Heute in den Feuilletons

Der Akt geht weiter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2008. In der FAZ erklärt Jorge Semprun, warum er Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" so bewundert. Außerdem kritisiert der britische Philosoph John Gray die grüne Position zur Klimakrise als illusorisch. Die NZZ beklagt die politische Krise Italiens und die Welt die Krise in den deutsch-italienischen Kulturbeziehungen. Der Tagesspiegel kritisiert die FAZ-Inszenierung um Littells Roman "Die Wohlgesinnten". In der taz lernen wir: Green Porno, das sind Kurzfilme fürs Handy über Tiere, die Sex haben. Und die sind von und mit Isabella Rossellini.

TAZ, 08.02.2008

Green Porno, das sind Kurzfilme fürs Handy über Tiere, die Sex haben. Und dabei kann es ganz schön brutal zugehen, erklärt Regisseurin Isabella Rosselini im Interview: "Es ist oft ganz schön brutal. Stellen Sie sich vor: Die Gottesanbeterin frisst während des Akts den Kopf des Männchens. Dessen Nervensystem ist so eingerichtet, dass es auch ohne Kopf noch weiter Sex hat. Das Weibchen kaut auf dem Kopf des Männchens herum, aber der Akt geht weiter. Das machen wir auch in 'Green Porno'." (Das Foto zeigt Rosselini, sexed up als Schnecke.)

Weiteres: Dirk Knipphals stellt die Shortlist für den Leipziger Buchpreis vor. Zwei Mitglieder der Berlinale-Jury haben kurzfristig aus "wichtigen persönlichen Gründen" abgesagt, teilt Dietmar Kammerer mit. Besprochen werden die Ausstellung "All Inclusive" in der Frankfurter Kunsthalle Schirn und CDs von Christian Prommer und Cat Power.

Auf den Berlinaleseiten werden besprochen Guy Maddins Experimentalfilm "My Winnipeg", Paul Thomas Andersons Wettbewerbsbeitrag "There Will Be Blood", Martin Scorseses Rolling-Stones-Film "Shine a Light", Charles Burnetts Film "My Brothers Wedding" und zwei Filme über Homosexualität/Transsexualität und Islam: "Be Like Others" und "A Jihad for Love". Außerdem gibt es 16 mm Diederichsen.

Auf der Meinungsseite erklärt Paul Krugman im Interview, warum die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise noch längst nicht gebannt ist. Robert Misik macht sich Gedanken über die Grenzen der Religionskritik. Und Dilek Zaptcioglu sieht in der Kopftuchfreiheit für türkische Studentinnen nichts als Repression.

Schließlich Tom.

FR, 08.02.2008

Für Daniel Kotheschulte passt die Luis-Bunuel-Retrospektive der Berlinale bestens zu diesem Festival "mit all seiner Pädagogik, dem Talentcampus, der Debütfilmreihe und den Politfilmen im Wettbewerb": "Es gibt keinen Filmstoff, der nicht von seinen Lehren profitierte: Etwa seine Verachtung gegenüber moralisch untadeligen Figuren - sie existierten für ihn einfach nicht. Oder dem 'schönen Bild': Als der mexikanische Meisterkameramann Gabriel Figueroa eine Einstellung des Films 'Nazarin' zur eigenen Zufriedenheit arrangiert hatte, komplett mit Bergmotiv, Wölkchen und Kaktus im Vordergrund, verkündete Bunuel: 'Schön, und nun drehen wir die Kamera um, damit wir vorn diese vier Ziegen und den kahlen Hügel im Hintergrund sehen.'"

Weiteres: Im Interview mit Stefan Schickhau spricht die Regisseurin Sandra Leupold über ihre Mission für die Oper: "Ich leide, wenn Oper nicht zu glauben ist und langweilt und nur Zeit kostet und keinen Gewinn bringt." Daland Segler berichtet, dass die ARD nun doch ihren für Sonntag geplanten Tatort abgesetzt hat, bei dem es um einen Ehrenmord ausgerechnet in Ludwigshafen geht. Sandra Danicke gefällt das Konzept der Art Rotterdam, junge Galerien zu präsentieren, die "ungewöhnliche Kunst zu zivilen Preisen" anbieten. Martin Dahm gruselt es bei dem Gedanken daran, dass in Spanien demnächst Anne Franks Geschichte als Musical auf die Bühne kommt. In Times mager denkt Harry Nutt über den Unetrschied von Regierung und Opposition nach.

Besprochen werden die Ausstellung zum "Action painting" in der Fondation Beyeler, Enoch zu Guttenbergs Einspielung von Bruckners vierter Symphonie und Björn Kerns Sterbehilfe-Roman "Die Erlöser-AG" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 08.02.2008

Eckhard Fuhr unterhält sich mit Angelo Bolaffi, dem Leiter des italienischen Kulturinstituts in Berlin, der eine wachsende kulturelle Entfremdung zwischen Italienern und Deutschen beklagt. "So sei etwa die deutsche Debatte um Stauffenberg, den 20. Juli und die Verfilmung mit Tom Cruise in Italien kaum wahrgenommen worden. Kaum jemand kenne dort Stauffenberg. Andererseits sei in Deutschland auch noch niemand auf die Idee gekommen, Stauffenbergs italienische Parallelfigur Badoglio ins Spiel zu bringen."

Weitere Artikel: Manuel Brug unterhält sich mit Simon Rattle über seine Philharmoniker ("Sie alle sind wundervoll als Gruppe, doch einzeln können sie einem ganz schön zusetzen!"). Charles Gerhard Rump kritisiert neueste kunstfeindliche Äußerungen des Kardinals Meisner, die die Marktpreise für Gerhard Richters Werke allerdings nicht im geringsten beeinträchtigen können. Hanns-Georg Rodek bespricht Paul Thomas Andersons Berlinale-Film "There will be Blood". Peter Dittmar fürchtet, dass das "Mittelalterliche Hausbuch" von Schloss Wolfsegg ins Ausland verkauft werden soll. Und Peter Zander ist nicht richtig zufrieden mit Martins Scorsese Stones-Film "Shine a Light": "Sieben Achtel des Films sind ein bloßer, reiner Konzertmitschnitt."

NZZ, 08.02.2008

Rudolf Stamm schreibt zur politischen Dauerkrise in Italien, die es nicht erst seit gestern gebe und die auch nicht "von den stinkenden Abfallhaufen in Neapel" rühre: "Das eigene politische Lager zu erpressen, gehört zur systemimmanenten Normalität. Die Kommunisten in der Regierung Prodi übten sich ebenfalls in diesem Spiel. Unter Berlusconi war es die Lega Nord, die ihre Auffassung über Verfassungsreform und Wahlrecht durchsetzte. Die Erstere ist inzwischen sang- und klanglos gescheitert, doch nach dem monströsen, extreme Zersplitterung begünstigenden Wahlrecht müssen die Italiener im April ein weiteres Mal über die politischen Geschicke des Landes entscheiden. Der politische Hausverstand sagt, dass nach dem Versagen der Linken nun wieder die Rechten an der Reihe seien."

Weitere Artikel: Peter von Matt schreibt zum hundertsten Geburtstag des Germanisten Emil Staiger. Claudia Schwartz entdeckt in Hugh Stubbins' Berliner Kongresshalle ein Wahrzeichen Westberlins. Jan-Heiner Tück berichtet von Irritationen im christlich-jüdischen Dialog, seit mit dem wieder zugelassenen alten Ritus eigentlich auch für die "treulosen Juden" gebetet werden müsste. Auf der Pop-und-Jazz-Seite unterhält sich Claus Lochbihler mit Pat Metheny über dessen neues Album "Day Trip".

Auf der Medienseite erklärt Gy. anhand der zahlreichen Schweizer Gratis-Zeitungen den Unterschied zwischen Gratis und Schein-Gratis: "Der Brauch des 'Free Lunch' in der ursprünglichen Form veranschaulicht die Zusammenhänge treffend: Die Offerte eines Gratis-Mittagessens diente seinerzeit amerikanischen Saloon-Betreibern dazu, Kunden anzuziehen, die es dann - einmal im Lokal - nicht beim Essen bewenden liessen, sondern durchs Konsumieren von Getränken Geld einbrachten, und zwar typischerweise einiges mehr, als die Wirte für die Gratis-Mahlzeit aufzuwenden hatten."

Außerdem spricht "ras" mit Michael Haller über die Gratiszeitungen. "set" stellt die seltsame Internet-Ökonomie dar, in der nur derjenige viel Geld verdient, der seine Dienste kostenlos zur Verfügung stellt.

Tagesspiegel, 08.02.2008

Bereits gestern kritisierte Gregor Dotzauer die FAZ-Inszenierung um Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten": "Zu welchem Ergebnis man auch kommen mag: Es kann nicht über den Zerfall einer breiten literarischen Öffentlichkeit hinwegtäuschen, die hier noch einmal simuliert wird." Aber stimmt es, wie Dotzauer in seiner Kritik der von der FAZ angstoßenen Debatten behauptet, dass der Name von Heinrich Himmler in Martin Mosebachs Büchner-Preisrede "erst noch hineinredigiert wurde, um sie offen anstößig zu machen"? (Wie soll das gelaufen sein - hat Mosebach seine Rede von der FAZ erst redigieren lassen, bevor er sie gehalten hat?)

Aktualisierung von 11.55 Uhr zu unserer Frage: Leser schicken uns einen Link der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die Mosebachs Rede als pdf dokumentiert. Der Name Himmler steht tatsächlich nicht drin, allerdings zitiert Mosebach Himmlers Satz "... Dies erkannt zu haben und dabei anständig geblieben zu sein..." Die Anspielung wird in der FAZ-Version der Rede also durch die Namensnennung nur kenntlich gemacht.

FAZ, 08.02.2008

Der britische Philosoph John Gray kritisiert grüne Antworten auf die Klimakrise als bequem und illusorisch: "Es gibt nur einen vernünftigen Weg: Wir müssen den Bedarf an fossilen Brennstoffen einschränken und, da niemand auf sie verzichten wird, sie sauberer machen. Also müssen wir Technologien einsetzen, die viele Umweltschützer mit abergläubischem Horror betrachten. Bei der Atomenergie gibt es bekanntlich Probleme mit der Sicherheit und der Müllentsorgung. Sie ist keineswegs das Allheilmittel, doch sie zu verteufeln ist schlimmste grüne Ideologie."

Im Interview äußert sich der Schriftsteller und KZ-Überlebende Jorge Semprun begeistert über Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten": "Die Erinnerung an den Genozid wie an die Resistance stirbt, wenn sich nicht junge, nachgeborene Schriftsteller dieser Stoffe annehmen. Bald wird es keine überlebenden Zeitzeugen mehr geben. Natürlich haben wir die Zeugnisse der Opfer und die Dokumente in den Archiven. Die Historiker werden weiter über den Zweiten Weltkrieg schreiben. Aber nur die Dichter können das Erinnern erneuern. Das hat jetzt ein vierzigjähriger Amerikaner, der Französisch schreibt, gemacht. "

Weitere Artikel: Nicht nur die G 8-Unterrichtsreform, auch das Problemfeld überehrgeizige Eltern gehört auf die Tagesordnung. Findet Christian Geyer und freut sich, dass die erprobte Polemikern Lotte Kühn ("Lehrerhasserbuch") es mit ihrem neuen Buch "Supermuttis" genau dahin jetzt auch setzt. Zwei freie Plätze im Berlinale-Palast hat in der ersten von zwei Glossen Michael Althen zu vermelden: Die Jury-Mitglieder Susanne Bier und Sandrine Bonnaire haben ihre Teilnahme leider absagen müssen. Und in der zweiten Glosse befasst sich Jochen Hieber mit Fußballerlegendenstatistiken. Peter Körte hat sich mit dem Filmemacher Todd Haynes über seinen Bob-Dylan-Film "I'm Not There" unterhalten. Gerhard Rohde berichtet von der "Musica Viva" in München. Mit dem rasant nach Westen sich ausbreitenden Seefrosch macht uns Joachim Müller-Jung bekannt. Andreas Rossmann schreibt zum Tod der ehemaligen Wuppertaler Museumsdirektorin Sabine Fehlemann.

Auf der Berlinale-Seite lobt Andreas Platthaus Martin Scorseses Stones-Dokumentation "Shine A Light" ohne Überschwang, aber doch als "Auftakt nach Maß". Bert Rebhandl stellt das Programm der Experimental- und Kunstfilmrubrik "Forum Expanded" vor, in dem unter anderem Isabella Rossellinis Insekten-Kurzfilme "Green Pornos" zu sehen sind. Daneben finden sich Kritiken zu Guy Maddins "My Winnipeg" im Forum und zu Eran Riklis' "Lemon Tree" im Panorama.

Auf der Medienseite berichtet Karen Krüger über die Absetzung des "Tatorts" am kommenden Sonntag. Er handelt von Ehrenmord in einer türkischen Familie und spielt ausgerechnet in Ludwigshafen.

Besprochen werden ein Konzert von Jacques Palminger im Frankfurter Mousonturm, eine Amsterdamer Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail", die Düsseldorfer Ausstellung "Fotos schreiben Kunstgeschichte", Kasi Lemmons' Film "Talk To Me" und Bücher, darunter Knud Romers Roman "Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.02.2008

Willibald Sauerländer schwelgt in der großen Mark-Rothko-Retrospektive in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München im Rausch der Farbe. "Andere Maler haben sich der Monochromie verschrieben. Rothko erfüllt seine Bilder mit dem ganzen Farbkreis: mit allen Brechungen von Rot, Orange und Purpur, aber auch mit dem gefährlichen, stechenden Gelb, selten nur mit dem unspirituellen Grün, aber gerne mit Braun- und Pflaumentönen, am liebsten wohl mit dem dunklen, nächtigen Blau, der Farbe der Romantik."

Weitere Artikel: Regisseur Paul Thomas Anderson beharrt im Interview mit Thomas Häntzschel darauf, dass sein zweieinhalbstündiges Öl-Epos "There Will Be Blood", das heute auf der Berlinale gezeigt wird, ohne Stil, Politik und sonstigen Tand auskommt. Malte Dahlgrün weist auf die infam niedrige Besoldungklasse W hin, die dazu führt, dass Schullehrer mehr verdienen als Universitätsprofessoren. Willi Winkler glossiert die stargesprenkelte Verleihung der Goldenen Kamera in Berlin. Rockstars waren noch nie politisch korrekt, meint Andrian Kreye zum Auftritt von Deep Purple bei Gazprom. In Stockholm ist ein Großteil des bildnerischen Nachlasses von Peter Weiss aus dem Keller der Witwe gestohlen worden, informiert Thomas Steinfeld.

Auf der Literaturseite staunt Tim B. Müller über Urs Marti, der in einem Artikel in der Internationalen Zeitschrift für Philosophie Marx und Tocqueville parallel liest und damit zumindest letzeren aktuelle Relevanz entlockt. Lothar Müller resümiert angeregt einen Vortrag von Glenn W. Most, der im Berliner Wissenschaftskolleg über den ungläubigen Thomas sprach.

Im Medienteil bremst Hans Leyendecker die investigativen Kollegen von der FR, die zu Unicef recherchiert hatte: Die Praxis, Rechercheergebnisse den Strafverfolgern zuschanzen, sei "grenzwertig".

Besporchen werden Gert Hagen Seebachs Inszenierung von Hans Werner Henzes erster Oper "Boulevard Solitude" am Nürnberger Opernhaus, Martin Scorseses "furioser" aber nicht ganz ernster Rolling-Stones-Dokumentarfilm "Shine a Light", der gestern die Berlinale eröffnete, und Bücher wie Alison Bechdels Comic-Roman "Fun Home".