, 23.09.2005

Marcia Pally kommentiert das unentschiedene Wahlergebnis: "Das Problem mit Deutschland ist, dass ihr Leute nicht wisst, was ihr wollt, aber euch immer prächtig beschwert, wenn ihr es nicht bekommt."

Tom Mustroph berichtet von einem Gedankenexperiment des Grazer Architekturbüros Fiedler-Tornquist im Rahmen der Ausstellung "Shrinking Cities" in Halle und Leipzig, in dem die Einrichtung einer chinesischen Sonderwirtschaftszone in Halle ausgemalt wird. In einer Times mager entdeckt Thomas Medicus schon Patina auf den Regierungsgebäuden. Und Oliver Fink klärt die Frage, wo Kleist zuerst "über allen Gipfeln ist Ruh" empfunden hat.

FAZ, 23.09.2005

Im Aufmacher porträtiert Marta Kijowska den in Deutschland erst mit einer Übersetzung hervorgetretenen Altphilologen und Krimiautor Marek Krajewski, dessen Krimis nicht etwa in Wroclaw, sondern in Breslau spielen - in der Nazizeit oder der Weimarer Republik: "Die Arbeit eines Altphilologen erfordert Genauigkeit und Liebe zum Detail. Und diese Eigenschaften legt Krajewski auch als Krimiautor an den Tag: Anhand alter Zeitungen, Briefe und Dokumente zeichnet er ein topografisch präzises Bild des alten Breslau, in dem weder Namen von Geschäften noch Auszüge aus Speisekarten damaliger Restaurants fehlen. Mit seiner Faszination steht er nicht allein da: Nach einem halben Jahrhundert, in dem ein merkwürdiger Zustand der Geschichtslosigkeit herrschte, scheint sich Wroclaw endlich mit seiner Vergangenheit auszusöhnen."

Weitere Artikel: Julia Spinola resümiert eine Konzertreihe und ein Symposion zu Ehren des bald siebzigjährigen Komponisten Helmut Lachenmann in Frankfurt. Jordan Mejias meldet, dass die amerikanische Author's Guild gegen Pläne von Google Print klagt. Jürgen Kaube gratuliert dem Pädagogen Hartmut von Hentig zum Achtzigsten. Marc Platten erinnert daran, dass schon Willy Brandt im Jahr 1969 behauptete, der größeren Partei anzugehören, obwohl die CDU und CSU die größere Fraktion stellten. Christian Schwägerl lauschte einem Vortrag des amerikanischen Bioethikers Erik Parens vor dem "Forum Bioethik" des Nationalen Ethikrats. Und Jordan Mejias lauschte dem Historiker Fritz Stern, der den Westen im Goethe-Institut von New York zur Rückbesinnung auf seine moralischen Stärken aufrief.

Auf der Medienseite weist uns Michael Hanfeld in eine Programm-Reform bei RTL ein, die mit Stellenstreichungen verbunden sein dürfte. Gerd Gregor Feth zeichnet Diskussionen über den Status von gemeinschaftlich getragenen Einrichtungen und Sendungen der ARD nach. Gemeldet wird, dass auch im Schweizer Fernsehen und in der BBC Fälle von Schleichwerbung bekannt wurden und dass sich das ZDF durch die Verfilmung des Gesamtwerks von Rosamunde Pilcher profilieren will.

Auf der letzten Seite berichtet Eleonore Büning vom Jerusalemer Kammermusikfestival. Martin Otto konstatiert eine stetige Verbesserung der deutsch-jamaikanischen Beziehungen. Und Heinrich Wefing porträtiert den Direktor beim Deutschen Bundestag, Wolfgang Zeh.

Besprochen werden Vivaldis wiederentdeckte Oper "Motezuma", eine Fotoausstellung über das alte Ostpreußen in Caputh, eine Ausstellung mit Karikaturen über Angela Merkel in Bonn und Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.