Heute in den Feuilletons

Hinreißend gutes Aussehen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2009. In der taz bekennt Daniel Richter, wie peinlich es ihm wäre, sich zu verweigern. In der NZZ lüftet Sebastian Horsley das Geheimnis ewigen Glücks. In der FR sieht Shulamit Aloni Israel auf dem Weg zur totalitären Ethnokratie. Die FAZ sorgt sich um die Theater in NRW. Die SZ erinnert daran, wie überfordert die Westdeutschen geistig von der Widervereinigung waren. Und in Carta plädiert Wolfgang Michal dafür, die Piratenpartei als neue soziale Bewegung ernst zu nehmen.

Spiegel Online, 13.06.2009

Die deprimierendste Meldung des Tages gleich am Anfang. Ulrike Putz berichtet aus Teheran: "Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad wird den Iran weitere vier Jahre regieren. Nach Auszählung von fast 80 Prozent der Stimmen entfielen auf den Hardliner knapp 65 Prozent - mehr als doppelt so viel wie für seinen aussichtsreichsten Herausforderer Mir Hossein Mussawi."

Die BBC berichtet zum Thema: "As the results began to come in, Iranian TV began putting out calls for calm. One opposition newspaper has been closed down and BBC websites appear to have been blocked by the Iranian authorities."
Stichwörter: Ahmadinedschad, Mahmud, Iran

TAZ, 13.06.2009

Im Interview mit Andreas Fanizadeh erklärt der Kunststar Daniel Richter, warum man ums Mitmachen heutzutage schwer herumkommt: "Mit der Kunst ist das heute wie mit Underground und Popmusik: Wo sie funktioniert, wird sie umarmt. Wenn du nicht mitmachst, müsstest du den ganzen Akt der Verweigerung zelebrieren, das wäre mir peinlich. Lieber sage ich: Toll, dass man sich nun auch auf kritische Positionen wie Kippenberger oder Oehlen bezieht, auch wenn man sie damit zahnlos macht."

Weitere Artikel: Zum 80. Geburtstag des Denkers würdigt Rudolf Walther ausführlich Jürgen Habermas. In Abschiedsstimmung besucht Detlef Kuhlbrodt den Karstadt am Berliner Hermannplatz. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne denkt Andreas Fanizadeh über Systemrelevanz und über die Jusos nach. Die sonntaz-Frage versammelt Pro- und Kontra-Stimmen zur Uni-Bologna-Reform. In einer langen informativen Reportage erzählen Kirsten Küppers und Daniel Schulz, wie in Deutschland die Abschaffung des Listenprivilegs untergraben wurde. Das Privileg erlaubt den Handel mit Adressdaten, solange der Verbraucher nicht widerspricht. Eigentlich sollte es umgekehrt sein: Nur wenn der Verbraucher ausdrücklich zustimmt, sollten seine Daten weiterverkauft werden dürfen. Aber daraus wird vorerst wohl nichts...

Besprochen werden das Album "Bone of My Bones" der Sängerin Ebony Bones, und Bücher, darunter Michael Ebmayers Roman "Der Neuling" und die Aufsatzsammlung "Auswege aus dem Kapitalismus" mit Texten von Andre Gorz (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 13.06.2009

Überall wird über die Piratenpartei diskutiert. Für Wolfgang Michal in Carta steht die Piratenpartei "durchaus in der Tradition der modernen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren: der Umwelt-, der Frauen- und der Friedensbewegung. Es wäre deshalb fatal, sie (aufgrund ihres abseitigen Namens) zu ignorieren. Die von den Piraten diskutierten Themenbereiche zählen heute zu den Schlüsselthemen der hoch entwickelten Gesellschaften." Auch die Exbloggerin Mercedes Bunz schreibt heute im Tagesspiegel zum Thema.

Besorgniserregende Nachrichten bringt turi2 über die FAZ: "Werbedrama: Die FAZ hat von Januar bis Mai 45 Prozent der Stellenanzeigen gegenüber dem Vorjahr verloren. Auch der Online-Rubrikenmarkt fazjob.net machte ein Minus - von 38 Prozent." Bei SZ und Handelsblatt war das Minus sogar noch drastischer.

Berliner Zeitung, 13.06.2009

Die Autorin Mely Kiyak begibt sich nach Istanbul auf der Suche nach der Städtepartnerschaft mit Berlin: "Was kann eine Stadt, die nicht ganz dreieinhalb Millionen Einwohner hat, in einer Metropole mit inoffiziell 17 bis 20 Millionen Menschen bewirken? Während die Grand Lady Istanbul mit 28 Prozent ihren Anteil am Bruttoinlandsprodukt zusteuert, trägt die verarmte Witwe Berlin nur 3,5 Prozent bei. Berlin wird immer ärmer, Istanbul immer wohlhabender."
Stichwörter: Berlin, Kiyak, Mely

NZZ, 13.06.2009

In Literatur und Kunst rückt Jonathan Franzen dem Begriff der Freiheit (sein neuer Roman wird so heißen) mit Bismarck und Hegel zuleibe und stellt fest: "Paradoxerweise fühlt man sich erst dann frei, wenn man nicht mehr in all den falschen Begriffen von 'Freiheit' gefangen ist, sondern in sich selber ruht. Die Akzeptanz der Grenzen seiner eigenen Identität ist eine spirituelle Befreiung. Dennoch weiß ich es als Amerikaner natürlich zu schätzen, dass ich mich ins Auto setzen und fahren kann, wohin ich will, oder auf der deutschen Autobahn so schnell fahren darf, wie es mir beliebt: Es gibt eine ganze Reihe von Freiheiten zweiter Ordnung, die ich durchaus genieße und gar nicht kleinreden will. Aber die Freiheit, alles zu tun, was ich will, löst bei mir immer ziemlich schnell einen Zustand von Selbstmitleid aus."

Außerdem: Zu Heinrich Hoffmanns zweihundertstem Geburtstag schreibt die Schriftstellerin Brigitte Kronauer über den "Struwwelpeter" und die Gebote einer boshaft-fröhlichen Erziehung. Die amerikanische Politologin Seyla Benhabib schildert die juristische Konfliktlage um internationales Recht und demokratische Souveränität und umreißt Möglichkeiten einer kosmopolitischen Demokratie. Daniel Jütte versucht sich das Phänomen jüdischer Wagner-Anhänger zu erklären.

In der Feuilleton-Kolumne "Mein Stil" beschreibt der britische Künstler Sebastian Horsley, wie und warum er Dandy wurde: "Als ich jung war, hieß mein Patentrezept für Glück: hinreißend gutes Aussehen, flammendes Charisma und spektakulärer Stil. Damit lag ich völlig richtig."

Besprochen werden die beiden großen Calvin-Schauen im Musee international de la Reforme in Genf und im DHM Berlin, eine Ausstellung zu Carl Albert Loosli in der Nationalbibliothek in Bern und Bücher, darunter Ben Kiernans Geschichte der Völkermorde "Erde und Blut" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 13.06.2009

In einem aus der Zeitung Haaretz übernommenen Artikel verzweifelt die israelische Rechtsanwältin und Ex-Erziehungsministerin Shulamit Aloni an ihrem Land: "'Ein einzigartiges Volk', schrieb David Ben Gurion. Und was hat uns diese Einzigartigkeit gebracht? Statt eines jüdischen und demokratischen Staates haben wir jetzt einen jüdischen Staat, in dem religiöser Fanatismus herrscht und der die Reinheit der Rasse vorschreibt. Wir haben eine Demokratie im primitivsten Sinn, wo es nicht um die Bewahrung der demokratischen Werte geht, sondern um die Herrschaft des Demos, des Pöbels, der aus Israel eine totalitäre Ethnokratie machen will. Ein Hoch auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigdor Lieberman, die gerade dabei sind, alles, was wir aufgebaut haben, zu zerstören, alles, wovon wir geträumt und alles, wofür wir gekämpft haben."

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke besucht die Europäische Kulturhauptstadt Linz. Auch Mely Kiyak ist unterwegs, und zwar in Istanbul, um sich dort anzusehen, wie zwanzig Jahre Städtepartnerschaft Berlin-Istanbul gefeiert werden. Christian Thomas fühlt sich an den Ausgängen der Frankfurter Hauptwache von Blicken umzingelt und alles andere als wohl. In einer "Times Mager" macht sich Judith von Sternburg Gedanken darüber, dass schöne Frauen Männer dumm machen.

Besprochen werden eine "Cabaret"-Inszenierung bei den Burgfestspielen Bad Vilbel und die fünfbändige Studienausgabe "Philosophische Texte" von Jürgen Habermas (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

nachtkritik, 13.06.2009

Regine Müller hat sich die neue, wie immer namenlose Produktion aus Pina Bauschs berühmtem Tanztheater angesehen. Eins fiel ihr auf: "Bei den Frauen scheint ein neues Selbstbewusstsein vorherrschend, der blässlich durchscheinende, stets leidende Frauen-Typ hat bei Pina Bausch offenbar ausgedient. Nur zu Anfang sieht man noch instrumentalisierte, somnambule Frauen, die herumgetragen und abgestellt werden wie Möbelstücke und sich keuchend und stocksteif beschweren, wenn Mann sie berührt. Schon bald drehen die Frauen lächelnd den Spieß herum, richten die Männer erotisch ab und kontrollieren deren muskelstählenden Sit-Ups."

Welt, 13.06.2009

Die Tochter Alfred Anderschs, Annette Korolnik-Andersch, äußert sich im Gespräch mit Andrea Seibel über W.G. Sebalds Vorwurf, Andersch habe sich aus Opportunismus im Jahr 1943 von seiner jüdischen Frau scheiden lassen: "Meine Halbschwester lebte oft mit uns. Mein Vater hat nie die erste Frau samt Kind unter irgendeinen Teppich gekehrt. In den ersten Briefen aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft war immer die Frage nach Angelika. Sie war die ganze Zeit unter der Obhut meiner Großmutter. Dies hat Sebald nicht beachtet."

Weitere Artikel: Tilman Krause schreibt zu Bernhard Schlinks Abschied als Juraprofessor an der Humboldt-Universität. Peter Dittmar erinnert an den "Struwwelpeter"-Erfinder Heinrich Hoffmann, der vor 20 Jahren geboren wurde.

In der Literarischen Welt bedauert der Rhetorikprfessor Gert Ueding, dass es in Deutschalnd kein Barack Obama vergleichbares rhetorisches Talent gibt. Und Martin Ebel poträtiert Ursula Priess, die sich in ihrem Buch "Sturz durch alle Spiegel" an ihren Vater Max Frisch erinnert.

SZ, 13.06.2009

Jens Bisky erinnert sich an die Zeit nach 1989 und betont, dass die Wessis eigentümlicherweise weniger gut mit der Wende klar kamen als die Ossis: "1990 war die statistisch gemessene Verunsicherung der Bundesdeutschen größer als die der Ossis. Enzensberger fühlte Panik, Patrick Süskind gestand in seinem Essay 'Deutschland, eine Midlife-crisis' Ratlosigkeit. Auf ein zweites Tschernobyl seien er und seine Generationsgenossen vorbereitet gewesen, auf Krebs und Tod und Teufel, nicht auf die Vereinigung. So gesehen erscheint das Besserwessitum als eine ungeschickte Überkompensation von Überforderung durch zu viel Unverhofftes."

Weitere Artikel: Die Pläne des US-Energie-Ministers Steven Chu, als Klima-Maßnahme möglichst viele Dächer weiß zu streichen, haben, wie Petra Steinberger berichtet, die Zahlen auf ihrer Seite: "100 weiße Quadratmeter Dach gleichen zehn Tonnen CO2 aus. Zehn Tonnen CO2, das produziert ein Deutscher in einem knappen Jahr." Reinhard J. Brembeck hat den Komponisten Hector Parra besucht, dessen Oper "Hypermusic, prologue" morgen im Centre Pompidou uraufgeführt wird. Alexander Menden untersucht die Reformpläne der angeschlagenen Regierung Gordon Browns. Orhan Pamuk hat in Venedig gelernt, "dass Glück möglich ist und man sich küssen soll". Johan Schloemann war dabei, als Otto Sander zum Geburtstag des Berliner Gräzisten Bernd Seidensticker antike Lyrik vortrug. Gerhard Persche informiert über durchaus gelungene Popularisierungsbemühungen der Budapester Oper. Werner Bartens erkennt darin, dass die Schweinegrippe nun als "Pandemie" höchster Stufe eingeordnet wird, ein Problem der "Risikokommunikation". Auf der Literaturseite erinnert Lothar Müller an den vor 200 Jahren geborenen "Struwwelpeter"-Autor Heinrich Hoffmann.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografin Annette Kelm in den Berliner Kunstwerken, Ulrich Wallers Inszenierung von "Arsen und Spitzenhäubchen" bei den Ruhrfestspielen, der Beyonce-Knowles-Film "Obsessed" und Heinrich Hoffmanns "Struwwelpeter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Detlef Esslinger über die Unsicherheit von Wirtschaftsprognosen nach. Frank Nienhuysen fährt mit einer Ente von Moskau nach Bielefeld. Auf der Historienseite erinnern Christina Horsten und Felix Zeltner daran, wie vor 100 Jahren August Engelhardt mit seiner hippie-artigen Kokos-Kommune auf Papua-Neuguinea scheiterte. Vorabgedruckt wird unter dem Titel "Warten auf Lord Nicht" ein Auszug aus Brigitte Kronauers im August erscheinendem neuen Roman "Zwei schwarze Jäger". Im Interview spricht Antje Wewer mit der Schauspielerin Birgit Minichmayr über "Liebe", die auf die Frage, ob man "denn alles haben" kann, mit einem erfrischenden "Ja!" antwortet.

FAZ, 13.06.2009

Andreas Rossmann sorgt sich um die Theater in NRW, denen - wie in Hagen, Mönchengladbach, Wuppertal, Essen, Köln und Bonn - das Geld ausgeht. An den bescheiden wirtschaftenden und ausgelasteten Theatern liegt es nicht, urteilt Rossmann entschieden: "Was der Dortmunder Kulturdezernent Jörg Stüdemann im April auf einer Diskussion in Oberhausen sagte, gilt auch für andere Großstädte: 'Bei mir im Rat interessiert sich kaum einer für Theater.' Angesichts der Bedenkenlosigkeit, mit der in vielen Städten öffentliches Eigentum zerstört, veruntreut und privatisiert, kulturelles Erbe - das Historische Archiv der Stadt Köln als eklatantes Beispiel - Gefahren ausgesetzt und vernichtet wird, mag es nicht verwundern, dass die Theater so kurz gehalten werden, dass sie einen Tod auf Raten sterben."

Weitere Artikel: Michael Müller meldet, dass China neue Personalausweise einführt, deren Software nicht allzu viele Schriftzeichen kennt, weshalb viele Chinesen jetzt ihre ausgefallenen Vornamen (Orchidee im Morgentau oder Lotusblüte, die die Tränen der Welt sammelt) ändern müssen. Jürgen Dollase erkennt der Maastrichter Spitzenköchin Margo Reuten den zweiten Stern ab. Lena Bopp berichtet von einer Pariser Aktion, mit der Designer ihren Lieblingsschriftstellern ihre Reverenz erweisen. Jordan Mejias spaziert über New Yorks High Line, eine stillgelegte und nun begrünte Hochbahntrasse in Manhattan. Stephan Sahm hegt Zweifel am geplanten Gesetz zur Patientenverfügung. Andreas Lesti schickt eine Reportage vom Wahlkampf im Iran. Die Medienseite verfolgt das Auf und Ab im Leben des Boris Becker.

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Ferdinand Georg Waldmüller im Belvedere in Wien, Frank Castorfs "Medea"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne, die Hohelied-Motetten "Song of Songs" des britischen Ensembles Stile antico, das Album "Ode To Sunsunshine" von Delta Spirit und Bücher, darunter Mark Savas Roman "Harry, die Zweite", Colm Toibins Geschichten "Mütter und Söhne" sowie Etel Adnans Erzählungen "Herr der Finsternis"

Bilder und Zeiten druckt Necla Keleks Laudatio auf den von ihr erkorenen Börne-Preisträger Frank Schirrmacher: Darin spricht sie über den Islam als eine Kultur des Gehorsams. Tilman Spreckelsen entdeckt für sich Heinrich Hoffmanns Würfelspiel "Des Herrn Fix von Bickenbach Reise um die Welt in 77 Tagen". Thomas David besucht den New Yorker Bilderbuchzeichner Peter Sis. Und Julia Spinola unterhält sich mit dem Pianisten Jewgeni Kissin über das Klavierspiel als "natürliche Existenzform".

In der Frankfurter Anthologie stellt Eckart Kleßmann ein Priapos von Goethe aus den "Römischen Elegien" vor:

"Hinten im Winkel des Gartens da stand ich der letzte der Götter
Rohgebildet, und schlimm hatte die Zeit mich verletzt.
Kürbisranken schmiegten sich auf am veralteten Stamme,
Und schon krachte das Glied unter den Lasten der Frucht...."