Heute in den Feuilletons

Suchtcharakter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2008. In der FR fordert Beppe Grillo die Abschaffung des Journalisten-Ordens. In der Welt verspricht Buchmessenchef Juergen Boos hoch und heilig, dass neben China auch Tibet auf der nächsten Buchmesse präsent sein wird. Die FAZ freut sich über Kunstwerke von Frauen im Stockholmer Moderna Museet. In der SZ erklärt Volkmar Sigusch: Nicht jede schmutzige kleine Perversion braucht einen Arzt.

FR, 08.04.2008

Im Interview mit Aureliana Sorrento erklärt Italiens beliebtester Anti-Politiker Beppe Grillo, warum die Italiener keine Toten wählen sollten, wie beim nächsten Leck-mich-am-Arsch-Tag das Land aus dem Koma geweckt werden soll und welche Volksbegehren er auf den Weg bringen will: Zum Beispiel für die Abschaffung der Subventionen für Buchverlage. "Zweitens fordern wir die Abschaffung des Journalisten-Ordens. Das ist ein Ding, das nur noch in Italien existiert, ein Werk Mussolinis. Ist es akzeptabel, dass man Mitglied eines Ordens sein muss, eine Ordensprüfung ablegen, d.h. die Prüfung kaufen muss, um etwas veröffentlichen zu können? Jeder muss schreiben und seine Meinung äußern können."

Weitere Artikel: Ben Reichardt berichtet vom Filmfestival Nippon Connection. In Times mager widmet sich Ina Hartwig der Körperbeschau unter Welpen.

Besprochen werden Peter Zadek Hamburger Pirandello-Inszenierung "Nackt", Akram Khans Choreografie "bahok" im Düsseldorfer tanzhaus nrw, eine Aufführung von Bellinis "La Sonnambula" mit Cecilia Bartoli in Baden-Baden, drei Einakter von Arnold Schönberg an der Oper Leipzig und Bücher, darunter Peter Schneiders 68er-Buch "Rebellion und Wahn", Jean Giraudoux' Erinnerungen "Doppelmemorien" und Bogdan Musials Studie zu Stalins angeblichen Kriegsplänen gegen Deutschland "Kampflatz Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 08.04.2008

Jörg Lau stellt die in Gründung befindliche Londoner Quilliam-Stiftung vor, in der sich Renegaten des Islamismus mit eben diesem kritisch auseinandersetzen wollen: "Am 22. April wird die Stiftung im Londoner British Museum ins Leben gerufen. Es gibt prominente Unterstützer aus der islamischen Welt wie etwa Scheich Bin Bayyah (mehr hier und hier) und Großmufti Ali Gomaa aus Ägypten (mehr hier). (Beide gehören zu den islamischen Gelehrten, die den Dialog mit dem Papst führen.) Von britischer Seite sind als Berater etwa Lord Paddy Ashdown und Timothy Garton Ash dabei."

Stanley Fish erzählt, wie ihm in den Achtzigern eine Popularisierung des Begriffs "Dekonstruktion" auffiel - das war, als Clint Eastwood anfing, sein Image aus "Dirty Harry" selbstironisch in Frage zu stellen: "If deconstruction was something that an American male icon performed, there was no reason to fear it; truth, reason and the American war." Fish nutzt sein Blog, um ausführlich Francois Cussets Buch "French Theory: How Foucault, Derrida, Deleuze, & Co. Transformed the Intellectual Life of the United States" vorzustellen.

Don Alphonso diagnostiziert in seinen Nachgedanken zum Bloggerkongress Re:publika eine seltsame Fixierung der Alphablogger auf die traditionellen Medien, deren Sargnagel sie doch sein wollen. Aber was haben die deutschen Blogger eigentlich so Relevantes vollbracht? "Welcher bekannte deutsche Blogger, der sich auf dem Kongress zeigte, hat eigentlich was zu Themen wie der globalen Finanzkrise zu sagen? Mindestlohn? Vertiefende Analysen zur Verarmung des Mittelstandes? Wie viele Buchkritiken gab es im letzten Jahr, wo sind die Texte, die gekonnt mit Konditionalsatz und Konjunktiv hantieren würden, wo wird Leistung erbracht, die die Debatte der Allgemeinheit erreichen und beeinflussen?"

Richard Wagner findet in der Achse des Guten nicht, dass die Nachgeborenen besonders dankbar für das Wirken der 68er sein sollten: "Wäre auch nur ein Bruchteil der politischen Forderungen von 68 zum Tragen gekommen, wir lebten heute in einer finsteren Diktatur, mit einem Horst Mahler als Kanzler auf Lebenszeit und einem Klaus Theweleit als Familienminister."

Welt, 08.04.2008

China soll Ehrengast der Buchmesse 2009 werden. Buchmessenchef Juergen Boos verspricht im Gespräch mit Uwe Wittstock jetzt schon hoch und heilig, dass auch Tibet vorkommen darf: "Ich gehe davon aus, dass die Kultur Tibets von den unterschiedlichen Gruppierungen ganz unterschiedlich dargestellt werden wird. Alle werden auf der Buchmesse ihren Platz finden. Ob das exiltibetische Verlage sind, ob das indische Verlage sind, ob das Amnesty International ist, ob das die PEN-Clubs sind."

Weitere Artikel: Wieland Freund schreibt über den Boom des Kinderbuchmarktes in Deutschland, der auch im Merchandising eine echte Virtuosität entwickelt. Elmar Krekeler kommentiert den Umstand, dass bei der "Musica Viva"-Reihe in München eine Komposition Dror Feilers wegen unzumutbarer Lärmentwicklung abgesetzt wurde. Gerhard Midding stellt den größten französischen Filmerfolg (zumindest innerhalb Frankreichs) seit Jahrzehnten vor - die Komödie "Bienvenue chez les Ch'tis" (Auszüge), die den Norden des Landes liebevoll auf den Arm nimmt. Ulrich Baron zeichnet indische Debatten um den Bollywood-Film "Jodhaa Akbar" nach, der bis heute aktuelle religiöse Konflikte zum Hintergrund, und er stellt Iqbal Singhs Roman "Der Zug nach Pakistan" vor. Stefan Woldach unterhält sich mit dem inzwischen 50-jährigen Sänger der Rockband REM Michael Stipe.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Herrschaft Jerome Bonapartes in Kassel ebendort und eine Aufführung der "Sonnambula" mit Cecilia Bartoli in Baden-Baden.

NZZ, 08.04.2008

Mona Sarkis erklärt in einem Hintergrundtext, warum die maronitischen Christen im Libanon nicht notwendigerweise Verbündete des Westens sind: "Der Säkularismus, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts gelebt wurde und den man bis Mitte des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben versuchte, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der Tagesordnung verschwunden. Nie zuvor in der Landesgeschichte hat der Konfessionalismus in solchem Ausmaß getobt. Die Christen scheinen dabei wie mit einem Lineal unterteilt: Die Anhänger Michel Aouns reihen sich in die 'proarabische Achse' des Hizbullah, der Hamas, Irans und Syriens ein, die Anhänger des gleichfalls maronitischen Samir Geagea in die 'prowestliche Achse' der USA, Europas, Israels und der 'gemäßigten' arabischen Diktaturen."

Marc Zitzmann meldet, dass der Kassenschlager "Bienvenue chez les Ch'tis" mit mehr als 17 Millionen Zuschauern der erfolgreichste französische Film seit 1945 sei und selbst Bourvils und Louis de Funes' "Große Sause" hinter sich lässt. Für das Geheimnis des Erfolgs hält Zitzmann allerdings seine "rührend tollpatschige Harmonieseligkeit".

Besprochen werden eine Ausstellung der Medienkünstlerin Angela Bulloch im Münchner Kunstbau und jede Menge Bücher, darunter Henning Ritters Porträts "Die Eroberer", Bernlefs Roman "Bis es wieder hell ist" und Clemens J. Setz' Debüt "Söhne und Planeten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 08.04.2008

Der seit einiger Zeit wieder strapazierte Begriff der Kulturnation sollte nicht als homogene Nationalkultur verstanden werden, erklärt Sigrid Weigel, die Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, in einem langen Essay. Heute ist man überall in der Welt zu Hause, stellt Isolde Charim fest und prägt den Begriff der "sesshaften Mobilität". Ulrich Gutmair resümiert eine Podiumsdiskussion über das richtige Verhältnis zur israelischen Politik. In der zweiten taz stellt Anne Haeming den Comedian und Puppenspieler Rene Marik vor, der zusammen mit dem Liedermacher Rainald Grebe wohnt.

Besprochen wird die Schau "Museumsprojekte im 21. Jahrhundert" im Berliner Pergamonmuseum.

Und Tom.

FAZ, 08.04.2008

Nur begrüßen kann Julia Voss eine Initiative des bedeutenden Stockholmer Moderna Museet, das seine bisher im katastrophalen Verhältnis von Männern dominierte Kunst nun systematisch um Kunstwerke von Frauen ergänzt: "'Wir haben Verantwortung der jüngeren Generation gegenüber', sagt Iris Müller-Westermann, die das Projekt leitet. Unter den jährlich 600 000 Besuchern befinden sich auch viele Schulklassen. Was sie sehen, halten sie für die offizielle Kunstgeschichte, nicht für die männerdominierte Ankaufspolitik der sechziger Jahre. Und der Eindruck, dass Frauen zur Moderne kaum oder wenn nur Randständiges beigetragen hätten, sei nun einmal kunsthistorisch falsch."

Weitere Artikel: In der Glosse nimmt Konstanze Crüwell hocherfreut die Berufung des Rektors der Frankfurter Städelschule Daniel Birnbaum zum Leiter der nächsten Kunstbiennale von Venedig zur Kenntnis. Der Medizinhistoriker Axel W. Bauer, der auch Mitglied des Deutschen Ethikrats ist, gibt kund und zu wissen, dass die Diskussion um den Embryonenschutz in Deutschland "zu großer Sorge Anlass" bietet. Jordan Mejias beobachtet die Clintonsche "Familienbande" beim Wahlkampf. Ingeborg Harms berichtet von der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises an den Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer. Dieter Bartetzko begutachtet wohlwollend die teils neu gebaute Kunsthalle Mainz. Oliver Jungen gratuliert dem designierten Kleist-Preisträger Max Goldt, den Daniel Kehlmann ausgewählt hat - fragt allerdings auch: "Ist es billig, wenn ein Rowohlt-Autor einem anderen Rowohlt-Autor den Lorbeerkranz zuwirft?" Renate Klett stellt das usbekische "Ilkhom"-Theater vor, dessen Leiter Mats Weil im letzten Jahr von Auftragsmördern getötet wurde.

Besprochen werden neue CDs mit klassischer Musik, darunter Christoph Pregardiens (Gesang) und Michael Gees' (Klavier) neue Einspielung von Schuberts "Die schöne Müllerin", Andreas Homokis Berliner Inszenierung von "La Boheme", die Wiener Uraufführung von Johannes Schrettles Stück "Ich habe King Kong zum Weinen gebracht", die Aachener Uraufführung von Detlev Glanerts handlungsloser Oper "Nijinskis Tagebuch" und auch ein Buch, nämlich Jacqueline Mosers Roman "Lose Tage" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.04.2008

"Was treibt einen besonders sauberen, ausländerfeindlichen deutschen Politiker dazu, eine farbige Prostituierte auf einen Glastisch defäkieren zu lassen, um das Ergebnis dieses Vorganges sogleich mit Messer und Gabel aufzuessen? Wie kommt ein international hochgestellter Funktionär dazu, mit Prostituierten Nazi-KZ-Szenen aufzuführen, die Mitgefühl und Respekt vor den Opfern vermissen lassen?" Tja, möglicherweise nur eine kleine schmutzige Perversion, meint der Sexualforscher Volkmar Sigusch, und die brauche keinen Arzt. Behandeln sollte man das nur, wenn die Perversion "Suchtcharakter" hat.

Das leitet elegant über zur Deutschen Bahn, die sich nicht durch sexuelle Perversionen aber notorische Schäbigkeit auszeichnet: Der "Zug der Erinnerung" darf nicht in den Berliner Hauptbahnhof einfahren, melden sp/tost. "Zehn Tage hätte er dann dort gestanden und mit einer kleinen Ausstellung in den Waggons, daran erinnert, dass die Reichsbahn zu den wesentlichen Akteuren des Massenmords an den europäischen Juden gehört hatte. Dies wird nicht geschehen: Die Deutsche Bahn weigert sich, den Zug in den Hauptbahnhof einfahren zu lassen und beruft sich dabei auf technische Gründe: Der Betrieb einer Dampflokomotive erfordere die Abschaltung der Rauchmelder, wodurch ein Risiko für die Öffentlichkeit entstünde. Es gebe auch nicht genügend Gleise und Bahnsteige. Das Verweilen eines solchen Zuges im Hauptbahnhof erfordere die technisch unmögliche Umlenkung von dreißig Zügen täglich."

Weitere Artikel: Jochen Wagner lernt in München die sehr lebhafte und charmante 87-jährige Edith Flusser kennen. Das br-Symphonieorchester weigert sich, das Werk "Halat Hisar" ("Belagerungszustand") des israelisch-schwedischen Komponisten Dror Feiler uraufzuführen, weil es zu laut sei, berichtet Helmut Mauro. Franziska Augstein versteht nicht, warum in Deutschland "auf die Achtundsechziger geschimpft" wird. Jens Bisky war bei eine Berliner Tagung über Preußen als Kulturstaat. Klaus Dermutz gratuliert dem Regisseur Thomas Langhoff zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung über Stillleben aus drei Jahrhunderten im Frankfurter Städel, David Schwimmers Film "Run Fatboy, Run!", Beethovens "Fidelio" in Reggio nell'Emilia mit dem Mahler Chamber Orchestra und Claudio Abbado (wunderbare Musik, bei der nur die Inszenierung von Chris Kraus störte, meint Reinhard J. Brembeck), Christiane Pohles Inszenierung von Horvaths "Zur schönen Aussicht" an den Münchner Kammerspielen ("'Zur schönen Aussicht' als Brachialkomödie: Das darf schon mal sein", meint Christine Dössel) und Bücher, darunter Milan Kunderas "Die Kunst des Romans" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).