Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2007. In der Welt fordert Ayaan Hirsi Ali den Westen auf, notfalls mit Hilfe der Armee die Türkei vor der Islamisierung zu retten. In der Zeit erklärt Elif Shafak, dass sie ihre Demokratie lieber selber retten will. Im Tagesspiegel erinnert Andres Veiel an die zehn Millionen heimlichen RAF-Sympathisanten. Die FAZ besucht die letzten Aufrechten des russischen Journalismus. Die FR fragt, warum die Freiheit eigentlich nicht zur Leitkultur der CDU gehört. In der NZZ schreibt Richard Wagner über den Streit um die sowjetischen Denkmäler in Osteuropa.

Zeit, 10.05.2007

"Ist es ein Fluch oder ein Segen, in interessanten Zeiten zu leben?", fragt die türkische Schriftstellerin Elif Shafak mit Blick auf die derzeitige Lage in ihrem Land, in dem sich islamische Demokraten und undemokratische Säkularisten gegenüberstehen. "Die Türkei ist ein Land, dessen Modernisierung seit je von einer politischen und kulturellen Elite angestoßen und durchgeführt wird. Wer vertritt die Nation? Die Elite? Die Armee? Die Konservativen? Jede Gruppe betrachtet sich als einzige Vertreterin des Staates, ohne zu bedenken, dass die Nation uns allen gehört. Interessanterweise haben die antiwestlichen Hardliner in der Türkei und die antitürkischen Hardliner in Europa vieles gemeinsam. Beide halten Islam und westliche Demokratie für unvereinbar. Beide sind gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei."

Zum Theatertreffen besichtigt Peter Kümmel die derzeitige Theaterlandschaft in Deutschland und sieht neben vielen tiefen Tälern einen Höhepunkt: Die Schauspielkunst. "Es fällt auf, wie viele tolle junge Bühnenschauspieler es derzeit gibt, die sich begeistert in aussichtslose, peinsame Bühnenlage bringen und sich glorios daraus befreien, lauter Theater-Houdinis in deutschen Gruften."

Weiteres: Ted Gaier, Gründer der Goldenen Zitronen, Musikproduzent und Autor, untersucht am Beispiel der Jägermeister Rock Liga die Eroberung der Musikszene durchs Marketing. Bartholomäus Grill stellt den Bildhauer Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld und sein fünf Kontinente umspannendes "Global Stone Project" vor. Stefan Koldehoff meldet vom Kunstmarkt, dass die Auktionshäuser immer schneller und gewinnträchtiger versteigern.

Besprochen werden die große Retrospektive zu Daniel Richter in der Hamburger Kunsthalle, die Wagner-Spektakel von La Fura dels Baus in Valencia, Paul Verhoevens Widerstandsthriller "Black Book" und Neues aus der Diskothek.

Im Literaturteil widmet sich Susanne Mayer dem neuen Trend unter Autorinnen, ihre Familiengeschichten aufzuschreiben. Für das Dossier untersucht Chrsitian Schmidt-Häuer die Lage des Katholizismus in Lateinamerika, das der Papst diese Woche bereisen wird.

Welt, 10.05.2007

Auf den Forumsseiten schreibt die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali zur Krise in der Türkei. Zu lange haben ihrer Meinung nach die liberalen Demokraten in der Türkei und im Westen unterschätzt, dass eine Islamisierung des Landes auch mit demokratischen Mitteln erreicht werden könne. "Dass die säkularen Liberalen in der Türkei geirrt haben, bedeutet nicht, dass sie nicht erneut versuchen könnten, Atatürks Erbe zu bewahren und der Türkei eine Zukunft auf der Basis westlicher Werte zu ermöglichen. Sobald sie von ihren Demonstrationen heimkehren, müssen sie den Plan zu einer Volksbewegung entwickeln, deren Botschaft individuelle Freiheit lautet. Sie müssen das Vertrauen der Türken in eine liberale Wirtschaftspolitik wiederherstellen und die Organe der Information und Bildung, der Polizei und Justiz zurückgewinnen. Ebenso müssen sie die EU-Führer davon überzeugen, dass Armee und Verfassungsgericht in der Türkei nicht allein Land und Verfassung verteidigen, sondern auch dazu geschaffen wurden, die türkische Demokratie vor dem Islam zu schützen."

Im Feuilleton: Spitzen-Koch Ferran Adria spricht im Interview mit Lothar Schmidt über seine Pläne für die documenta, zu der er als erster Kochkünstler eingeladen ist. Aber so ganz rückt er nicht mit seinem Vorhaben raus: "Das einzige was ich sagen kann ist, wir sind Köche. Wir werden respektvoll mit der Welt der Kunst umgehen. Es wird etwas Konsequentes im Sinne unserer Prinzipien sein und etwas, von dem ich glaube, dass es ein wenig die Schemata über den Haufen werfen wird."

Michael Pilz widmet sich dem Typus der "anstrengenden Sängerin", worunter er etwa Björk, Tori Amos und CocoRosie subsumiert. Alexander Cammann berichtet von einer Veranstaltung zum Verhältnis von Geisteswissenschaft und Feuilleton im Berliner Maxim Gorki Theater. In der Randglosse spießt Hendrik Werner das Projekt "Bürgernahe Verwaltungssprache" auf. Ulli Kulke gratuliert der Diskuswerferin Tamara Press zum Siebzigsten. Gabriele Schultz berichtet von den Kurzfilmtagen in Oberhausen

Besprochen werden die Ausstellung "The Art of Italy in the Royal Collection" in der Londoner Queen's Gallery, Marc Ravenhills neues Stück "Pool (No Water)" im Zürcher Schauspiel, Doris Dörries Film "How to cook your life" und Annette Olesens neuer Film "1:1".

Tagesspiegel, 10.05.2007

Im Interview mit Christiane Peitz vermutet der Dokumentarfilmer Andres Veiel ("Black Box BRD"), dass sich die Öffentlichkeit so an den Mythos RAF klammere, um nicht die eigene Biografie infrage zu stellen: "Warum hatten die Terroristen so viele so genannte Sympathisanten am Haken? Warum sagten 1971 17 Prozent der Bevölkerung: Selbstverständlich würden wir Andreas Baader oder Gudrun Ensslin ein Quartier anbieten, ohne die Polizei zu verständigen? 17 Prozent von 60 Millionen Bundesbürgern, das sind 10 Millionen Menschen! Wo sind die heute, warum wollen die das Thema wegschließen? Die RAF-Debatte kreist hysterisch um die eigentlichen Fragen. Anstelle von Ursachenforschung gibt es einen Alibi-Hype. Es wird viel geplappert und wenig geredet, man wiederholt die alten Bilderschleifen."

FAZ, 10.05.2007

Kerstin Holm besucht die letzten Aufrechten des Moskauer Journalismus - ein Metier, das in dieser Stadt bekanntlich lebensgefährlich ist. Und doch weckt "die Not auch Immunkräfte. Etwa in der neunzehn Jahre alten Nachwuchsjournalistin Jelena Kostjuschenko, die seit einem Jahr für die Novaja gazeta schreibt, jene kleine, kritisch-investigative Zeitung, die mehrmals den gewaltsamen Tod eines Redaktionsmitglieds beklagen musste, zuletzt den von Anna Politkowskaja. Die zierliche Jelena stammt aus der Provinzstadt Jaroslawl. Dort las sie als vierzehnjährige Schülerin, die später einmal Lehrerin werden wollte wie ihre Mutter, zufällig einen Politkowskaja-Artikel und wurde dadurch regelrecht erweckt, erinnert sie sich."

Weitere Artikel: Patrick Bahners berichtet im Aufmacher von einer Tagung über die Erfahrung der Bundesländer und muslimischer Verbandsfunktionäre mit dem Islamunterricht an deutschen Schulen. Niklas Maak fürchtet das Scheitern der in München geplanten "Werkbundsiedlung Wiesenfeld" des japanischen Architekten Kazunari Sakamoto an der städtischen Bürokratie ("Man muss sich nur vorstellen, die Entwicklungsabteilungen bei BMW hätten auf alle Prototypen so reagiert wie Münchens städtische Baugesellschaften: Haben wir noch nie gemacht, ist uns zu teuer, wir bauen lieber die alten Kisten weiter"). Lorenz Jäger schreibt eine aktuelle Glosse zur französischen Ideologie des Republikanismus, die auf der Internetseite "france diplomatie" auch unverhohlen als solche benannt wird .

Andreas Kilb gratuliert dem Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst zu vierzig Jahren Austellungstätigkeit. Gina Thomas nennt die Kandidaten für den Turner-Preis (hier eine Bildstrecke und viele Informationen des Telegraph über die Künstler) Nur ganz trocken wird gemeldet, dass der Springer-Verlag bei der Klage gegen den Plan, die Robert-Koch-Straße ausgerechnet an seinem Firmensitz in Rudi-Dutschke-Straße umzubenennen, gescheitert ist. Christian Geyer kommentiert den Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung "gegen die Dicken" (so Geyer).

Für die Filmseite hat Andreas Rossmann das Frauenfilmfestival in Dortmund besucht. Verena Lueken bespricht eine kleine Tacita-Dean-Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum. Rüdiger Suchsland schickt Notizen vom Filmfestival in Istanbul. Und Andreas Kilb verfolgte eine Podiumsdiskussion mit dem Filmakademiepräsidenten Günther Rohrbach, der die Filmkritiker beschimpft hatte und nun von ihnen zurückbeschimpft wurde.

Auf der Medienseite kündigt der neue Spiegel-Geschäftsführer Mario Frank im Interview mit Michael Hanfeld an, dass das Haus "massiv in den Spiegel und massiv ins Internet investieren" will. Der Grund: "Der Printmarkt schrumpft - das ist seit Jahren so und betrifft nicht vorrangig den Spiegel. Die Printmärkte in ganz Westeuropa schrumpfen, der Spiegel hat sich da ganz hervorragend gehalten. Aber es ist unübersehbar, dass es dort zurzeit kein Wachstum gibt. Im Internet ist es umgekehrt."

Für die letzte Seite lauschte Joseph Croitoru einem Freiburger Vortrag Tariq Ramadans. Dieter Bartetzko kommentiert die Meldung vom Fund der Grabstätte des biblischen Königs Herodes.

Besprochen werden ein Konzert der Band Bloc Party in Köln, Glucks "Orfeo" unter James Levine an der Met, eine Douglas-Gordon-Retro in Wolfsburg und Doris Dörries Dokumentarfilm "How to Cook Your Life" über den kochenden Zen-Priester Edward Espe Brown.

FR, 10.05.2007

Lange haben wir nichts Richtiges mehr von der Leitkultur gehört, jetzt hat die CDU sie im Entwurf zu ihrem neuen Grundsatzprogramm wieder ausgegraben und Peter Michalzik schüttelt den Kopf über die Sinnentleerung des begriffs: "Der zentrale Passus im jetzt vorgestellten Programm lautet: 'Bedingungen unseres Zusammenlebens sind zuerst: die deutsche Sprache zu beherrschen, achtungsvoll dem Mitbürger zu begegnen und zu Leistung und Verantwortung bereit zu sein' ... Die Freiheit, jahrzehntelang das Leitwort des antisozialistischen Union-Mantras, kommt als leitkultureller Inhalt übrigens auch nicht vor. Nur gepaart mit Sicherheit darf sie in dem weichen und defensiven Konsensprogramm des Ronald Pofalla auftreten."

Antje Hildebrandt stellt uns einen brustbehaarten Herren mit Einstecktüchlein namens Roger Cicero vor, der die Nation am Samstag in Helsinki beim European Song Contest vertreten wird. Harry Nutt macht sich Gedanken über die gestrige Veranstaltung "Geisteswissenschaft trifft Feuilleton" im Berliner Maxim Gorki Theater. Ole Frahm feiert ausgiebig den siebzigsten Geburtstag des Comic-Duos Tintin und Milou, hierzulande besser als Tim und Struppi bekannt. Hans-Jürgen Linke interviewt Elliott Sharp. In der Kolumne Times Mager geißelt Daniel Kothenschulte den exzentrischen Dogmatismus der Oberhausener Kurzfilmjury.

Besprochen werden Paul Verhoevens neuen Film "Schwarzbuch" (für Daniel Kothenschulte eine Schmonzette, mit der sich Verhoeven endgültig als "Weltbürger des schlechten Geschmacks" empfiehlt), Doris Dörries Dokumentarfilm "How to cook your life" und Annette K. Olesens Film "1 : 1" (für Heike Kühn "eine eindringliche Studie über die Macht des Vorurteils").

TAZ, 10.05.2007

"Der Geist weht, wie er will", befindet Dirk Knipphals nach dem Besuch der Veranstaltung 'Geisteswissenschaft trifft Feuilleton' im Berliner Maxim Gorki Theater. Cristina Nord spricht mit Paul Verhoeven über seinen Film "Schwarzbuch", Ekkehard Knörer serviert uns heute auf seinem DVDesk Hirokazu Kore-edas Film "After Life". Dietmar Kammerer schickt einen Bericht von den Oberhausener Kurzfilmtagen.

Besprochen werden Debbie Melnyks und Rick Caines Anti-Michael-Moore-Dokumentation "Manufacturing Dissent" (die aus Sicht von Cristina Nord "einer ähnlichen Logik des Verdachts und der Spekulation" folgt, wie sie sie aus Moores Arbeiten kennt) und Jörg Kalts Film "Crash Test Dummies".

Und Tom.

NZZ, 10.05.2007

Die russischen Denkmäler in den ehemaligen Satellitenstaaten des Sowjetimperiums sind bloße Machtdemonstrationen, meint Richard Wagner, und deshalb nicht unbedingt erhaltenswert. "Da in der Beherrschung Osteuropas, bei seiner Sowjetisierung, die Rote Armee, die in kürzester Zeit vom Befreier zum Besetzer geworden war, neben dem NKWD eine entscheidende Rolle spielte, war es wichtig, ihre Präsenz moralisch zu legitimieren. Stalins totalitärem Antrieb ging es nie wirklich um die Ehrung der Gefallenen, sondern vielmehr um den Nutzen, den er für seine Propaganda und seine imperialen Ziele daraus ziehen konnte. Was der einzelne Kämpfer dem Imperium wert war, bezeugt das Schicksal zahlloser Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren und nach ihrer Befreiung umgehend in den Gulag verbracht wurden."

Weiteres: Richard Herzinger zählt die westlichen Bedenken angesichts Chinas Aufstieg auf. Besprochen wird eine Aufführung von Gustav Mahlers sechster Symphonie unter dem Dirigenten David Zinman in der Tonhalle Zürich sowie Paul Verhoevens "überraschend ernsthafter" Film "Black Book" und Doris Dörries Meditation "How to Cook Your Life". Vorgestellt werden zudem Bücher, Viktor Pelewins Roman "Das heilige Buch der Werwölfe" und Urs Schoettlis Porträt der verwundbaren Weltmacht "China" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 10.05.2007

In Erwartung des am kommenden Wochenende in Helsinki stattfindenden European Song Contests machen sich in Thomas Steinfeld melancholische Gedanken breit: Fast alle Schlager des Wettbewerbs seien nach dem gleichen Muster gebaut - "und überdeutlich wird in dieser Form eine Wahrheit offenbar, um die jeder Politiker einen weiten Bogen machen würde: dass nämlich das Nationale, ja selbst das Volkstümliche an diesen Schlagern gar nicht mehr hervortritt. Es mögen in diesem Wettbewerb Vertreter von Staaten gegeneinander antreten, und die Völker, herbeigerufen zur Abstimmung über das Telefon, mögen sich von nationalen Ressentiments leiten lassen, wenn sie votieren. An den meisten Liedern aber ist kaum etwas Nationales, höchstens (und dann vor allem bei den Osteuropäern, die vorläufig beim Globalen noch immer nach etwas Eigenem suchen) eine schwache Farbe, eine Reminiszenz an ein nationales Kolorit."

Weitere Themen: Christopher Schmidt berichtet, dass die von den Politikern angestrebte Zwangsheirat des Deutschen Nationaltheaters Weimar mit dem Theater der Landeshauptstadt Erfurt gescheitert ist. Jörg Häntzschel hat die New Yorker Künstlerin Roni Horn besucht, die in Island eine Bibliothek des Wassers gebaut hat. Reinhardt J. Brembeck porträtiert den Komponisten Nikolaus Brass. Martina Knoben schickt Eindrücke vom Münchner Filmfest. Anke Sterneborg befragt Topher Grace und Thomas Haden Church, wie es ist, im Film Spider-Mans Gegner zu sein. Holger Liebs rätselt unterdessen, ob die Website der Documenta gehackt wurde, oder es sich bei den mysteriösen Vorgängen um eine Documenta-Video-Arbeit von Hito Steyerl um kluge Werbung für das im Juni startende Kunstevent handelt.

Besprochen werden Annette K. Olesens Film "1 : 1 - Auge um Auge", Doris Dörries neuer Film "How to Cook Your Life" (an dem Susan Vahabzadeh die "ausgesprochen seltene Paarung von Humor und Religion" besonders bewundert), Josh Gordons Film "Die Eisprinzen", die Mario-Testino-Schau "Out of Fashion" im Düsseldorfer NRW-Forum, Matthias Hartmanns Inszenierung von Mark Ravenhills Stück "Pool (No Water)" in der Zürcher Schiffbauhalle (die Simone Meier zu der unbefriedigenden Erkenntnis verhalf: "Kunst ist armselige Scheiße, sieht aber total super aus." Und Bücher, darunter David Southwells "Geschichte des organisierten Verbrechens" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)