Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.01.2007. Alle Zeitungen staunen über Jörg Immendorffs offizielles und ganz in Gold gefasstes Gerhard-Schröder-Porträt: "Gerhard der Große, Gütige, Wundertätige". In der SZ schildert Najem Wali das Elend des arabischen Schriftstellerverbands. Die FAZ wundert sich über Herbert Grönemeyers neuestes metaphysisches Stakkato. Die NZZ stellt das Internet-TV-Projekt Joost vor.

NZZ, 19.01.2007

Auf der Medien- und Informatikseite stellt uns S.B. die zwei Pioniere vor, die das Fernsehen revolutionieren wollen. Es sind der 40-jährige Schwede Niklas Zennström und sein 30-jähriger Geschäftspartner Janus Friis aus Dänemark. Die beiden hatten 2001 die Musikbörse Kazaa gegründet und dann mit Skype das Internet-Telefonieren erfunden. Skype wurde 2005 für 2,6 Milliarden Euro an Ebay verkauft. Ihr neues Projekt "Joost soll - im Unterschied zu YouTube - nicht Amateur-Videos und illegale Kopien verbreiten, sondern professionell hergestellte und legal lizenzierte Filme. Diese Filme können gegen Bezahlung einzeln oder im Abonnement oder gratis dank Werbeunterstützung konsumiert werden. Sie können zu jedem beliebigen Zeitpunkt angeschaut werden, denn Internet-TV kennt keine Programmraster."

Weiteres: Set. erzählt, dass Medienverlage wie Axel Springer eigene Zeitungen für das Online-Spiel Second Life gegründet haben. H. Sf. berichtet von einem kleinen Experiment der FAZ am Sonntag in Sachen partizipativer Journalismus.

Im Feuilleton fragt sich Ludger Lütkehaus, warum es eigentlich wichtig sein soll, ob Freud eine Affäre mit Minna Bernays hatte oder nicht. Hubertus Adam beschreibt das neue, vom Architekturbüro Neutelings Riedijk erbaute Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid (Niederländisches Institut für Bild und Ton) in Hilversum. Paul Jandl stellt die Wiener Bankerin Claudia Schmied vor, die in Österreich das neue Ministerium für Unterricht, Kunst und Kultur leiten soll.

Besprochen werden Aufführungen von Goldonis "Fächer" und Strindbergs "Vater" am Piccolo Teatro Milano und eine Ausstellung mit Zeichnungen und Aquarellen von Giovanni Giacometti im Kunstmuseum Solothurn.

Auf der Filmseite meldet sda, dass 2006 ein Rekordjahr für den Schweizer Film war. Besprochen werden Mike Eschmanns Hip-Hop-Film "Breakout", Gabriele Muccinos Melodram "The Pursuit of Happyness" und Andres Veiels Filmprotokoll "Der Kick".

Welt, 19.01.2007

Peter Dittmar betrachtet Jörg Immendorffs goldenes Schröder-Porträt, das künftig die Kanzler-Galerie zieren wird. Ob es ein großes Bild ist, kann Dittmar nicht sagen: "Immendorffs Schröder gibt sich nicht mehr leger als Sitzfigur wie seine Vorgänger. Er ist nur Kopf - vor einem Hintergrund, der einerseits wie in der Renaissance mit gemaltem Marmor ein elitäres Ambiente vortäuscht, anderseits aber eine Affenschar aufzunehmen hat. Die will Immendorff - anders als einst Gabriel von Max, der die Kunstkritiker als Affen vorführte - als seine Malerkollegen, sich selbst eingeschlossen, gedeutet wissen. So entspricht das Gemälde in seiner Ambivalenz als Travestie eines Würde-Porträts, das zugleich Würde beansprucht, ganz dem Charakter des Porträtierten."

Weiteres: Uta Baier wirft einen Blick auf die bisherigen Kanzler-Porträts von Adenauer bis Kohl. Für wohlverdient hält Michael Pilz, dass Joseph Saddler - Grandmaster Flash - in die Hall of Fame des Rock 'n' Roll aufgenommen wurde. Im Interview mit Rüdiger Sturm spricht Regisseur Marcus H. Rosenmüller über seinen neuen rustikalen Film "Schwere Jungs" und Bayern. Brigitte Preissler besucht die Comiczeichner Mawil, Reinhard Kleist, Andreas Michalke und Fil in ihrem Gemeinschaftsatelier im Prenzlauer Berg. Und Michael Pilz berichtet von einem schrecklichen Erlebnis: Im Radio lief das neue Lied von Herbert Grönemeyer.

FAZ, 19.01.2007

Herbert Grönemeyer hat mal wieder krauses Zeug gedichtet und trägt es in seiner neuesten Single mit der bekannten Emphase vor. Richard Kämmerlings zitiert ein paar Verse und versucht, sich einen Reim drauf zu machen: "'Welche Armee ist heilig / Du glaubst nicht besser als ich / Bibel ist nicht zum einigeln, / die Erde ist unsere Pflicht / Sie ist freundlich, freundlich - / wir leider nicht.' Das ist Herbert Grönemeyer, wie wir ihn kennen, mit jenem auratischen Sound, der Gedanken und Emotionen mit seiner abgehackten, kompressorartigen Stimme zu etwas Drittem, etwas Höherem zusammenschmilzt, in der Regel zu einer eingängigen Synthese von brunnentiefen Einsichten und barem Unsinn."

Christian Geyer fand die Sturmwarnungen gestern richtig, auch wenn das tatsächliche Ereignis die apokalyptischen Erwartungen nicht ganz einlöste: "Falsche Experten weisen immer darauf hin, dass alles schon irgendwie mal dagewesen sei und leiten daraus ab, dass alles nur halb so wild ist. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Alles ist viel wilder, als der Sturm, um den es gestern ging."

Weitere Artikel: Niklas Maak versucht sich an einer ersten Exegese des offiziellen Gerhard-Schröder-Porträts von Jörg Immendorff, der den Altkanzler, vielleicht auch mit Rücksicht auf dessen postpolitische Karriere, als Goldmann darstellte. Hannes Hintermeier glossiert Stoibers Abgang. Georg Heuberger von der Jewish Claims Conference antwortet auf eine Polemik des Kunsthändlers Bernd Schultz gegen die Restitution einiger Kunstwerke in letzter Zeit. Gemeldet wird, dass Stephen Hawking die von der Universität Chicago ausgehängte "Uhr des jüngsten Gerichts" wegen des Klimawandels nun endgültig auf 5 vor 12 stellte. Swantje Karch berichtet über Restitutionsansprüche Carl-Friedrich Wentzels, des Erben eines Widerstandskämpfers, die jetzt von einem amerikanischen Anwalt eingetrieben werden sollen. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Soziologen Karl Otto Hondrich. Melanie Mühl stellt den "Burkini" vor einen Ganzkörperbadeanzug, in dem islamistische Mädchen jetzt schwimmen können, ohne in ihrer Burka abzusaufen.

Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas über rassistische Szenen in einer britischen "Big Brother"-Episode. Thomas stellt auch die German Times vor, die unter Leitung Theo Sommers für ein neues Deutschlandbild sorgen soll. "jöt" mokiert sich über die Netzeitung, die treuherzig ihre Leserstatistiken ins Netz stellt, und natürlich sind es regelmäßig Artikel, die von Pornos handeln, die am häufigsten gelesen werden (und nun hätten wir gern die Statistik über den letzten Denkmalschutzartikel aus dieser Zeitung!) Mark Siemons berichtet, dass in China ein Reporter, der über die Zustände in einem Bergwerk recherchierte, zu Tode geprügelt wurde. Und Robert von Lucius empfiehlt eine Ausstellung über die Frühgeschichte der Zeitung in Wolfenbüttel.

Für die letzte Seite haben sich Heinrich Wefing und Christian Schwägerl mit dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio über Sterbehilfe unterhalten. Dirk Schümer berichtet über Pläne der venezianischen Oper La Fenice. Und Andreas Rossmann stellt den auf der Möbelmesse Köln präsentierten "tugendhaften Sessel" von Sergius Ruegenberg (1903 bis 1996) vor, einen spät verwirklichten Bauhausentwurf.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Handschriften des Frauenklosters Lamspringe in Wolfenbüttel, Gabriele Muccinos Film "Das Streben nach Glück", eine Präsentation der Korrespondenz von Hilde Domin und Erwin Walter Palm im Literaturhaus Frankfurt, ein Konzert des Amar Quartetts mit Hindemith-Werken in Mainz und Sachbücher, darunter eine Neuauflage des "Homo sociologicus" von Ralf Dahrendorf (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 19.01.2007

Der Studienleiter der Evangelischen Akademie Tutzing, Jochen Wagner, vergleicht den Rücktritt Edmund Stoibers mit dem dem des Bayernprofis Sebastian Deisler. Hans-Jürgen Linke lässt sich von Nacho de Paz und Dietmar Wiesner über ihre Arbeit an der Musik zur "Dreigroschenoper" am Schauspiel Frankfurt informieren. Christian Schlüter hält die schnelle Einigung im Verfahren um Peter Hartz in einer Times mager für ganz gerechtfertigt, schließlich sei der "moralische Totalschaden" sowieso nicht adäquat einzuschätzen. Eine einsame Besprechung widmet sich Doug Aitkens Videotektur an den Außenwänden des Moma in New York (dazu gibt es eine eigene, aufwändige Website).

TAZ, 19.01.2007

Im Gespräch mit Marcus Bensmann versichert der usbekische Menschenrechtsaktivist Bachtior Chamrajew im Meinungsteil, dass die Diktatur um Islom Karimow kein Bollwerk gegen den Islamismus ist, sondern ihn sogar fördert. "Wenn man uns die Möglichkeit gibt, normal zu leben und zu arbeiten, ohne die alltägliche Repression, die auch Bauern auf dem Land trifft, dann kann von einer radikalislamischen Gefahr keine Rede sein."

Auf der Medienseite wird Peter Nowak von einer Studie alarmiert, die die mediale Beeinflussung von politischen Debatten für möglich erklärt. Im Kulturteil fragt sich Harald Fricke, wie schwarz Barack Obama wirklich ist. Besprochen werden eine Ausstellung mit zeitgenössischen Fotografien aus Südafrika im Neuen Berliner Kunstverein, neue Alben der Popsängerinnen Carla Bruni und Norah Jones und Michael Crichtons Gen-Roman "Next".

Und Tom.

SZ, 19.01.2007

Auf der Literaturseite beschreibt der in Berlin lebende irakische Autor Najem Wali das Elend des arabischen Schriftstellerverbands: Zu seiner letzten Generalversammlung war der irakische Unterverband mal wieder nicht eingeladen. Denn dieser Verband stehe unter dem Verdacht, durch die Besatzungsmacht Beziehungen "zum zionistischen Feind" zu unterhalten. Die Demokratie gelte in dieser Gesellschaft nicht viel, moniert Wali: "Man könnte eine lange Liste mit Namen von Intellektuellen aufstellen, die in verschiedenen arabischen Ländern eingekerkert waren oder sind. In Saudi-Arabien sitzt der Dichter Ali al-Damini seit Jahren mit drei Kollegen im Gefängnis. In Syrien, wo der Verband seit siebenundzwanzig Jahren einen Sitz hat, vegetieren zahlreiche Intellektuelle in den Kerkern der Baath-Diktatur. Der Dichter Faradsch Birqadar wurde vor fünfzehn Jahren eingesperrt (von ihm erschien kürzlich in Beirut ein Buch über seine Erfahrungen im Gefängnis). Die syrischen Denker Michel Kilo und Arif Dalila sitzen seit einem Jahr in Haft. In keinem dieser Fälle hat der arabische Schriftstellerverband auch nur eine einzige Erklärung veröffentlicht und die Freilassung der Männer gefordert."

Holger Liebs betrachtet Jörg Immendorffs Kanzlerporträt von Gerhard Schröder, eine Heldendarstellung reinsten Wassers, wie er staunt. "Sie wirkt klassisch-ehern, fast wie in Stein gemeißelt. Fest und unbeirrt geht der Blick des im übrigen deutlich verjüngten Mannes in eine ungewisse Zukunft, die der Gestaltung harrt (Gasprom?). Die Büste ist ganz in Gold gefasst, dem Symbol von Sonnenglanz, Segensreichtum und übersinnlicher Präsenz. Kein Zweifel, wir haben es mit einem Herrscherbildnis ganz alter Schule zu tun. Dargestellt ist Gerhard der Große, Gütige, Wundertätige."

Weitere Artikel: Fast eine ganze Seite ist Calixto Bieito gewidmet, dem in den Augen der SZ derzeit "aufregendsten" Opernregisseur. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit ihm über die Erscheinungsformen der Oper, und Reinhard J. Brembeck bemerkt in Bieitos aktueller Inszenierung von Leos Janaceks Kindsmordtragödie "Jenufa" an der Staatsoper Stuttgart ein nuancierendes "Chiaroscuro". Die Schriftstellerin Eva Menasse hält die Kür der ehemaligen Bankerin Claudia Schmied zur österreichischen Kulturministerin nach einigem Nachdenken für die perfekte Wahl. In Brandenburg und wohl auch bald in anderen Bundesländern spitzt sich der Streit zwischen progressiven und traditionellen jüdischen Gemeinden wieder zu, berichtet Alexander Kissler. Ijoma Mangold wundert sich über die Rechtfertigungsreflexe, die Kulturstaatsminister Bernd Neumann in München an den Tag legte. Den Holocaust gab es auch in Nordafrika, erfährt Tomas Avenarius aus einem Buch von Robert Satloff, Leiter des Washington Institute for Near East Policy. Franziska Augstein lobt die Bemühungen, das Fritz-Bauer-Institut zu retten. Juan Moreno fragt sich im Medienteil, was an Christoph Schlingensiefs in der Akademie der Künste produzierter Talkshow "Die Piloten" neu sein soll. "Vielleicht braucht Schlingensief einfach nur Geld."

Besprochen werden Darren Aronofskys Film "The Fountain", die Uraufführung von Alain Platels Stück "Nine Finger" über Kindersoldaten in Brüssel, ein Auftritt des französischen Streichquartetts Quatuor Ebene in München (Joachim Kaiser verspürte "gewisse Tremolo-Schattierungen von Geigen und Bratsche, wie man sie subtiler kaum je erlebt zu haben glaubt".), und Bücher, darunter Konrad Paul Liessmanns "scharfsinnige" Analyse des Bildungssystems "Theorie der Unbildung" sowie der Band "Führerauftrag Monumentalmalerei" mit Fotografien, die das nationalsozialistische Regime am Ende des Zweiten Weltkriegs von historischen Deckengemälden anfertigen ließ (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).