Heute in den Feuilletons

"Giordano redet gefährlichen Unsinn"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2008. In der FAZ erklärt der der Chef der Harvard-Bibliothek Robert Darnton, warum er fast alle Forschungsarbeiten der Harvard-Professoren online zugänglich machen will. In der NZZ erfahren wir den Unterschied zwischen Nutzpflanzen- und Zierpflanzenbesitzern in der Ukraine. Die Welt setzt sich mit dem Antisemitismus Arthur Koestlers auseinander. Die FR polemisiert gegen ein Gespräch zwischen Wolfgang Schäuble und Ralph Giordano in der Sonntags-FAZ. Die SZ sieht den Kampf ums Kopftuch in der Türkei als Klassenkampf.

NZZ, 03.03.2008

Der Berliner Autor Christoph D. Brumme erzählt auf einer ganzen Seite, wie er mit dem Rad quer durch die Ukraine gereist ist und weiter durch Russland bis nach Saratow am Don: "Die Leute mit den Nutzpflanzen sind die besseren Erzähler. Hier bedarf eine Einladung an Gäste keiner Vorbereitung, die Bereitschaft zum Feiern ist jederzeit wach. Selten nur kommt ein Fremder vorbei, selten fragt jemand nach ihren Meinungen. Die Zierpflanzen-Besitzer verfügen über ein Konto, sie haben Kaufverträge abgeschlossen, und bei ihnen kann man viel kaputt oder schmutzig machen. Das wirkt sich auf die Bereitschaft zum Erzählen aus."

Weitere Artikel: Knut Henkel berichtet vom sich deutlich verstärkenden Exodus kubanischer Künstler in die USA: "Es sind - anders als in den Flüchtlingswellen der achtziger und neunziger Jahre - zumeist die jungen, gut ausgebildeten Kubaner, die gehen." George Waser wirft einen Blick auf die neuen Wolkenkratzer in London, gegen die seine Königliche Hoheit Prinz Charles so traditionalistisch und wüst zu schimpfen beliebt. Allerdings stelle sich angesichts solcher Beinamen wie "Gurke", "Käseraffel" oder Walkie-Talkie" die Frage nach ihrem intellektuellen Gehalt. Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod des Philosophen Arnold Künzli.

Besprochen werden eine Ausstellung zur "Wohnkultur der arabischen Welt" in Weil am Rhein und die Uraufführung von Francisco Obietas Oper "Destino Tango" in St. Gallen.

Berliner Zeitung, 03.03.2008

Birgit Walter schreibt über den Perlentaucher, der den Auftrag für den Newsletter Eurotopics verloren hat. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Projekt nach einem "ziemlich gemeinen Pamphlet" in der FAZ gegen den Perlentaucher und Eurotopics vor einigen Monaten neu ausgeschrieben und dem Osteuropa-Netzwerk n-ost zugeschlagen: "Für den Perlentaucher indes könnte es eng werden. Nicht nur, weil ihm die Einnahmen für die 'Eurotopics' fehlen, sondern weil er außerdem eine weitere Klage von FAZ und Süddeutscher Zeitung überstehen muss."

TAZ, 03.03.2008

Für die vorderen Seiten mischt sich Dilek Zaptcioglu unter eine Demonstration gegen den Rektor der Istanbuler Universität, der trotz entsprechender Gesetzesänderung keine Studentinnen mit Kopftuch auf den Campus lassen will. "In den Augen linker, säkularer Frauen wie der Schriftstellerin Latife Tekin reden die Verhüllten zwar viel von Freiheit, lassen jedoch stillschweigend zu, dass ihre Moral die Nichtverhüllten quasi als Huren hinstellt. Nicht praktizierende Musliminnen fühlen sich provoziert: 'Niemand soll mir sagen, ich sei ungläubig!', ruft eine ältere, unverhüllte Passantin den Demonstranten zu: 'Ihr seid fanatisch! Ab in den Iran!'"

Im Feuilleton korrigiert Andreas Fanizadeh die Kollegen von Cicero, die einen Artikel zu Götz Alys "Unser Kampf" mit Bildern von nackten Hintern unterstützten: Das notorische Kommune1-Bild stamme nicht von 1968, sondern 1967, und das zweite Bild nicht von der NS-Freikörperkultur aus dem Jahr 1938, sondern von 1924. In der zweiten taz gratuliert Kirsten Reinhardt der "moralistischen" Kinder- und Jugendbuchautorin Gudrun Pausewang zum achtzigsten Geburstag.

Besprechungen widmen sich Nuran David Calis' "schwärmerischer" Inszenierung von Schillers "Kabale und Liebe" am Schauspiel Hannover und den Büchern über die Liebe im Alter von Philip Roth und Martin Walser ("Bei allem gebotenen Respekt für die Alten", meint Wiebke Porombka, bleibt es "legitim zu fragen, ob man so was wirklich lesen will".)

Und Tom.

Welt, 03.03.2008

Krisztina Koenen beschäftigt sich zum 25. Todestag des jüdischen Schriftstellers Arthur Koestler vor allem mit dessen "Flucht vor dem Judentum", die sich als eine Art antisemitischer Selbsthass artikulierte: "Auch aus seinen Essays spricht der Hass gegen die europäischen Juden, und immer wieder die Hoffnung, dass sich unter der Sonne Israels eine neue Rasse herausbilden werde, die statt wulstiger Lippen und gebogenen Nasen blond und blauäugig der Zukunft entgegen schreitet."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek beschreibt das ganz und gar unglaubliche Leben des Kriegshelden, Abenteurers und Schauspielers Charles Fawcett. Auch Papst Benedikts revidiertes Karfreitagsgebet bleibt als möglicherweise "versteckter Aufruf zur Judenmission" umstritten, berichtet Gernot Facius. Berlins Kulturstaatssekretär Andre Schmitz möchte den 2010 auslaufenden Vertrag mit Frank Castorf bis 2013 verlängern, meldet skin. Peter Dittmar war dabei, als Brigitte Seebacher in Berlin ein Buch mit den Reportagen Willy Brandts für das Osloer Arbeiderbladet vorstellte. Philip Bailey von Earth Wind and Fire gibt im Interview ein Beispiel für positives Denken: "das sieht so aus, dass man einfach keine negativen Gedanken an sich heranlässt". Hannes Stein schickt einen Brief aus Brooklyn. Das Theaterprojekt Rimini Protokoll hat für sein Stück "Karl Marx: das Kapital. Erster Band" den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen, berichtet Sören Kittel.

Besprochen werden Burghart Klaußners Inszenierung von Thomas Bernhards "Der Ignorant und der Wahnsinnige" mit Otto Sander in Bochum, David Mamets Stück "November" am Broadway, eine total verunglückte Aufführung von Verdis Oper "Die Macht des Schicksals", eine Ausstellung früher holländischer Malerei im Rotterdamer Boijmans van Beuningen Museum, die Aufführung von Gershon Kingsleys Oper "Raoul" in Bremen, eine Ausstellung zum Schaffen des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au im Wiener Museum für Angewandte Kunst, der letzte, bisher unveröffentlichte Comicband über die "Fantastic Four" und das Buch "Brehms verlorenes Tierleben", das ausgestorbene Tierarten wie den Östlichen Bougainville-Langnasenbeutler und den Big-Thicket-Schweinenasenskunk würdigt.

FR, 03.03.2008

Arno Widmann mahnt Ralph Giordano ab, der in einem in der gestrigen FAS abgedruckten Gespräch mit Wolfgang Schäuble mehr als "leere Worte" im Umgang mit Islamisten fordert. "Giordano redet gefährlichen Unsinn. Will er ernsthaft, dass der Innenminister nicht nach dem Gesetz vorgeht? Er hat keine andere Aufgabe als die Verteidigung des Rechtsstaates. Es gibt schon viel zu viele Stellen, an denen Schäuble den Rechtsstaat zu beschneiden versucht. Jetzt will Ralph Giordano ihn auch noch dazu bringen, islamische Bundesbürger unter ein Sonderrecht zu stellen. Giordano hat nicht mehr alle Tassen im Schrank."

Weiteres: Am Dienstag wird David Montgomery in Berlin wahrscheinlich auch mit Vertretern des Redaktionsbeirats der Berliner Zeitung sprechen, berichtet Harry Nutt. Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Eduard Limonows "Fuck off, Amerika" sowie die "farbenreiche" Reihe von elf Uraufführungen junger Schweizer Autoren im Theater Bern.

SZ, 03.03.2008

In der Türkei beginnt heute das erste Semester, in dem Studentinnen mit Kopftuch an die Uni dürfen, und im Land ist der Teufel los, berichtet Kai Strittmatter, es geht ja auch mindestens "um die Seele des Landes, die Freiheit des Volkes oder das Überleben der Republik": "Die Kemalisten etwa beklagen seit Jahren, das Kopftuch nehme überhand. Dabei haben gleich zwei türkische Studien im vergangenen Jahr ergeben, dass die Zahl der Kopftuchträgerinnen in den letzten zehn Jahren abgenommen hat. Aber die Kopftücher sind sichtbarer geworden. Weil konservative anatolische Familien in die Städte gezogen sind. Aber auch, weil ihre Töchter heute Dinge machen, die ihre Mütter nie gewagt haben. Es ist auch ein Stück Klassenkampf: Solange nur Putzfrauen und Bäuerinnen Kopftuch trugen, kümmerte es die urbane Elite nicht. Erst seit Kopftuchträgerinnen auch Ärztinnen werden wollen und in schicken Läden einkaufen, werden sie als Bedrohung gesehen."

Begleitend dazu bespricht Christopher Schmidt eine Münchner Inszenierung von Orhan Pamuks "Schnee", bei der er allerdings den Streit ums Kopftuch um seine Dramatik gebracht sieht: "Brav aufgereiht, sagen sieben Stimmen die Sätze auf, und weil sie dadurch kommentierend auf Distanz bleiben, trampeln sie nicht nur den politischen Zündstoff aus, sondern auch das Licht der Erkenntnis."

Weiteres: Falls Hillary Clinton morgen verliert, ist auch ihr noch vor kurzem als genial geltender oberster Wahlkampfberater und PR-Mann Mark Penn widerlegt, hält Lutz Lichtenberger fest. Birgit Dankert überreicht Glückwünsche an die nun achtzigjährige Atom-Autorin Gudrun Pausewang. Jörg Häntzschel ist wie viele amerikanische Kritikerkollegen nicht zufrieden mit Renzo Pianos Erweiterungsbau für das Los Angeles County Museum of Art. Lobbyistisch geprägtes "Ticketdenken" herrschte bei der Expertenanhörung zum Stammzellengesetz im Bundestag, schimpft Alexander Kissler.

Auf der Literaturseite findet sich Ilija Trojanows Nachwort seiner demnächst erscheinenden Auswahl von Reportagen Egon Erwin Kischs. "Letzte Woche hätte ich ihn beinahe erwischt."

Besprochen werden David Pountneys Version von Giuseppe Verdis "La forza del destino" an der Wiener Staatsoper, Frank Castorf "unsagbar trister" Abend nach Eduard Limonows Roman "Fuck off, Amerika" an der Berliner Volksbühne, Douglas Wolfspergers Gebär-Dokumentarfilm "Der lange Weg ans Licht", DVD-Neuerscheinungen wie Kollektionen von Claude Chabrol und Jacques Rivette und Bücher wie Jason Goodwins Wanderbuch "Von Danzig bis Istanbul" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 03.03.2008

Jordan Mejias unterhält sich mit dem berühmten Buch-Historiker Robert Darnton, der heute die Bibliothek der Harvard Universität leitet und beschlossen hat, die meisten Forschungsergebnisse der Harvard-Professoren frei online zu stellen. Neben der Internetrevolution an sich gibt es dafür auch einen handfesten ökonomischen Grund: "Den Hintergrund dafür bilden die eskalierenden Preise akademischer Zeitschriften, was eine Bedrohung für das Wesen der Forschung darstellt. Es wäre falsch, unseren Gang ins Internet als Deklaration gegen die Verlage zu verstehen, die teure Zeitschriften herausgeben. Sie werden ihre Verfahrensweise nicht ändern, nur weil Harvard jetzt ein 'Open access'-Depot hat."

Weitere Artikel: Im ganzseitigen Feuilletonaufmacher wirft Ludger Fittkau einen kritischen Blick auf die Schweizer Sterbehilfe-Organisation "Dignitas". Edo Reents schreibt zum Tod des Schlagersängers Les Humphries.

Auf der Medienseite schreibt der Abteilungsleiter Hörspiel im Bayerischen Rundfunk Herbert Kapfer über die Renaissance des Hörspiels im Zeichen des Hörbuchs. Andreas Kilb empfiehlt Ken Burns' Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg, die in mehreren Teilen auf Arte läuft. Gemeldet wird, dass eine ostasiatische Murdoch-Zeitung es nicht wagte, ein kritisches Buch über den Konzernherren zu besprechen. Und Gina Thomas berichtet über eine späte Kampagne des britischen Massenblatts Daily Mail zur Einführung von Jute- statt Plastiktaschen.

Für die letzte Seite ist Dirk Schümer früh aufgestanden, um Impressionen vom Fischmarkt in Venedig zu sammeln. Marius Meller schreibt ein Profil der amerikanischen Autorin Stephenie (sic!) Meyer, die mit Vampirromanen, J. K. Rowling auf der Bestsellerliste ablöst. Und Stephan Sahm annonciert eine Expertenbefragung zu Stammzellforschung im Bundestag.

Besprochen werden eine Inszenierung von Eduard Limonows "Fuck off Amnerica" an der Berliner Volksbühne, ein Konzert Van Morrisons in Frankfurt, Vivaldis "Olimpiade" in Heidelberg, Thomas Bernhards Stück "Der Ignorant und der Wahnsinnige" in der Regie von Burghart Klaußner am Burgtheater, eine Ausstellung der Kunstsammlung von Gunther Sachs in Leipzig und eine Dramatisierung von Orhan Pamuks Roman "Schnee" an den Münchner Kammerspielen, außerdem Bücher, darunter ein Essayband von Peter Handke.