Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2007. Die Trauerprozession geht weiter. Im Tagesspiegel erinnert Raul Hilbergs Lektor Walter Pehle an die Zeiten, als es unfein war, aus dem Standardwerk des Historikers über die Vernichtung der Juden zu zitieren. Die Berliner Zeitung erinnert an das Verhältnis Hilbergs zu Claude Lanzmann. Für die FR ist Hilbergs knapper, trockener Stil das Gegenteil von Empfindungslosigkeit. FAZ und SZ würdigen Hilbergs unerbittliche Präzision. Außerdem plädiert der Historiker Peter Steinbach im Tagesspiegel für einen erweiterten Begriff des Widerstands.

Tagesspiegel, 07.08.2007

Walter Pehle, der Lektor Raul Hilbergs, der sein Hauptwerk über die Vernichtung der Juden im Fischer-Verlag herausbrachte, erinnert sich an den Historiker und an die Zeit vor seinem Standardwerk: "Es gab keine Umgangsformen, nicht einmal eine Sprache, mit der die ungeheuerlichen Vorgänge hätten zum Ausdruck gebracht werden können. Außerdem: Niemand interessierte sich damals für das Thema, auch Verlage nicht... Als Student habe ich mich Ende der sechziger Jahre durch 'den' damals nur auf Amerikanisch vorliegenden 'Hilberg' durchgearbeitet. Das in einem unbedeutenden US-Verlag erschienene Buch zu zitieren, wurde damals nicht gern gesehen. Niemand konnte voraussagen, dass es eines Tages zu den 50 Klassikern der Zeitgeschichte gezählt werden würde."

Der Historiker Peter Steinbach plädiert im Interview mit Konstantin J. Sakkas für einen weiteren Begriff des Widerstands, der sich nicht nur auf den 20. Juli konzentriert und zum Beispiel auch die Deserteure einschließt - und zwar alle: "Die Frage ist doch nicht, warum jemand desertierte, sondern warum in der Wehrmacht so unglaublich viele Soldaten zum Tode verurteilt wurden. Die meisten Militärrichter haben stereotyp die Todesstrafe verhängt, obwohl sie durchaus Ermessensspielräume hatten. Denen ging es nicht darum, Recht zu sprechen, sondern darum, Menschen zu vernichten. Letztlich sollte jeder, der sich dem NS-Staat entziehen wollte, als Widerständiger anerkannt werden - ganz gleich, ob politisch motiviert oder nicht." Auf Tilmann Lahmes Schmähartikel aus der FAZ von vorletzter Woche (unser Resümee) antwortet Steinbach nur mit einem Satz: "Die FAZ nutzt eine institutsinterne Auseinandersetzung für eine Medienkampagne gegen mich."

Berliner Zeitung, 07.08.2007

Andreas Mix erinnert in seinem Nachruf an das Verhältnis Raul Hilbergs zu einem anderen Pionier der Aufklärung über den Holocaust, Claude Lanzmann: "Mit dem Tagebuch von Adam Czerniakow, dem Judenratsvorsitzenden des Warschauer Ghettos, edierte Hilberg in den Siebzigern eines der eindruckvollsten Zeugnisse der Verfolgung. Claude Lanzmann erkannte in Hilberg einen Wesensverwandten von Czerniakow, dem nüchternen Chronisten des Untergangs. Für Lanzmanns monumentale Shoah-Dokumentation las und kommentierte Hilberg Auszüge aus Czerniakows Tagebuch. 'Du warst Czerniakow', bemerkte Lanzmann am Ende der Sequenz."

TAZ, 07.08.2007

Dirk Knipphals hat Martin Mosebachs neuen Roman "Der Mond und das Mädchen" gelesen und fragt sich, warum gerade dieser Autor "als Zentralgestirn der aktuellen deutschsprachigen Literatur" etabliert wird. "Langweiliger" kann man kaum schreiben, stöhnt Knipphals: "Er schwelgt im gesuchten Detail und in der gewählten Formulierung. In einem merkwürdigen Missverhältnis zu den geschilderten banalen Alltagssituationen ist das Erzählen auf einen gespreizten Grundton gestimmt: 'Hans musste länger im Büro ausharren, danach hatte es sich nicht abwenden lassen, dass er mit einigen jungen Kollegen ein Glas trinken ging.' Das Dandyeske an diesem Erzählstil ist gar nicht das Problem. Wäre doch interessant zu erfahren, wie es in Kreisen zugeht, in denen Einladungen unter Nachbarn nicht einfach nur fad oder anstrengend verlaufen, sondern mit vollem Ernst 'misslingen' können oder in denen viel Getue darum gemacht wird, wenn ein Mann vergessen hat, seine Hosenträger hochzuziehen."

"In primitiven Gesellschaften werden auch die Zigeuner primitiv behandelt", sagt der Musiker Goran Bregovic, der mit seiner Oper "Karmen (With a Happy End") die Zigeunermusik Osteuropas in die Hochkultur aufnehmen will, wie Daniel Bax schreibt. Und er zitiert Bregovic weiter: "Da ist es doch erstaunlich, dass von so einem traurigen Ort wie dem Balkan so fröhliche Musik kommt."

Weitere Artikel: Frank Schäfer schickt einen Bericht vom Metal-Open-Air in Wacken. Isolde Charim informiert, dass ein Wiener Schulrat jetzt Spickzettel erlauben will. In der zweiten taz sieht Anna Lehmann das Unternehmen McPflege, die Pflegekräfte aus Mitteleuropa für zwei Euro die Stunde in Deutschland vermitteln, nur als eine Legalisierung dessen an, was schon gang und gäbe ist.

Besprochen werden der Soundtrack zur Oper "Karmen (With A Happy End)" des Balkan-Musikers Goran Bregovic und die von Katharina Born herausgegebenen Briefe von Nicolas Born der Jahre 1959-1979 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 07.08.2007

Der Islam in der Türkei braucht eine Philosophie, fordert Zafer Senocak. Bei der Modernisierung der Gesellschaft setzt er weiterhin auf das Individualisierungspotenzial der Kunst. "Der türkische Roman, der türkische Film sind die Orte, an denen sich die Modernisierung der türkischen Gesellschaft manifestieren sollte. Dabei geht es nicht darum einen 'muslimischen' Roman zu schreiben. Dieser Versuch wäre ebenso wenig ergiebig wie alle anderen Versuche, Kunst im Namen einer Religion oder einer Ideologie zu schaffen. Wohl aber ist die mentale und psychische Topografie der Menschen, die einem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel ausgesetzt sind, ein wichtiges Thema. Die Spiritualität in einer postmuslimischen Gesellschaft etwa hat noch keinen originellen Ton. Orhan Pamuk und andere Autoren der ihm nachfolgenden Generation aber zeichnen bereits Stimmungsbilder auf, die nicht mehr mit einfachen, auf Polarisierung beruhenden Erklärungsmustern zwischen westlicher Moderne und orientalischer Tradition gedeutet werden können."

Arno Widmann schreibt zum Tod des Holocaust-Forschers Raul Hilberg (mehr). "Man hat Hilberg immer wieder 'Kälte' vorgeworfen. Das können nur Menschen tun, die von den Erregungen des Verstandes noch niemals ergriffen wurden. Hilbergs knapper, trockener Stil ist das Gegenteil von Empfindungslosigkeit. Es ist der Stil eines Menschen, der es verabscheut, die Schilderung der Ermordung von Millionen Menschen durch geschickten Einsatz von Adjektiven aufzuheizen. Wer Hilbergs 'Unerbetene Erinnerung' liest, dem wird klar, dass Hilberg ein von Hitler in die Geschichtsschreibung vertriebener Künstler war."

Weiteres: Arno Widmann verfolgt auch den Interview-Marathon, den Rem Kolhaas und Hans Ulrich Obrist in Kassel veranstaltet haben. Stefan Keim besucht das neue kreative Hauptquartier des Theaterregisseurs und Choreografen Jan Fabre in Antwerpen, wo auch mal die Skulptur eines verwesenden Mädchens hinter der Ecke wartet. Bernd Buder schildert die bedrängte Lage der Journalisten in Serbien, wo schon mal Handgranaten durchs Fenster fliegen. Judtih von Sternburg verabschiedet die Schriftstellerin Anja Lundholm. In einer Times mager glaubt Hans-Jürgen Linke nicht, dass der freigesprochene Max Strauß jemals zum Politiker wird.

Welt, 07.08.2007

Sven Felix Kellerhoff schreibt zum Tod Raul Hilbergs: "Erst als seine Ergebnisse breit rezipiert wurden, begann der Aufstieg der Holocaust-Forschung zur wichtigen Teildisziplin der Zeitgeschichte."

Weitere Artikel: Alexander Cammann verfolgte ein Symposion zur Frage "Was ist deutsch an der deutschen Musik?" im Schloss Neuhardenberg. In der Leitglosse spekuliert Manuel Brug über die Nachfolgefrage in Bayreuth. Manuel Brug packt DVDs vom Rossini-Festival in Pesaro aus. Matthias Heine schreibt zum Tod des Rockmusikers Lee Hazlewood. Besprochen werden eine Ausstellung über Grace Kelly in Monaco und Filme aus Locarno.

Im Forum porträtiert Uwe Schmitt die schwerreiche Talkmasterin Oprah Winfrey, die sich für Barack Obama engagiert.

NZZ, 07.08.2007

Aus Skandinavien versammelt Aldo Keel die jüngsten Aufreger in der Debatte um den Islam in Europa: "Im Fokus steht die in Dänemark aufgewachsene 25-jährige Sozialarbeiterin Asmaa Abdol-Hamid. Als Muslimin weigert sie sich, Männern die Hand zu geben. Im Staatsfernsehen leitete sie - in ein Kopftuch gehüllt - acht Gespräche über Verständigungsprobleme zwischen dem Westen und der islamischen Welt... Auf die Frage des Gratisblattes Nyhedsavisen, ob sie die Scharia über das Grundgesetz stelle, sagte sie: 'Ich sehe keinen Gegensatz.' Dänemark sei ein 'muslimisches Land', weil 'wir Freiheitsrechte, Menschenrechte und eine Wohlfahrtsgesellschaft haben', während im Nahen Osten Unterdrückung und Tyrannei herrschten. Auch 'das Steuersystem ist islamisch'. "

Weiteres: Zu lesen ist Quim Monzo kurze Geschichte "Der Norden des Südens". Besprochen werden eine Schau in der Londoner Tate Modern zu Salvador Dali als Filmemacher, eine Ausstellung zu Berner Keramik im Schloss Oberhofen am Thunersee, Herman Melvilles erstmals übersetztes Versepos "Clarel", Martin Mosebachs Roman "Der Mond und das Mädchen" und Tim Krohns Roman "Vrenelis Gärtli" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 07.08.2007

Ende des 20. Jahrhunderts. Nach George Tabori, Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni ist jetzt Raul Hilberg gestorben. Lorenz Jäger schreibt im Nachruf: "Unendlich viel muss Raul Hilberg, dieser beste Kenner der Quellen, der bis in seine späten Jahre auf der Suche nach neuen Dokumenten war, stets beklagend, wie wenig er noch wisse, in sich verschlossen haben. Was davon nach außen drang, war geprägt von dem Bewusstsein, dass die dem Wissenschaftler auch in diesem Fall gebotene Sachlichkeit sich an dem objektiv irrsinnigen Material brechen musste, mit dem er es zu tun hatte ... Und man konnte erleben, dass er minutenlang aus Versicherungsakten der Zeit nach der 'Kristallnacht' von 1938 vortrug - ganz im Ton jener ratlosen Beamten, die sich nun fragten, ob ihre Anstalten wirklich für die angerichteten Schäden aufzukommen hätten, und wie das Finanzministerium sich 'begütigend' einschaltete. Und plötzlich, erschreckend, nur in einer Nuance, schlug die Stimme wieder um und konfrontierte den Zuhörer mit den wirklichen Konsequenzen."

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet von der Sommerakademie der russische Präsidenten-Jugend "Naschi" am Seliger-See zwischen Moskau und Petersburg. In der Leitglosse bedauert Andreas Platthaus, dass das Okapi im Leipziger Zoo sich auch bei schönstem Wetter versteckt. Wolfgang Schuller nimmt die Urteile gegen Josef Ackermann und Peter Hartz zum Anlass, die außergerichtliche "Verständigung" als Mittel der beschleunigten Prozesserledigung zu kritisieren. Edo Reents schreibt den Nachruf auf den amerikanischen Rockmusiker und Produzenten Lee Hazlewood ("These Boots Are Made For Walking", "Jackson", "Summer Wine"). Richard Kämmerlings schreibt zum Achtzigsten des Germanisten Werner Mittenzwei. Jordan Mejias resümiert das Lincoln Center Festival in New York mit mexikanischen Kastraten, einem "König Lear" als Peking-Oper, einem russischen "Ring der Nibelungen", Robert Wilsons "Les Fables de la Fontaine" und einer Komposition von Phil Glass zu einem Gedichtzyklus von Leonard Cohen. Viel zu kurz ist Ilona Lehnarts Bericht von einem Interview-Marathon mit dem Architekten Rem Koolhaas und dem Kurator Hans Ulrich Obrist als Moderatoren in Kassel, bei dem unter anderen Marie-Luise Scherer befragt wurde.

Auf der DVD-Seite schreibt Verena Lueken über die Statik in Antonionis "L'eclisse" (und hat am Ende eine Frage an Alain Delon). Weiter geht's um DVDs mit Michel Serrault in "Das Verhör", "Das Auge" und als Monsieur Arnaud", Michael Hanekes "Schloss"-Verfilmung mit Ulrich Mühe als Kafkas Landvermesser K., George Taboris letztem Auftritt als Schauspieler in Michael Verhoevens "Mutter Courage" 1995. Und Dietmar Dath macht beim Gucken von Bergman-Filmen eine überraschende Entdeckung: "Spätestens nach achtundvierzig Stunden Dauergucken der Werke dieses Bilderdichters glaubt noch der stumpfste Fußballhooligan, er wäre im Grunde seines missverstandenen Wesens letzlich selbst eine Bergman-Frau."

Auf der letzten Seite informiert uns Gina Thomas ausführlich über die Kunst der sienesischen Renaissance, der ab 24. Oktober eine Ausstellung in London gewidmet ist. Patrick Bahners berichtet von einem Vortrag des Historikers Martin Baumeister über seinen Lehrer Thomas Nipperdey in München.

Besprochen wird die Ausstellung "The Killing Machine und andere Geschichten" mit Werken des kanadischen Künstlerpaars Janet Cardiff und George Bures Miller auf der Darmstädter Mathildenhöhe und Salzburger Klavierabenden mit Grigori Sokolov und Jewgenij Kissin.

SZ, 07.08.2007

Gegen 17 Journalisten laufen derzeit Untersuchungen wegen Geheimnisverrats. Einer davon, Hans Leyendecker, deckt auf, dass es "Staatsgeheimnisse" nicht gibt, allenfalls "verzweifelte Lebenszeichen bürokratischer Apparate: Es gibt uns wirklich! Wir sind!" Sein Fazit: "Öffentliche Verwaltung ist res publica, und was Beamte im Auswärtigen Amt oder im Innenministerium wann getan oder warum unterlassen haben, kann für die Öffentlichkeit von großem Interesse sein, ohne dass diesem ein legitimes Geheimhaltungsinteresse des Apparates gegenüberstünde. Die aufgeklärte Gesellschaft enthüllt laufend Geheimnisse und produziert damit unentwegt neue. Sie funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie der Apparat: Ich enthülle, also bin ich."

Gustav Seibt verfasst den Nachruf auf den Holocaust-Forscher Raul Hilberg (mehr), Autor der "Vernichtung der europäischen Juden". "Berühmt ist Hilbergs Auslegung einer jedem Menschen vertrauten Textsorte: der Bahnfahrpläne. Hier taucht das Wort 'Jude' gar nicht auf, sondern nur ein ominöses 'L', das signalisiert, dass die auf der Hinfahrt vollgestopften Transportzüge auf dem Rückweg leer waren. In dem 'L' steckt jenes Maß an Deutlichkeit, das die Äußerungsform der Bürokratie erlaubt, aber auch gewährleistet. Hilberg blieb dabei immer konkret, detailversessen und unerbittlich präzise."

Weitere Artikel: Maskierte Männer haben am Wochenende das Musee des Beaux-Arts in Nizza gestürmt und vier Bilder von Monet und Sisley gestohlen, berichtet Stefan Koldehoff, der sich skrupellose Sammler aus "Russland oder Fernost" als Auftraggeber vorstellen kann. David Danilo Bartelt sammelt einige historische Anekdoten, die mit dem Strand zu tun haben. Kia Vahland resümiert den wenig ergiebigen Interview-Marathon, zu dem Rem Koolhaas und Kurator Hans Ulrich Obrist am Rande der documenta Kassel luden. "schub" kolportiert Meldungen vom Bedeutungsverlust der CD als Tonträger. In einer "Zwischenzeit" tröstet sich Joachim Kaiser damit, dass dauerhafter Ruhm nach wie vor echte Persönlichkeiten erfordert. Karl Bruckmaier schreibt zum Tod des Sängers und Songwriters Lee Hazlewood, Karl Lippegaus verabschiedet den Jazzbassisten Art Davis .

Besprochen werden eine Ausstellung zum frühen flämischen Landschaftsmaler Joachim Patinir im Prado im Madrid, Todd Phillips' Film "School for Scoundrels - Der Date Profi" und Bücher, darunter Uwe Schulte-Varendorffs Biografie von General Lettow-Vorbeck sowie Sabine Grubers Roman "Über Nacht" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).