Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2007. Der NZZ erklärt Alexander Kluge, wie er in der Tiefenebene des Internets die alten Gründlichkeiten wiederbeleben will. Die taz erkennt Fortschritte der Demokratisierung in der arabischen Welt. In der FR fürchtet Franz Maciejewski, dass das Kind Sigmund einen Zwei-Mütter-Komplex hatte. Die SZ besuchte ein Woodstock in der Wüste Malis.

NZZ, 29.01.2007

Alexander Kluge spricht im Interview über die Suhrkamp-Kultur, Literatur und das Internet: "Die erste Reihe publizistischer Online-Portale besteht aus Medien wie Spiegel online oder NZZ online usw. Dahinter die zweite Ebene, wo sich jeder äußern darf. Dann gibt es eine dritte Ebene, und da hört das Unqualifizierte auf. Stattdessen: Neuerfindung der Gründlichkeit und des Kommentars. Die Formen, die uns da begegnen, sind unakademisch geordnet, und die einzelnen Elemente können kurz sein, Filme von drei Minuten zum Beispiel. Die Komplexität wächst mit der Vernetzung. Wir können in der Tiefenebene des Internets die alten Gründlichkeiten wiederbeleben. Bis hin zu Thomas von Aquins Methode des Kommentars. Das Einzige, was wir nicht wiederbekommen, ist der Autor, der ruft 'hier bin ich, ich verwandle alle Herbstblätter in eine traurige Stimmung'."

Weitere Artikel: Alena Wagnerova berichtet über die Feiern zum dreißigsten Jahrestag der Charta 77 in Tschechien. Christoph Egger resümiert die 42. Solothurner Filmtage.

Besprochen werden Frischs "Biedermann und die Brandstifter" in Zürich, ein "Don Giovanni" in Essen und die Schweizer Erstaufführung eines Singspiels von Moritz Eggert in Luzern.

TAZ, 29.01.2007

Die Islamwissenschaftlerin Sonja Hegasy studiert für den Meinungsteil den jüngsten "Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung" der UN (online gibt es die Version von 2005) und findet Fortschritte, die ihrer Meinung nach zu wenig beachtet werden. Etwa in Politik und Medien: "Wahlbeobachter haben seit 1999 einer Mehrheit der arabischen Staaten attestiert, dass Fälschungen und die Einschüchterung von Wählern seltener geworden sind. Das arabische Satellitenfernsehen hat mittlerweile eine informierte öffentliche, panarabische Meinung hervorgebracht. Und in Ländern wie Marokko und Palästina haben Nichtregierungsorganisationen die Rolle der marginalisierten Parteien übernommen, was die Meinungsbildung sowie die Rekrutierung von 'Nachwuchspolitikern' betrifft."

Im Feuilleton stellt Gabriele Goettle die Berliner Sozialanwältin Regine Blasinski vor. "Also noch mal, Energieschulden, das ist die Problematik. Die Stromanbieter haben teilweise den Leuten den Strom abgedreht, das war natürlich schlimm, besonders für Leute mit Kindern. Es hat dann einige Entscheidungen gegeben, die gesagt haben, das ist nicht zulässig. Und inzwischen machen das die Stromanbieter auch nicht mehr, dass sie abschalten. Sie versuchen, dass es zu einer Einigung kommt, auf Darlehensbasis beispielsweise. Und dann ist da natürlich immer wieder die Frage, wie zahl ich's ab? Wieder auf 1,50-Euro-Basis."

In der zweiten taz schildert Christina Förch die Lärmbelästigung durch unentwegt demonstrierende Hisbollah-Anhänger vor ihrer Wohnung in Beirut.

Und Tom.

FR, 29.01.2007

Der Psychoanalytiker und Autor Franz Maciejewski nimmt noch einmal zu seinen Erkenntnissen über Minna Bernays als Geliebte von Sigmund Freud Stellung. "Mein Eindruck ist, dass die erotische Annäherung an Minna als Wiederholung einer infantilen Episode zu verstehen ist. Die Forschung hat in den letzten Jahren viele Beweise dafür zusammen getragen, dass das Kind Sigmund einen Zwei-Mütter-Komplex erworben hat, weil seine Erziehung konkurrierend in den Händen seiner Mutter Amalie und der als Ersatzmutter fungierenden Kinderfrau lag. Im Lichte dieser Annahme würde die 'so wohl gedeihende Neurose in 2000 Metern Höhe' verraten, wie sehr der damals 44-jährige Freud noch unter seinen frühkindlichen Traumatisierungen litt."

Weiteres: In der Kolumne Times mager zollt Christian Schlüter Herbert Grönemeyer dafür Respekt, dass der in seinem neuen "Lied 1 - Stück Vom Himmel" bei allem "süßlich-balladesken Klangbrei" von Pflicht spricht. Besprochen werden Damon Albarns Album "The Good, the Bad & the Queen" und Franz Xaver Kroetz' Inszenierung von Ludwig Anzengrubers Bauernkomödie "Der Gwissenswurm" am Münchner Residenztheater.

Welt, 29.01.2007

Die Mailänder Scala hat eine Kleiderordnung erlassen, Kai Luehrs-Kaiser hält dies für eine eher hilflose Maßnahme: "Das empfundene Missverhältnis zwischen dem vielleicht schönsten Opernhaus der Welt und der Achtlosigkeit seiner Besucher verrät Zartgefühl und Traditionssinn. Und zeigt doch hilflos an, dass das Haus den Kontakt zu seinem Publikum verloren hat. Wer einen Dresscode ausgeben muss, organisiert entweder Themenparties - oder kennt den Geschmack seines Publikums nicht."

Weiteres: Rainer Haubrich fragt, in welche Richtung Berlins neue Senatsbaudirektorin Regula Lüscher die Architektur der Stadt führen wird. Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Kleists "Prinz von Homburg" am Berliner Gorki-Theater (in der Eckhard Fuhr ein "schönes Beispiel von Regietheater-Werktreue" sieht), Norah Jones' neues Album "Not too late" (das Michael Pilz "zum Blättern im Manufactum-Katalog" empfiehlt), und auf der DVD-Seite die Kollektion "Masters of Horro", Holger Janckes Dokumentation "Grenze" sowie Filme von Peter Greenaway.

Berliner Zeitung, 29.01.2007

Im Gespräch mit Anke Westphal und Harald Jähner gibt der Chef der demnächst wieder startenden Berlinale, Dieter Kosslick, Auskunft über die Schwerpunkte seiner Arbeit: "Der Georg (George Clooney, Anm. d. Red.) vom Comer See kommt übrigens nicht, er dreht auch. Aber es geht ja auch nicht nur um die Stars - wir kuratieren das Filmprogramm natürlich ästhetisch und inhaltlich."

SZ, 29.01.2007

"Nichts als Musik, Dünen und Himmel" hat Werner Bloch beim malischen Wüstenfestival in der Oase Essakane erlebt. "Auf einer kleinen Steinbühne, dem einzigen soliden Bauwerk weit und breit, drängen sich die besten Bands Malis und ein paar internationale Acts, die alle auf eigene Kosten anreisen. Trotz der chaotischen Organisation sind Stars wie Oumou Sangare oder Habib Koite bester Laune. Die Entdeckung dabei ist Adama Yalomba mit seiner 21-saitigen Kora, einer Mischung aus Laute und Harfe, der das Publikum verzückt." Allein, seinem hochgehaltenen Anspruch, Tuareg und Schwarzafrikaner zu versöhnen, diente es laut Bloch kein bisschen.

Weiteres: Auf die beste aktuelle Don Giovanni-Version musste Jörg Königsdorf bis zum 251. Geburtstag von Mozart warten auf Stefan Herheims Inszenierung im Essener Aalto-Theater.
Um William Turners Aquarell "Die blaue Rigi" zu erwerben, hat die Londoner Tate Galerie das Bild in 60.000 Pinselstriche eingeteilt, die für jeweils 7,50 Euro von Spendern zu erwerben sind, wie Alexander Menden mitteilt. Thomas Steinfeld zitiert verwundert-verhaltene Kritiken zu Daniel Kehlmanns "die Vermessung der Welt" aus England, Frankreich und den USA. Johannes Willms informiert, dass der sich selbst als Aktionskünstler bezeichnende Pierre Pinoncelli wegen einer Hammerattacke gegen Marcel Duchamps "La Fountain" vor Gericht steht. Volker Breidecker resümiert eine Göttinger Tagung über Kunstreligion.

Anne Will soll die Nachfolgerin von Sabine Christiansen werden, meldet Franz Baden auf der Online-Seite. Ein "hochrangiger ARD-Mitarbeiter" habe verraten, dass es "klar" auf Will herauslaufe.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien rund ums Thema "Spectacular City - Architekturfotografie" im NRW-Forum Düsseldorf, Ludwig Anzengrubers Bauernmusical "Der Gwissenswurm" in einer "saublöden" Inszenierung von Franz Xaver Kroetz am Münchner Residenztheater, die Aufführung des Piratenmärchens "Le Corsaire" durch das Bayerische Staatsballet, der von 21 Regisseuren gestaltete Episodenfilm "Paris, je t'aime", Filme von John Woo, Jens Jörgen Thorsen und Steven Spielberg auf DVD, und Bücher, darunter Günter Brakelmanns Biografie von "Helmuth James von Moltke" sowie Pete Dexters Roman "Train" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 29.01.2007

Eberhard Rathgeb schreibt einen recht mokanten Aufmacher über einen Zukunftskongress der Evangelischen Kirche in Wittenberg. In der Glosse verteidigt Hubert Spiegel den Schriftsteller Volker Braun gegen Vorwürfe von Gert Loschütz, der behaupet hatte, ein Gedicht Brauns sei gegen Wolf Biermann gerichtet und dabei verkannte, dass es nicht 1976, sondern 1965 geschrieben worden war. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm glaubt nicht, dass der Sport als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden sollte. Jürgen Kaube beklagt die Einführung von Lehrprofessuren an deutschen Universitäten im Rahmen des "Bologna"-Prozesses. Wolfgang Sandner sammelte Impressionen auf der Musikmesse Midem in Cannes. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, in denen es um die Zukunft Kubas nach Fidel Castro geht. Patrick Bahners gratuliert dem Historiker Rudolf Schieffer zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass die ARD den Vertrag für Harald Schmidt verlängert. Auf der letzten Seite beobachtete Ingeborg Harms auf einer alternativen Modemesse in Berlin eine Reihe beachtlicher junger Talente. Tilmann Lahme meldet, dass den Zuschauern in der Mailänder Scala künftig würdige Kleidung abgefordert wird. Und Irene Bazinger beobachtete Ingrid Caven bei einem Berliner Auftritt.

Besprochen werden Franz Xaver Kroetz' neues Stück "Gwissenswurm" in München, eine Installation von Cerith Wyn Evans im Lenbachhaus, ein Auftritt des Popsängers Jarvis Cocker in Köln und Sachbücher, darunter Jan Philipp Reemtsmas Büchlein über Lessing in Hamburg.