Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2006. Die FAZ findet die deutschen Theater theaterblutrünstig. Die FR mochte Roland Schimmelpfennigs Stück "Auf der Greifswalder Straße" dagegen sehr. Für die Welt scheitert Michael Hanekes Hyperrealismus im Pariser "Don Giovanni" an Mozarts Surrealismus. In der SZ schreiben ein israelischer und ein palästinensischer Autor über die neue Lage nach dem Wahlerfolg der Hamas. In der taz porträtiert Gabriele Goettle die Präparatorin Navena Widulin. Außerdem streiten hier Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, und die Frauenrechtlerin Seyran Ates über den baden-württembergischen Fragebogen für einwanderungswillige Muslime.

NZZ, 30.01.2006

Michael Hanekes "Don Giovanni"-Inszenierung hat das Pariser Publikum in Wallung versetzt, berichtet Peter Hagmann: "Hat der Palais Garnier in den knapp anderthalb Jahrhunderten seines Bestehens je eine heftigere Saalschlacht erlebt als an diesem 27. Januar 2006, dem 250. Geburtstag Wolfgang Amadeus Mozarts? Ein erstes Geplänkel war vor der Pause ausgebrochen. Am Ende gab es rauschenden Applaus für die Sänger, schmerzende Hiebe für den Dirigenten. Als aber das Inszenierungsteam auf der Bühne erschien, sanft und scheu, erhob sich ein Pro und Contra, dass man geradewegs an den Untergang der wunderbaren Opern-Titanic glauben konnte. Allein, Besseres für Mozart hätte Gerard Mortier, der derzeitige Kapitän, nicht anrichten können."

Weitere Artikel: Jürgen Tietz denkt über die Bedeutung von Architektur-Ikonen nach. Ulf Meyer beschreibt den 800 Millionen teuren Umbau Turins, wo im Februar die Olympischen Winterspiele stattfinden sollen. Christine Wolter stellt das dazugehörige Kulturprogramm Turins vor. Andrea Gnam war bei einem Symposion in Karlsruhe über "Das Bild in der Gesellschaft. Neue Formen des Bildgebrauchs". Andreas Oplatka berichtet, dass der Regisseur Istvan Szabo während seines Studiums Informant des Staatssicherheitsdienstes gewesen sein soll. Georges Waser diagnostiziert ein Bestsellerfieber in Großbritannien.

Besprochen wird die Aufführung von Roland Schimmelpfennigs Stück "Auf der Greifswalder Straße" am Deutschen Theater in Berlin.

TAZ, 30.01.2006

Gabriele Goettle besucht die Museumskonservatorin und Präparatorin am Berliner Medizinhistorischen Museum der Charite (mehr), Navena Widulin, die auch in Bosnien schon gearbeitet hat. "2000 und 2001 bin ich über die UNO hingefahren, in die Nähe von Sarajevo. Dort wurden Massengräber ausgehoben. Man hatte plötzlich mit 200 Leichen zu tun, die alle erschossen oder durch Handgranaten hingerichtet worden waren. Fast nur Männer, Zivilisten. Kaum Frauen und Kinder. Ein Rechtsmediziner und einer von uns, haben die Leichen auseinander genommen, soweit das möglich war. Die waren oft schon sehr skelettiert. Wir haben sie entkleidet, und da wurden übrigens plötzlich Gallensteine gefunden bei einigen. Die waren schon so zersetzt, dass die Gallensteine quasi aus der Galle rausgefallen sind in die Kleidung. Die Anthropologen und sogar die Rechtsmediziner haben mir erst nicht geglaubt, die dachten, es ist Schmuck. Dann haben sie sich aber überzeugt und gesehen, es sind Gallensteine. Ich war ganz stolz, dass ich es gleich erkannt habe."

Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, und die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates diskutieren auf den Tagesthemenseiten über den Fragebogen für einwanderungswillige Muslime. Ates hat keine grundsätzlichen Bedenken. "Wir können nicht jedes Mal die Rassismuskeule rausholen, nur wenn über Probleme gesprochen wird und über Instrumente, mit denen man sie bekämpfen will. Es gibt gute Gründe, warum dieses Misstrauen gegenüber Muslimen existiert."

In der zweiten taz überprüft Georg Blume das touristische Potenzial des chinesischen Neujahrfeuerwerks. Jan Feddersen glaubt, dass der Begriff der Minderheit hierzulande ausgedient hat. Susanne Lang trifft den Kollegen Peter Hahne. Im Medienteil verkündet Peter Luley, dass David Montgomery nach dem Berliner Verlag nun auch die Hamburger Morgenpost übernommen hat, was die taz dort zur "einzigen unabhängigen Tageszeitung" macht.

Und Tom.

Welt, 30.01.2006

Ein Schwerpunkt ist Mozart-Aufführungen gewidmet: Ulrich Weinzierl war beim Festkonzert der Wiener Philharmoniker in Salzburg, die unter Riccardo Muti "Langeweile auf höchstem Niveau" produzierten - bis Kanzler Schüssel nach der Pause zu spät in den Saal kam: "Das lässt sich der Maestro assoluto nicht bieten. Brüsk kehrt er dem Publikum den Rücken und stürzt sich ins 'Allegro con spirito' der Haffner-Symphonie, während das Ehepaar Schüssel verschämt in die erste Reihe huscht. Eine fulminante, zugleich herrlich musikantische Darbietung. Muti scheint wie ausgewechselt, plötzlich steht ein raffinierter körpersprachlicher Klangmodulator am Pult. Mutis Rache ist zu Mozarts Triumph geworden."

Zwiespältig hat Manuel Brug Michael Hanekes Inszenierung des "Don Giovanni" in Paris aufgenommen. Haneke hat die Handlung in die Konzernetagen des Filmmilieu verlegt. "Don Giovanni, ein von sich selbst angeekelter Frauenflüsterer. Der seinen Opfern die blanke Brust bietet, um selbst angegriffen zu werden. Der vor der Champagnerarie aus dem Fenster springen will. Der sich später, Schutz und Zärtlichkeit suchend, in Elviras noch warmen Trenchcoat hüllt. Das funktioniert in seinem Hyperrealismus lange glänzend, bis die Oper den ihr eignen Surrealismus - arioses Innehalten - fordert. Dann wird der souveräne Regisseur Haneke zum Erfüllungsgehilfen, der nur das Libretto paraphrasiert. Natürlich gibt es keinen Friedhof, keine Hölle. Der steinerne Gast ist nur eine blutige Leiche im Rollstuhl. Elvira sticht Giovanni ab, dann entsorgen ihn die Putzteufel mit den Mickey-Maus-Masken (wie in 'Bennys Video') aus dem Fenster."

Außerdem: Kai Luehrs-Kaiser erlebte bei Dietrich Hilsdorfs "Entführung" in Leipzig "rebellische Schnitzkunst von Meisterhand", Peter Schneeberger hörte Willy Deckers "Idomeneo" in Wien, Stefan Keim war bei Vincent Boussards "Cosi fan tutte" an der Oper Brüssel und Uwe Wittstock bei Christof Loys "Titus" in Frankfurt/Main.

Weitere Artikel: Warum bloß lieben die Deutschen Bollywoodfilme, diese "überlangen, überbunten Schinken", fragt sich Peter Zander und vermutet, es liegt an ihrer Nähe zum deutschen Heimatfilm der fünfziger Jahre. Berlinale-Chef Dieter Kosslick freut sich im Interview, dass er vier deutsche Filme im Wettbewerbsprogramm hat: "Die Filme sind alle sehr unterschiedlich - und starke Schauspielerfilme." Sascha Westphal berichtet von einer Initiative zahlreicher DVD-Produzenten aus aller Welt, die sich unter dem Namen dvdvideointernational.com zusammengeschlossen haben, um die von Hollywood durchgesetzte Parzellierung des DVD-Marktes in sechs Zonen zu unterlaufen: "Damit die DVDs in möglichst vielen Ländern verkauft werden können, werden die Filme auf codefreie DVDs im NTSC-Format gepreßt und mit zahlreichen optionalen Untertiteln versehen." Hellmuth Karasek schreibt über Heinz Rühmanns "Feuerzangenbowle" auf DVD.

Nach neun Jahren Renovierungsarbeit und einem Skandal um Kunstwerke zweifelhafter Herkunft ist am Wochenende die Villa Getty in Kalifornien wieder eröffnet worden, berichtet Nina Wachenfeld. Vorgestellt wird schon mal die Runde des Literarischen Quartetts zu Ehren von Heinrich Heine - die Diskussion wird am 3. und 4. Februar im Fernsehen ausgestrahlt.

Im Magazin wirft Inge Griese einen kritischen Blick auf Berlin als frisch gekürte Welthauptstadt des Designs: "Das gefühlte Berlin ist bunt, kreativ, inspirierend, cool, das etwas andere Deutschland eben. An guten Tagen. Wird man älter, ist nicht so ausgeruht und weniger nachsichtig, dann nervt dieses Berlin-Gefühl wie ein Student, der sich nach 24 Semestern Sozialkunde immer noch nicht so recht zur Abschlussprüfung durchringen mag. Trotz aller Chancen, sie zu bestehen. In Berlin sind die Menschen stets Teil des Aufbruchs. Wer wirklich mal ankommen will, muss wahrscheinlich umziehen."

FAZ, 30.01.2006

In Berlin war Premierenwochenende: Roland Schimmelpfennigs Stück "Auf der Greifswalder Straße" wurde im Deutschen Theater in der Regie von Jürgen Gosch uraufgeführt, und am Berliner Ensemble lief Botho Strauß' neues Stück "Schändung", inszeniert von Thomas Langhoff. Gerhard Stadelmaier fragt sich zum wiederholten Male, warum unsere an sich doch recht behagliche Gesellschaft in ihren Staatstheatern in Blut ersäuft:"Wenn wir jetzt an beide Aufführungen zurückdenken, sehen wir vor allem: rot. Rot wie Blut. Es scheint unaufhörlich zu fließen, spritzen, sprühen. Als habe das Theater unseren Augen einen schmutzigen, schlierigen, gallertartigen Verband auferlegt. Theaterblut zwar, aber Theaterblut meint so gut Blut, wie ein Theatertoter unser aller Tod meint, wenn er auf der Bühne liegt und es ihm ernst ist. So dass also auch unser Blut vergossen wird. Aber dann müsste dieses Blut da droben auch mit uns zu tun haben."

Weitere Artikel: Mark Siemons hat sich zusammen mit einer halben Milliarde Chinesen die Fernsehgala zum Neujahrsfest angesehen und zieht Rückschlüsse auf das offizielle Selbstbild der Nation. Auf einer ganzen Seite werden Kritiken von Mozart-Ereignissen an europäischen Bühnen geboten: "Don Giovanni" in der Regie von Michael Haneke in Paris (Eleonore Büning bleibt skeptisch), "La clemenza di Tito" in Frankfurt, "Lucio Silla" in Hannover, die "Entführung" in Leipzig, "Cosi fan tutte" in Brüssel und noch ein "Titus" in Oldenburg. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, in denen sich selbst gestandene Konservative über die Selbstherrlichkeit von George W. Bushs Amtsführung beschweren. Auf der Sachbuchseite erprobt Jürgen Kaube die ganze Schlagkraft seines Humors an einem schmalen Kolumnenband der freien Journalistin Hilal Sezgin.

Auf der Medienseite beschließt der Rundfunkhistoriker Hans-Ulrich Wagner die Reihe "Stimmen" mit einem Stück über Peter von Zahn. Auf der letzten Seite lässt Richard Kämmerlings Ereignisse eines Heine-Wochenendes (denn es ist nicht nur Mozartjahr!) in Hamburg Revue passieren. Andreas Rosenfelder lauschte an der Uni Witten/Herdecke einem Vortrag Michel Friedmans über Religion, und Dirk Schümer porträtiert Romano Prodis ehemalige italienische Kulturministerin Giovanna Melandri, die nach Abwahl Berlusconis ihrAmt neu antreten will und schon mal ein diesbezügliches Manifest verfasste.

Besprochen werden Peter Thorwarths Film "Goldene Zeiten", Daniel Rademachers Theaterprojekt "Nur für Arbeitslose" in Düsseldorf, ein Auftritt der Band Art Brut in Köln, die Ausstellung "Splendeurs de la cour de Saxe" in Versailles und Sachbücher, darunter die Übersetzung von Alain de Liberas Standardwerk "Der Universalienstreit".

FR, 30.01.2006

Peter Michalzik sieht Roland Schimmelpfennigs Stück "Auf der Greifswalder Straße" in der Regie von Jürgen Gosch am Deutschen Theater ganz anders als Gerhard Stadelmaier: "Wirklich alles ist nackt bei Gosch (auch der sehr gut gebaute Schauspieler Ingo Hülsmann als Träumer, der hier, im Deutschen Theater, sonst den Faust spielt), alles liegt offen vor uns, so offen, dass ein doppelter Boden gar keinen Platz haben kann. Und doch ist alles opulentes und richtiges Theater: Bilderbogen, Szenenstrauß, Schauspielergala."

Lars von Trier wehrt sich gegen eine Aufnahme in den dänischen "Kanon" berichtet Harry Nutt in der Kolumne Times mager und knüpft daran eine kleines Spekulation über die kanonische Inflation auch in Deutschland: "Wenn aus dem Etikett 'Made in Germany' kein Selbstbewusstsein mehr zu beziehen ist, weil es schon morgen in Malaysia hergestellt werden kann, reüssiert das Kulturgut als letzte Ressource mit Herkunftsgewissheit."

Besprochen werden Mozarts Oper "La clemenza di Tito" unter Paolo Carignani und Christof Loy in Frankfurt und die Heine-Ereignisse in Hamburg.

SZ, 30.01.2006

Hassan Khader, Herausgeber der palästinensischen Literaturzeitschrift Al Karmel, befürchtet nach dem Wahlsieg der Hamas einen Exodus der Intellektuellen aus Ramallah, dem kulturellen Zentrum der Autonomiegebiete. "Vorstellbar ist ein Szenario des gegenseitigen Argwohns und der Feindschaft. Die moderne nationale Kultur wird von Fundamentalisten als eine Art Zersetzung der überkommenen Werte und Ideensysteme angesehen. Selbst die Nationalflagge gilt als problematisch. Ein führender Vertreter der Hamas versuchte sich vor kurzem in Literaturkritik und entschied, dass man nun mal Gedichte und Erzählungen schreiben sollte, um so den zukünftigen Generationen vom Kampf für ihr Vaterland zu berichten."

Auch der israelische Schriftsteller David Grossmann kann es noch nicht fassen. "In diesem entscheidenden Moment, in dem die meisten Israelis sich endlich zu gemäßigteren und realistischeren Ansichten durchgerungen haben, in dem Moment, in dem sie - mehr oder weniger - erkennen, wo die Machtgrenzen liegen, und einsehen, dass religiöse und territoriale Herzenswünsche notgedrungen aufgegeben werden müssen, in diesem Moment ist das palästinensische Volk in abgrundtiefe Verzweiflung verfallen und hat eine extreme, fundamentalistische Bewegung gewählt, die jeden Kompromiss ablehnt und totalen religiösen und territorialen Wunschträumen nachhängt."

In seinem Stück "Die Schändung", die am Berliner Ensemble von Thomas Langhoff inszeniert wurde, konzentriert sich Botho Strauß vor allem auf die Bluttat, merkt ein mäßig beeindruckter Gustav Seibt an. "Also muss Christina Drechslers Lavinia schnalzen und röcheln, silberne Armprothesen über ihren Stümpfen tragen und sich in eine geile Überlebende verwandeln, die Entschädigung im Sex mit einem ihrer vor Schuldgefühlen schlotternden Vergewaltiger sucht. Nicht einmal die Imagination eines Zungenkusses mit der Zungenlosen bleibt einem erspart. Opfer sind ekelhaft, sagt das Stück, und wir sind aufgefordert, dafür die Resonanz in unserem Herzen zu finden."

Weiteres: Martin Wagner resümiert ein Treffen von 300 Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern in Salzburg, auf dem unter dem seltsamen Titel "The Sound of Europe" über die EU diskutiert wurde. Tobias Timm hat Regisseur David Lynch in Berlin über Yoga und Frieden reden hören. Jens Malter Fischer gratuliert dem Bassbariton Benno Kusche zum Neunzigsten.

Besprochen werden Michael Hanekes erste Opernarbeit, eine Aktualisierung von Mozarts Oper "Don Giovanni" an der Pariser Garnier-Oper ("Wirkungsvoll ist es schon, wenn zuletzt die Rächer den Toten mit einem Papierdeckel über dem Kopf, auf dem seine Racheschwüre zu lesen sind, auf die Bühne schieben", urteilt Reinhard J. Brembeck.), Thomas Langhoffs Version der "Die Schändung" von Botho Strauß am Berliner Ensemble, das Sprechstück "Herbst 77. Sechs Wochen im Kanzleramt" über die Schleyer-Entführung im Theater Bonn, die Uraufführung eines Stücks von Wolfgang Rihm auf den Mozart-Feierlichkeiten in Augsburg, der Auftakt von Udo Jürgens 40. Deutschland-Tournee in Köln, Peter Thorwarths "total verrückter" Film "Goldene Zeiten", und Bücher, darunter zwei neue Einführungen zur Designgeschichte, Radjo Monks Wendekommentar "Blende 89" sowie zwei Neuerscheinungen zu Dietrich Bonhoeffer (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).