Heute in den Feuilletons

Die Cadillacs des Verlegers

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2008. Die FR stellt die amerikanische, offensiv multi-ethnisch muslimische "Taqwacore"-Bewegung vor. In der NZZ wendet sich Dubravka Ugresic mit Grausen von nackten Füßen auf einem Cafehaus-Tisch ab. In der Welt erinnert sich Fritz J. Raddatz an einen noblen Emporkömmling. Die Berliner Zeitung freut sich, dass die New York Times den echten Stauffenberg heute etwas komplexer sieht als 1944. In der FAZ stellt Daniel Kehlmann seinen neuen Roman vor.

FR, 27.12.2008

Olga Martynova erinnert zu dessen 70. Todestag an den im Gulag gestorbenen Dichter Ossip Mandelstam. "Zwischen den Welten, mal um das Alte trauernd, mal das Neue begrüßend, war er der ewige Gefangene der Gegensätze, zwischen Christentum und Judentum; zwischen der Liebe zu seiner Frau und der stetigen Verliebtheit in eine der 'Europafrauen', wie er sie nannte in einem Gedicht (es waren keine 'Europafrauen', sondern Russinnen aus den kultivierten und reichen vorrevolutionären Schichten, begehrenswert und unerreichbar dem armen und nicht berühmten jüdischen Dandy, der Mandelstam in seiner Jugend war); zwischen kindlicher Liebe zu Schokolade und Opferbereitschaft. Er war der Dichter, der 1933 ein Epigramm gegen Stalin geschrieben hatte, das ihm letztendlich das Leben kostete. Er hat das Epigramm vielen gezeigt, auch die 'Mitwisser' der Gefahr aussetzend. 'Ich bin zum Sterben bereit', sagte er zu Anna Achmatowa."

Marcia Pally stellt in ihre US-Kolumne die offensiv multi-ethnisch muslimische "Taqwacore"-Bewegung vor: "Michael Muhammad Knights Roman 'The Taqwacores' hat das Leben vieler muslimischer Jugendlicher verändert. Mit einem Mal fingen sie an, Bands zu gründen und eine Subkultur zu erfinden - mit starken Anleihen bei den 1960er Jahren. Die Jugendlichen geben sich sehr theatralisch, machen viel Blödsinn und rebellieren ansonsten gegen alles... Kurzum, wir haben es hier mit einer Art synthetischen Multikulturalismus zu tun. "

Weitere Artikel: Der Politikberater Karl Piberhofer sammelt neuere Apokalypse-Zahlen zur Finanzkrise. In einer Times Mager nähert sich Christian Schlüter der Krise des Qualitätsjournalismus mit statistischen Werten. Den Nachruf auf die Sängerin und Schauspielerin Eartha Kitt hat Hans-Jürgen Linke verfasst, der auf den Dramatiker Harold Pinter kommt von Peter Iden.

Besprochen wird Misha Glennys Einblick in die globalisierte Welt des organisierten Verbrechens "McMafia" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 27.12.2008

Der öffentliche Raum verschwindet langsam, je mehr Menschen ihn zu ihrem privaten Wohnzimmer machen. Die Autorin Dubravka Ugresic stellt fest, dass sie inzwischen lieber zu Hause bleibt, um Szenen wie diesen auszuweichen: "Während ich in einer Gaststätte mit Seeblick auf meinen Kaffee warte, bleibt mein Blick an einem jungen Paar am Nebentisch hängen. Die junge Frau mit langem blondem Haar hat ihre Füße lässig auf den Tisch gelegt, direkt neben eine Suppenterrine. Der junge Mann massiert mit einer Hand zärtlich ihre Zehen, mit der anderen löffelt er seine Suppe aus. Die Frau kichert ausgelassen und versucht, mit den Zehen seine Suppenterrine umzukippen. Der Anblick der nackten Füße auf der Tischplatte erregt in mir leichten Ekel. Mein Auge ist menschenfeindlich. Die Szene am Nebentisch lässt sich nicht mit einer unsichtbaren Fernbedienung ausschalten - wie ich es in Gedanken wünsche -, deshalb stehe ich auf und verlasse geschlagen den Ort."

Weiteres: Abgedruckt ist Michel Mettlers Geschichte "Im grünen Klee". Alena Wagnerova stellt Kafkas missratenen Cousin Zdenek vor. Ludger Lütkehaus unternimmt eine philosophische Annäherung an das musikalische Schweigen.

Im Feuilleton berichtet Georges Waser, wie britische Architekten eine Palladio-Schau der Royal Academy retteten, für die sich sonst kein Sponsor fand. Bruno von Lutz schreibt zum Tod des englischen Dramatikers Harold Pinter. Ueli Bernays schreibt zum Tod von Eartha Kitt.

Besprochen werden Baz Luhrmanns Filmepos "Australia", Mauro Bigonzettis Caravaggio-Ballett in der Staatsoper Berlin, einige DVDs und Bücher, darunter Thomas von Steinaeckers Roman "Geister" und Margaret Atwoods Band "Payback. Schulden und die Schattenseite des Wohlstands" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 27.12.2008

In der Literarischen Welt unterhält sich Tilman Krause mit dem Schriftsteller, Kritiker und Lektor Fritz J. Raddatz, der vor fünfzig Jahren die DDR verließ: "Mein erster unauslöschlicher Eindruck war das Wirtschaftswunderimperium des Helmut Kindler. Ich hatte ja nur 300 Mark und keinen Job, als ich in München ankam. Glücklicherweise traf ich gleich am ersten Tag auf der Straße Erich Kästner, der mich an Helmut Kindler verwies. Das karottenrot gefärbte Haar der Gattin, die da auf cremefarbener Couch hingegossen saß, Champagner, der in Strömen floss, die Cadillacs des Verlegers, farblich abgestimmt auf die Blusen seiner Frau: das war der Emporkömmling in Reinkultur, so etwas gab es im Osten natürlich nicht. Doch der liebenswürdige, neugierige und interessierte Kindler war auch nobel, ließ mich drucken, was ich wollte, und das rechne ich ihm noch heute hoch an."

Außerdem hat Ben Schott alles, was man über Barack Obama wissen sollte, zusammengestellt: Sei Sternzeichen ist Löwe, Aszendent Wassermann, seine Lieblingsbaseballmannschaft sind die Chicago White Sox, und zu seinen Lastern gehört gelegentlicher Zigarettenkonsum. Der Historiker Michael Wolffsohn erinnert an die Gründung der DDR vor sechzig Jahren.

Im Feuilleton schreibt Thomas Kielinger zum Tod des Literaturnobelpreisträgers Harold Pinter: Es ist ein Jammer, dass der Extremismus seines politischen Urteils in dieser Spätphase den Blick auf den Pinter, den Bühnenator verstellen konnte." In der Randspalte lobt Berthold Seewald den Kulturkonservatismus Zentraleuropas, der zwar Handy-Filme schlecht laufen lässt, nicht aber Musik-CDs und Zeitungen. Seewald schreibt auch den Nachruf auf die knurrende Eartha Kitt. Hanns-Georg Rodek spricht mit Regisseur Baz Luhmann über dessen Melodram "Australia".

TAZ, 27.12.2008

Tim Caspar Boehme denkt mit Jacques Derrida und Johann Lafer über die Zusammenhänge von Essen und Moral nach. Rudolf Walther erklärt, warum der Brockhaus nicht sterben darf. Andreas Hartmann berichtet aus der ihm sehr vertrauten Welt der "Vinylnarren". Den Nachruf auf den britischen Dramatiker Harold Pinter hat Jörg Sundermeier verfassst. Auf den vorderen Seiten schreibt Jan Feddersen zum Tod der Sängerin und Schauspielerin Eartha Kitt. In der zweiten taz muss Peter Unfried um Vergebung bitten, dass er sich von Stieg Larssons Krimi-Trilogie aus Versehen erst mal begeistern ließ.

Besprochen werden der schwedische Vampirfilm "So finster die Nacht" und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno und Anya Ulinichs Debütroman "Petropolis" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Das Dossier des taz mag ist Kuba gewidmet, das im Januar den 50. Jahrestag der Revolution feiern wird. Ole Schulz erinnert an das von Anfang an gespannte Verhältnis des Castro-Regimes zu den Intellektuellen aus dem In- und Ausland. Wenig zu feiern finden in der Gegenwart Yoani Sanchez, die den ungebrochenen kubanischen Machismo beklagt, und Toni Keppeler und Cecibel Romero, die sich nichts vormachen über ein absurdes und marodes System.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 27.12.2008

Eva Schweitzer hat recht laue Reaktionen der amerikanischen Zeitungen auf Tom Cruises Stauffenberg-Film "Walküre" gesammelt, der über Weihnachten in den USA angelaufen ist. "Die New York Times laviert sich entschlossen durch den Film. Der sei irgendwie nicht schlecht, leider sei Tom Cruise zu modern, zu amerikanisch und zu sehr Tom Cruise, um der Rolle ihren Sinn zu geben, meint Kritikerin Manohla Dargis. Überdies transformiere der Film den Zweiten Weltkrieg in ein Jungs-Abenteuer, mit strahlenden Helden, Meilen von schwarzen Lederstiefeln und Totalen marschierender deutscher Truppen, die Leni Riefenstahl zum Flattern bringen würden. Der echte Stauffenberg jedoch sei ein 'komplexer Charakter, zu komplex für diesen Film' gewesen. Das ist immerhin ein Fortschritt: 1944, nach dem tatsächlichen Attentat, hatte die Times Stauffenberg noch als 'desillusioniert, verkrüppelt und rachsüchtig' beschrieben."

SZ, 27.12.2008

Abgedruckt ist eine Beschreibung von Pieter Breughels Winterlandschaft "Die Heimkehr der Jäger" von Peter Englund, der ab dem nächsten Jahr Sekretär der Literatur-Nobelpreis-Jury wird. Der Literaturwissenschaftler Thomas Weitin erklärt, welche Bedeutung China für Brecht hatte. Johan Schloemann zeigt Verständnis für die dänische Weigerung, etruskische Raubkunst an Italien zurückzugeben, solange "die Berlusconi-Regierung einen McDonald's-Manager zum Oberdirektor aller italienischen Museen machen will und Welterbestätten wie Pompeji verrotten lässt". Zum Tod der Sängerin und Schauspielerin Eartha Kitt schreibt Jonathan Fischer. Der Nachruf auf den Dramatiker Harold Pinter kommt von Christopher Schmidt. Wolfgang U. Eckart erinnert an das schwere Beben vor Messina vor genau hundert Jahren.

Besprochen werden ein Konzert des Concerto Köln in Versailles, eine Edouard-Vuillard-Ausstellung in Karlsruhe und Bücher, darunter Stephen Frys Lyrik-Lehre "Feigen, die fusseln. Entfessle den Dichter in dir." (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende sieht Benjamin Henrichs den Sieg Obamas als Bruch mit dem Welttheater: "Weil hier nicht der alte Herrscher die interessantere Figur ist, sondern der neue. Weil das Böse (sein Name sei Bush!) nicht faszinierender ist, sondern medioker." Willi Winkler hat eine Hymne auf die lustfreudigen Engländer verfasst, die er mit dem Schlusssatz resümiert: "England, I lob you." Auf der Historienseite geht es um das vor vierzig Jahren erschienene Pink Floyd-Album "Dark Side Of The Moon". Hilmar Klute unterhält sich mit der Chansonniere Patricia Kaas über "Heldinnen".

FAZ, 27.12.2008

Bilder und Zeiten drucken eine Geschichte aus Daniel Kehlmanns neuem Roman "Ruhm" vorab. Im Interview sagt Kehlmann über sein Buch: "Eines der Hauptmotive ist die Kommunikationstechnologie, wie sehr man sich auf sie verlässt, was ihr Versagen ausrichten kann und vor allem wie sie Parallelwirklichkeiten schafft. Ich glaube, dass Handy, E-Mail und iPod die größte Veränderung unserer Lebenswirklichkeit seit der industriellen Revolution bedeuten. Wir haben noch nicht mal angefangen, das zu verstehen."

Außerdem: Umberto Eco stellt sich vor, er wäre ein E-Book. Rose-Maria Gropp hat einen Ortstermin bei der Malerin Lilo Rinkens. Besprochen werden Bücher, darunter Rafik Schamis Roman "Das Geheimnis des Kalligraphen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Dem Musikland Deutschland geht es im Prinzip prächtig, berichtet im Feuilleton Wolfgang Sandner, nachdem er sich beim Musikinformationszentrum (MIZ) in Bonn informiert hat, nur der Musikunterricht durch "fachspezifisch ausgebildete" Kräfte nehme "rapide" ab. Jürgen Dollase isst in der Zürcher Kronenhalle. Jordan Mejias wirft einen Blick in amerikanische Zeitschriften. Auf der letzten Seite erzählt ein im Netz ungenannter Autor die Geschichte einer vierzehnjährigen Mutter. WWS. schreibt zum Tod der amerikanischen Sängerin Eartha Kitt. Gina Thomas schreibt zum Tod des englischen Dramatikers Harold Pinter. Abgedruckt ist ein Gedicht, das Pinter am 26. Juni 2007 schrieb: "The Mirror"

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite geht's um "Neue Musik" mit Elliott Carter und Olivier Messiaen, Kimya Dawsons CD "Alphabutt" und den brasilianischen Sänger und Schauspieler Seu Jorge.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hartmut Jäckel ein Gedicht von Theodor Storm vor: "Spruch".