Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2006. In der Welt prophezeit Rupert Murdoch den Untergang der Zeitungen, die das Internet nicht verstehen. In der taz ist die Sache schon gelaufen: Dort revolutionieren Google, Amazon und Microsoft die Medien. Die FR findet Necla Keleks Buch über deutsch-türkische Männer zu literarisch. Die NZZ beschreibt die Krise des amerikanischen Konservatismus. Nach Juri Andruchowytschs Dankesrede für den Leipziger Buchpreis will die SZ künftig auch für Europa bluten. In der FAZ findet der Maler Luc Tuymans die Abgasaktion Santiago Sierras banal.

TAZ, 17.03.2006

Die zweite taz druckt das Skript zu einer düsteren Verschwörungstheorie, die Robin Sloan und Matt Thompson im Internet veröffentlicht haben. Danach revolutionieren Google, Amazon und Microsoft in naher Zukunft die Medien. "Am Sonntag, den 9. März 2014, bringt Google Epic heraus. Das Evolving Personalized Information Construct ist ein System, durch das unsere ausufernde, chaotische Medienlandschaft gefiltert, geordnet und dem Nutzer geliefert wird. Jeder trägt bei, und viele werden jetzt auch bezahlt, proportional zur Popularität ihrer Beiträge - ein kleiner Teil nur der immensen Werbeeinnahmen von Googlezon. Epic stellt für jeden ein Content-Paket zusammen, das seine Vorlieben, seine Konsumgewohnheiten, seine Interessen, seine demografischen Faktoren und seine sozialen Bindungen nutzt."

Weiteres im Feuilleton: Gerrit Bartels berichtet von Juri Andruchowytschs Auftritt auf der Leipziger Buchmesse, wo er Europa für seine abwehrende Haltung gegenüber der Ukraine angeklagt hatte. Thomas Winkler besucht das Plattenlabel "Kill Rock Stars" in Washington. Daniel Bax resümiert eine Diskussion im Berliner Maxim Gorki Theater, bei der Necla Kelek ihr neues Buch "Die verlorenen Söhne" vorstellte. In der zweiten taz sammelt Adrienne Woltersdorf einige euphorische Kommentare zum Auftakt des Irakkriegs.

Auf der Medienseite macht Reiner Wandler die spanische Regierung für die Misere des öffentlichen Rundfunks verantwortlich. "Rwo" meldet, dass die dänischen Gerichte alle Klagen gegen die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen im Jyllands-Posten abgelehnt haben.

Besprochen wird Van Morrisons neues Album "Pay the Devil".

Schließlich Tom.

Welt, 17.03.2006

Auf den Forumsseiten ist Rupert Murdochs Rede über das Internet und die Zukunft der Zeitungen abgedruckt, die er am 13. März in London hielt. "Nur jene, die das neue Wissen zu nutzen verstehen, werden in unserem Zeitalter der Entdeckungen gedeihen. Die Geschichte steckt voller Beispiele, wie Wissen zum Glück eines kleinen Unternehmens, einer schwachen Nation, eines bedrohten Volks werden kann. Der Höhlenbewohner, der zuerst aus einem Stein Feuer schlug, besaß ein Wissen, das ihn zum Herrn seiner Welt machte - wenn auch nicht für lange. Vom Rad bis zum Internet, von der Druckerpresse bis zum Glasfaserkabel - stets ist die Technologie der Motor der Geschichte gewesen. Und am Steuer saßen immer die, die sie zur Gänze verstanden und zu nutzen wussten."

Im Feuilleton wundert sich Gisela Sonnenburg, dass die Staatlichen Museen offenbar unwillig sind, die Beuys-Sammlung des Berliner Unternehmers Reinhard Michael Schlegel zu erwerben. Donald Fagen von Steely Dan spricht im Interview über sein neues Album, den Tod, Politik und Werbung. Gerhard Midding berichtet über den neuen Filmschlager in Frankreich, Patrice Lecontes Club-Mediterranee-Komödie "Les Bronzes 3". Eckhard Fuhr ist beeindruckt von Juri Andruchowytschs Rede zum Leipziger Buchpreis: "Nach seiner Rede musste jedem klar geworden sein, dass der Versuch der europäischen Verständigung über die Grenzen Europas eine Tragödie ist. Es gibt keine Lösung, mit der sich Europa nicht tief ins eigene Fleisch schnitte." Ulrich Baron gratuliert Siegfried Lenz zum Achtzigsten. Thomas Kielinger berichtet über den "Sakrileg"-Prozess. Gernot Facius stellt einen Band der Evangelischen Kirche mit 499 Biografien von Märtyrern des 20. Jahrhunderts vor.

Besprochen wird Elias Canettis Hörwerk aus 40 Jahren auf drei CDs: Ulrich Weinzierl bewundert vor allem das "außerordentliche Rezitationstalent dieses Dichterphilosophen".

FR, 17.03.2006

Ursula März hat Necla Keleks neues Buch "Die verlorenen Söhne" gelesen. Ihr Eindruck ist zwiespältig: "Necla Kelek hat Recht. Sie hat Recht damit, Integration als Forderung an Türken zu verstehen, nicht nur als Förderung durch den deutschen Staat. Dennoch ist ihr Buch 'Verlorene Söhne' problematisch. Nicht durch die polemische Einseitigkeit, mit der Kelek über die Vielzahl gelungener Biografien deutsch-türkischer Männer hinweggeht und sich auf die misslingenden konzentriert. Wenn man, sagt Necla Kelek, über Wohnungslose schreibt, lässt man ja auch die Darstellung derer aus, die das Glück haben, in einer Wohnung zu leben." Was März aber stört, ist "der sentimentale Sound der Befindlichkeit und dessen diffuse Wirkung, die den Verdacht des Manipulatorischen auf sich zieht. Denn Necla Kelek erzählt nicht nur die Lebensgeschichten der fünf türkischen Häftlinge nach. Sie dramatisiert und literarisiert die Erzählsituation in der Haftanstalt und ihre eigene emotionale Position als Zuhörerin, ja als Besucherin des Gefängnisses."

Weiteres: Sandra Danicke schreibt über die Fine Art Fair in Frankfurt. Michael Braun gratuliert Siegfried Lenz zum Achtzigsten. Besprochen wird eine Ausstellung des Werks von Adam Elsheimer im Frankfurter Städel.

Hinzuweisen ist außerdem auf die Sachbuch-Beilage zur Leipziger Buchmesse, die schon gestern erschienen ist und in den nächsten Tagen von uns ausgewertet wird.

NZZ, 17.03.2006

Der Ideengeschichtler Jan-Werner Müller schreibt zur derzeitigen Krise des amerikanischen Konservatismus, hinter der er das Aufbrechen traditioneller Widersprüche erkennen will. "Es ist deshalb kein Zufall, dass Intellektuelle schon seit einiger Zeit nach einer neuen 'Fusion' suchen, welche die konservative Koalition auf ein dauerhaftes gedankliches Fundament stellen könnte. Bereits im Juni letzten Jahres schlug der Herausgeber der sehr einflussreichen religiösen Zeitschrift 'First Things' vor, die neokonservativen Befürworter des Irak-Krieges und die religiös inspirierten Abtreibungsgegner sollten ihre Gemeinsamkeiten am Begriff des 'Lebens' festmachen: Denn ob man sich um den Schutz des ungeborenen Lebens in den USA oder um die Rettung des Lebens der Iraker vor Saddam Husseins Gewaltherrschaft beziehungsweise - inzwischen - vor dem Terror der Aufständischen sorge, mache moralphilosophisch keinen Unterschied."

Besprochen werden eine dem Architektenduo Lacaton und Vassal gewidmete Ausstellung in der Villa Noailles in Hyeres, Eugene Labiches makabre Komödie "L'Affaire de la rue de Lourcine" in einem Gastspiel des Theatre de Nimes in Zürich und Monique Wagemakers Inszenierung von Puccinis "Madame Butterfly" in Stuttgart.

Auf der Medien- und Informatikseiten berichtet Petra Tabeling von der gefährlichen Situation für Journalisten im Irak. "In nur drei Jahren kamen dort mehr Journalisten um als während des ganzen Vietnamkriegs." Der Medienwissenschaftler Roger Blum entwirft Reformvorschläge für den Schweizer Presserat. Und Rainer Stadler hat in London vernommen, wie Medienzar Rupert Murdoch den Medienzaren das "Totenglöcklein läutete": "Die alte Elite, zu denen Murdoch die Chefredakteure, Geschäftsführer und Eigentümer zählt, verliert nach Ansicht von Murdoch an Macht. Es beginne das zweite große Zeitalter der Entdeckungen; Christoph Kolumbus und Jean Cabot kehrten nun in Gestalt der Internet-Pioniere wieder."

Auf der Filmseite beschreibt George Waser, wie das britische Kino dem allgemeinen Trend zum Zuschauerschwund trotzt. Besprochen werden Neil Jordans Romanverfilmung "Breakfast on Pluto" und Marc Forsters Mysterium "Stay".

Tagesspiegel, 17.03.2006

Die bosnische Regisseurin Jasmila Zbanic, die für ihren Film "Grbavica" den Goldenen Bären bekommen hat (hier unsere Kritik), wird in Serbien massiv angegriffen, berichtet Jan Schulz-Ojala. "Ihr bei der Verleihung weltweit gehörter Protest dagegen, dass Karadzic und Mladic elf Jahre nach Kriegsende noch frei herumlaufen, hat ihr ein Kesseltreiben ebenso einflussreicher wie radikaler Serben eingebracht. Im Belgrader Massenblatt Kurir wurde ihr Auftritt auf dem 'Propagandafestival' Berlinale als 'moralisches Lynchen von Serbien' gedeutet. Und der Rockmusiker Bora Corba durfte darin die seit Jahren verbürgten UN-Zahlen von 20 000 durch Serben vergewaltigten Frauen feinsinnig anzweifeln: 'Um Gottes Willen, wie konnten unsere Soldaten das physisch überhaupt schaffen?' Das überwiegend feindselige Medienecho war so heftig, dass die 'Grbavica'-Premiere am 6. März beim Filmfest von Belgrad zu scheitern drohte. Radikale Serben versuchten die Vorführung zu verhindern, aber die 2000 Zuschauer buhten sie aus dem Saal."

Berliner Zeitung, 17.03.2006

Im Aufmacher des Feuilletons (leider nicht online) ärgert sich Ralf Schenk über den ungenauen Umgang mit der DDR-Geschichte in neuen deutschen Spielfilmen wie Dominik Grafs "Der rote Kakadu" oder Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der anderen": "Kein renommierter Dichter und Nationalpreisträger (man denke nur an Volker Braun oder Heiner Müller) hätte es 1984 mehr nötig gehabt, die Schreibmaschine, auf der er DDR-kritische Pamphlete für den Spiegel verfasst, unter einer Türschwelle zu verstecken."

SZ, 17.03.2006

Ijoma Mangold ist noch immer ganz ergriffen von Juri Andruchowytschs furioser Dankesrede für den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (hier als pdf): "Da war ein Wollen und Fordern, ein Anklagen und Verurteilen am Werk, wie man es lange nicht mehr vernommen hatte. Es war schwierig, sich diesem Eindruck zu entziehen. Auch weil uns vergesslichen, 'dazugehörigen' Europäern vor Augen geführt wurde, was für eine Sache, wohl wert dafür zu bluten, Europa sein kann."

Weiteres: Sonja Zekri berichtet von einer neuen Form des ukrainischen Personenkults: Jurij Rohosas Krimi "Ubit Juliu" - Julia töten", in dem eine aufrechte Staatsdienerin vom politischen Natterngezücht Kiews um die Ecke gebracht werden soll. Startauflage: 1,7 Millionen. Marcus Jauer beobachtet, wie mit dem Theater am Kurfürstendamm wieder ein Stück "Westberliner Seelenmöbel" ausrangiert wird. Anna Kemper berichtet vom Jugendtheater "Freedom Theatre", das im palästinensischen Dschenin wiedereröffnet wurde. Thomas Steinfeld gratuliert dem Schriftsteller Siegfried Lenz zum achtzigsten Geburtstag. Alexander Menden stöhnt über die Trostlosigkeit der Arbeiten bei der Tate-Triennale 2006 ("knochenköpfigster Siebziger-Jahre-Konzeptualismus"). Laut Susan Vahabzadeh hat sich herausgestellt, dass ein umstrittener Text von George Clooney auf der Website Huffington Post gar nicht von ihm stammt.

Auf der Medienseite feiert Viola Schenz das 150-jährige Bestehen des Magazins Atlantic Monthly: "Die Redaktion scheint seit 150 Jahren in der Ideen- und Planungsphase verharrt. Bis heute gibt es weder eine ideologische Grundlinie noch ein klares Profil - man vermisst weder das eine noch das andere. Es herrscht kreative Beliebigkeit."

Besprochen werden die Inszenierung von Webers "Euryanthe" (die Jörg Königsdorf überzeugte, dass es sich bei diesem lange verschmähten Stück eigentlich um Webers beste Oper handelt), James McTeigues anarchistische Comic-Verfilmung "V For Vendetta", eine Ausstellung im Prager Hradschin über die Künste der Zeit Karls IV. und Frank Schirrmachers Buch "Minimum" (siehe auch unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.03.2006

Der Maler Luc Tuymans (mehr) kritisiert im Interview mit Swantje Karich auf der letzten Seite die Aktion des spanischen Künstlers Santiago Sierra, der eine ehemalige Synagoge bei Köln mit Autoabgasen befüllte. "Mein Gemälde 'Gaskammer' zeigt lediglich die Kammer, wie sie heute noch als Gedenkstätte existiert. Man darf nicht malen, was man nicht selbst erlebt hat.' Tuymans kann in der Aktion keinen tieferen Sinn entdecken. "In Sierras Werk fehlt eine wichtige Stufe, nämlich aus der Kultur des Sehens, Beobachtens und Analysierens heraus zu versuchen, eine künstlerische Idee zu formulieren. Er bleibt so banal, dass man fast geneigt ist, ihm zu glauben, dass er uns zeigen will, wie geschmacklos der Umgang mit diesem Thema geworden ist."

Weiteres: Der amerikanische Rechtsphilosoph Richard Dworkin, der das Verbot der Holocaustleugnung aus Gründen der Meinungsfreiheit ablehnt, hätte seine Probleme mit dem hessischen Einwanderungsfragebogen (vollständig bei Spiegel Online), meint Patrick Bahners. Felicitas von Lovenberg zollt dem Autor Juri Andruchowytsch "tiefe Anerkennung" für seinen Auftritt auf der Leipziger Buchmesse, bei dem er Europa für sein Desinteresse an der Ukraine kritisierte. Marcel Reich-Ranicki erzählt, wie er den damaligen Radiojournalisten und nun achtzigjährigen Schriftsteller Siegfried Lenz kennen lernte und aus diesem Anlass ein Steak mit einem Schnitzel verwechselte. Im Londoner Plagiatsprozess gegen Dan Brown erscheint die Gattin Blythe Brown laut Gina Thomas immer mehr als die wahre treibende Kraft hinter dem Bestsellerphänomen. Eleonore Büning würdigt Pierre-Laurent Aimard, "fraglos der beste Messiaen-Pianist unserer Tage", den sie bei den Römerbad-Musiktagen in Badenweiler erlebt hat. Patrick Bahners gratuliert dem Frankfurter Historiker Peter Wende zum Siebbzigsten.

Im Medienteil stellt Olaf Sundermeyer den polnischen Radiosender Radio Racja vor, der Weißrussland mit "sanfter Sabotage" demokratisch werden lassen will. Auf der letzten Seite schreibt Dietmar Dath anlässlich von Stephen Kings neuem Roman "Puls". Teresa Grenzmann schildert die durch die Streiks angespannte Aufführungslage der Münchner Bühnen.

Besprochen werden Mel Brooks Musical-Film "The Producers" ("Auch Witze werden älter, und Nazi-Witze allemal", seufzt Andreas Kilb.), Ingo Berks Inszenierung der Uraufführung von Marius von Mayenburgs "Augenlicht" an der Berliner Schaubühne, ein Auftritt einiger Kabarettisten im Berliner Schloß Bellevue, und Bücher, darunter Erich Maletzkes Biografie von Siegfried Lenz, Christian Schölzels Porträt von Walther Rathenau und Christoph Keeses Plan für Deutschland "Verantwortung jetzt" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).