Heute in den Feuilletons

Chance zur erneuten Auseinandersetzung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.08.2009. Große betriebsinterne Querele. Der Springer-Verlag wollte unter umstrittenen Konditionen ein "Springertribunal" abhalten. Aber die Ankläger wollten nicht anreisen. Jeder versteht sie. Die NZZ beklagt eine "Aldisierung" des Buchhandels. Techcrunch fragt sich, warum sich die Open Content-Bewegung ausgerechnet mit Amazon und Microsoft gegen Google zusammentut. Die New York Times berichtet über Sorgen in Hollywood: Die Stars ziehen nicht mehr. 

TAZ, 24.08.2009

In der tazzwei kann Steffen Grimberg die Weigerung der 68er gut verstehen, an Springers Tribunal teilzunehmen: "Was zu den Bedingungen dieses 'offenen Diskurses' der ebenfalls geladene, aber zur Absage entschlossene Schriftsteller Peter Schneider der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagt, lässt tiefer blicken: Statt eines Hearings unter Beteiligung anderer Medien habe die Diskussion auf eine 'interne Veranstaltung mit etwa 50 geladenen Gästen' hinauslaufen sollen. Eine Zusammenfassung war demnach nur in der Welt vorgesehen, andere Medien hätten lediglich auf eine ausführliche Dokumentation im Internet zurückgreifen können, schreibt die FAS. Der Diskurs also ist frei, allein die Rahmenbedingungen fallen etwas enger aus?"

Im Feuilleton berichtet Johann Tischewski vom Sommerfestival auf Kampnagel, wo er eine Schau grüner Mode gesehen hat. Besprochen werden Peter Guralnicks endlich auf Deutsch erschienenen R'n'B-Geschichte "Sweet Soul Music" und Neuerscheinungen von Alexander von Humboldt.

Und noch Tom.

Tagesspiegel, 24.08.2009

Thomas Brussig plädiert für eine Demokratie, die irgendwie ohne Parlament, ohne Wahlen und vor allem ohne Wahlkampf auskommt, und er verteidigt den Nichtwähler: "Nicht wählen zu gehen kann ja auch seine Ursache darin haben, dass ich als Wahlberechtigter glaube, dass es für meine Lebensrealität, meine materiellen und freiheitlichen Verhältnisse, mein Lebensglück und meine Geschicke nicht von Belang ist, wer an der Macht ist. Nicht zu wählen kann heißen: Keine der zur Wahl stehenden Optionen ängstigt mich, an keine binde ich mein Lebensglück. Nicht zu wählen bedeutet, sich nicht den politischen Verhältnissen unterworfen zu fühlen.

NZZ, 24.08.2009

Verlieren die Maghrebstaaten (Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen, Mauretanien) ihre Einzigartigkeit? Beat Stauffer stellt einen Kulturverlust fest und benennt drei ausschlaggebende Gründe: "Erstens führt das immer noch starke Bevölkerungswachstum zu einem gewaltigen Bedarf an neuem Wohnraum. Zweitens findet die Ausdehnung der bisherigen Städte und Dörfer auf eine meist vollkommen chaotische Art statt; ohne Gesamtkonzept und ohne Rücksicht auf die Umwelt. So haben sich in den letzten Jahrzehnten fast überall hässliche Gürtel von Vorstädten um die bestehenden Siedlungen gelegt. Am gravierendsten ist aber wohl, drittens, die Zerstörung der einst so harmonischen Dörfer und Weiler auf dem Land mit ihren Gärten und Grünflächen. Überall dringt die moderne, städtische Bauweise in den ländlichen Raum vor und verdrängt gnadenlos die meist sehr angepasste, teils archaische, teils von ihrer Formensprache her sehr ästhetische traditionelle Bauweise."

Für Joachim Güntner ist das Ende des Ammann-Verlages beispielhaft für den Umbruch der Buchbranche, der sich vor allem dadurch auszeichne, dass immer mehr kleinere Verlage eingehen oder ihre Unabhängigkeit verlieren. Was eine "Aldisierung" des Buchhandels zur Folge habe: "Ammanns rückläufige Einnahmen, gekoppelt an den Wegfall von Geschäftspartnern im Buchhandel, kleine und mittlere Sortimenter, die den verschärften Konzentrationsprozess, die Konkurrenz der großen Ketten (Thalia, Hugendubel) und Nebenmärkte (Ex Libris), nicht überstanden und aufgegeben haben. Ebenso die Hinweise Simon Rüttimanns auf das von der Finanzkrise bewirkte 'konservative Einkaufsverhalten' selbst der Großbuchhandlungen."

Weiteres: Die Londoner Theater erleben gerade einen Boom, berichtet Marion Löhndorf. Lutz Windhöfel schildert die schlechte finanzielle Lage des Schweizer Architektur Museums in Basel. Besprochen wird Mahlers Vierte, gespielt von Claudio Abbado und dem Lucerne Festival Orchestra.

Aus den Blogs, 24.08.2009

Paul Carr fragt in einer interessanten Polemik auf Techcrunch, was das Internet Archive und die Open Content Alliance, die wie Google Bücher einscannen - allerdings auf nicht kommerzieller Basis -, dazu treibt eine Allianz mit Microsoft und Amazon gegen das Google Book Settlement zu bilden: "The stated aims of the Alliance - to ?build a permanent archive of multilingual digitized text and multimedia material? - are solid, and their position that Google?s legal immunity over orphaned works should be extended to all is laudable. But by palling around with anti-trust terrorists, self-interested champions of DRM and conflict-funded law schools, they?re undermining all of that by making themselves look like corporate shills."

Weitere Medien, 24.08.2009

Brock Barnes berichtet für die New York Times aus Hollywood. Man macht sich große Sorgen um die Fähigkeit der Stars, die Kinokassen zu füllen: "The spring and summer box office has murdered megawatt stars like Denzel Washington, Julia Roberts, Eddie Murphy, John Travolta, Russell Crowe, Tom Hanks, Adam Sandler and Will Ferrell. Can Brad Pitt escape?"

Die New York Times berichtet außerdem über europäische Widerstände gegen das Google Book Settlement.

Welt, 24.08.2009

Vielleicht sollte man sich ja doch noch mal deutsche Filme aus den Dreißigern angucken, überlegt Hanns-Georg Rodek, nachdem Quentin Tarantino in verschiedenen Interviews so für "Glückskinder" mit Lilian Harvey und Willy Fritsch geschwärmt hat. Muss ja nicht alles NS-Propaganda sein. Überprüfen kann er das aber nicht: "Ein Dreivierteljahrhundert später eröffnet sich uns die Chance, auch viele Filme des Zwölfjährigen Reiches primär auf ihren cineastischen Wert abzutasten und sie nicht länger mit der Begründung zu disqualifizieren, auch unpolitische Unterhaltung habe dazu beigetragen, von Diktatur und Krieg abzulenken. Das geht aber nur, sofern sie verfügbar sind. 'Glückskinder' und 'Napoleon' gibt es immer noch nicht auf DVD". (Wahrscheinlich, weil die Filmindustrie einfach zu beschäftigt damit ist, über die bösen Raubkopierer zu jammern.)

"Ich wollt ich wär ein Huhn" aus "Glückskinder":



Weitere Artikel: Nicht viele, aber doch immerhin einige Videospiele mit "erwachsenen" Ideen sah Thomas Lindemann bei der Kölner Spielemesse Gamescom. Rainer Haubrich freut sich, dass mit dem Siegerentwurf von Peter Kulka dem Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses nichts mehr im Wege steht. Hanns-Georg Rodek fürchtet, dass Filme wie Philip Grönings "Die große Stille" - der europaweit immerhin eine Million Zuschauer hatte - nicht mehr zustandekommen, wenn die Kinoketten weiter am "Filmpfennig" zündeln. Jacques Schuster gratuliert dem Publizisten Paul Lendvai zum Achtzigsten. Hannes Stein schickt einen Brief aus Brooklyn.

Bsprochen werden das neue Album der Arctic Monkeys, Jette Steckels Inszenierung der Dramatisierung von Ilija Trojanows Buch "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" in Salzburg, die Aufführung von Schönbergs Oper "Moses und Aron" bei der Eröffnung der Ruhrtriennale in Bochum, Marco Wilms' Filmdoku über DDR-Bohemiens "Ein Traum in Erdbeerfolie" und einige DVDs.

Außerdem: Auf der Forumsseite erklärt Thomas Schmid, warum aus dem angekündigten "Springer-Tribunal" zu 1968 doch nichts wird: "Und zwar deswegen, weil sich einige der Angesprochenen zusammengetan haben, um eine kleine Front des Neins aufzubauen". Mariam Lau schreibt unter der Überschrift "Ein Muskeljude" über Claude Lanzmann. Und im Politikteil beklagt der Philosoph Norbert Bolz im Interview den Mangel an Sozialliberalen in Deutschland: "Der Staat ist der allmächtige Vater, und die staatstreue Linke hat einen autoritären Charakter. Das ist die große geschichtsphilosophische Enttäuschung des letzten Jahrhunderts."

FR, 24.08.2009

Die FR übernimmt aus dem Espresso einen Artikel von Umberto Eco, der sich seine Landsleute zur Brust nimmt, die sich inzwischen wohl alles von Berlusconi gefallen ließen: "Es ist die Mehrheit des italienischen Volkes, die es versäumt hat, Protest einzulegen gegen die Interessenkonflikte ihrer Politiker, gegen die Bürgerwehr-Patrouillen in den Straßen, gegen die Verabschiedung des Alfano-Gesetzes, das den vier obersten Repräsentanten des Staates während ihrer Amtszeit Immunität vor Strafverfolgung gewährt; und es ist das italienische Volk, das eine (vorläufige) Beschneidung der Pressefreiheit ruhig akzeptiert hätte, wenn der Staatspräsident nicht die Augenbrauen hochgezogen hätte."

Weitere Artikel: Rolf C. Hemke preist nach einem Besuch des Bugaa-Festivals die neue Offenheit unter dem völkermörderischen Regime von Khartoum. Der Psychologe Gerd Gigerenzer plädiert gegen komplexes Denken: "Gute Intuition kann dadurch leiden, wenn man zu lange darüber nachdenkt, wie man entscheiden soll. In Times mager besichtigt Peter Michalzik die Schlachtfelder des nun zu Ende gehenden Londoner Gratiszeitungskriegs.

Besprochen wird Ulrike Kolbs Roman "Yoram" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 24.08.2009

Harald Jähner nähert sich dem literarischen Massiv der Saison: "Einen Roman von fast 1600 Seiten zu übersetzen, gleicht einer Ozeanüberquerung mit einem Kleinflugzeug. Heißt der Autor des Romans David Foster Wallace, ist sogar der Mars anzupeilen."

Sabine Pamperrien berichtet über Streit zwischen Henryk Broder und dem (inzwischen ausgeschlossenen) Alan Posener im Autorenblog Die Achse des Guten: "Anlass der hitzigsten Debatte auf der Achse war eine Konferenz im Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Broder lehnt den dort betriebenen wissenschaftlichen Vergleich von Antisemitismus und Islamophobie kategorisch ab, Posener hält ihn für zulässig."

FAZ, 24.08.2009

Zum Schulbeginn schildert Hannes Hintermeier, wie es heute so bei Elternsprechtagen zugeht - und warum übermotivierte Eltern nicht unbedingt gut sind für ihre Kinder: "So werden den Kindern Kämpfe abgenommen, die sie selbst führen müssten. Aber anders als ihre Eltern dürfen sie nicht mehr die leidvolle Erfahrung machen, dass es möglicherweise zum schulischen Ausbildungsgang gehören könnte, sich mit unterschiedlich begabten und motivierten Lehrern auseinanderzusetzen, sich zu arrangieren, sich gegen diese aufzulehnen. Für diese wiederum verlagert sich ein Hauptschauplatz des Geschehens auf den Abwehrkampf gegen eine teilweise übernervöse, ja hysterisierte Elternschaft."

Weitere Artikel: Mit entsetztem Kopfschütteln liest Jürgen Kaube die jüngsten Lehrer-Ratgeberbücher. Dieter Bartetzko erklärt, wie es kommt, dass ausgerechnet der "ultramoderne" Architekt Peter Kulka nun das Knobelsdorffsche Potsdamer Stadtschloss als Brandenburger Landtag in teilweise genauer historischer Rekonstruktion wiederaufbaut. Gar nicht ertragen kann Klaus Ungerer in der Glosse das "Schöntagnoch", das ihm an Currybuden und in Drogerien nachgerufen wird. In französischsprachigen Zeitschriften liest Jürg Altwegg Essays über den revolutionären Reformator Jean Calvin. Mark Siemons meldet, dass der lange verbotene Roman "Verlassene Hauptstadt" des Schriftstellers Jia Pingwa jetzt in bearbeiteter Fassung in China erscheinen darf. Zum Geburtstag gratuliert wird dem Sänger Peter Maffay (60), dem Schriftsteller Martin Amis (60), dem Historiker Otto Gerhard Oexle (60) und dem Intendanten und Regisseur Wolfgang Wagner (90).

Besprochen werden Willy Deckers Inszenierung von Arnold Schönbergs "Moses und Aron" zur Eröffnung der Ruhrtriennale in Bochum (Holger Noltze erlebte ein "Vermittlungswunder"), Jette Steckels Uraufführung einer von ihr miteingerichteten Theaterversion von Ilija Trojanows Romandebüt "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" in Salzburg, die Dresdener Ausstellung "Mit Fortuna übers Meer" über dänisch-sächsische Beziehungen und Bücher, darunter Henning Mankells früher Nichtkrimi "Daisy Sisters" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 24.08.2009

James Cameron dreht einen Film in 3D mit dem Titel "Avatar" und hat jetzt einige Minuten aus dem heiß erwarteten Werk in einer Kinoprojektion vorgestellt. Auch die Handlung klingt bedeutend, berichtet Fritz Göttler: "Der Film erzählt von der Eroberung und Kolonisierung des fremden Planeten Pandora, einer Dschungelwelt, die mit prähistorischen Monstern und Menschen besiedelt ist. Um hier zu operieren, werden Menschen in entsprechende Körper transferiert, die blau sind und spitze Ohren haben und einen Schwanz."

Weitere Artikel: Helmut Mauro fragt sich, warum ausgerechnet die Klassikarrangements mit Oboe des Oboisten Albrecht Mayer auf dem darbenden Markt einen solchen Erfolg haben. In den "Nachrichten aus dem Netz" greift David Steinitz eine auf einem wackligen Youtube-Video festgehaltene Kommunikationspanne Ursula von der Leyens auf. Alexander Menden berichtet, dass die Beatles-Platten nach einem "Remastering-Prozesses, an dem sieben Toningenieure viereinhalb Jahre gearbeitet haben", neu auf den Markt kommen. Jonathan Fischer resümiert Diskussionen unter schwarzen Intellektuellen in den USA, die "nach den versteckten Kosten von Obamas Sieg für die Afroamerikaner" fragen und von seinen Forderungen an die schwarze Bevölkerung, Selbstverantwortung zu übernehmen, genervt sind. Jens-Christian Rabe versucht im Interview mit Wolfgang Farkas, den angekündigten Umzug des Blumenbar Verlags von München nach Berlin zu bewältigen.

Besprochen werden Arnold Schönbergs "Moses und Aron" in der Regie Willy Deckers bei der Ruhrtriennale (Reinhard J. Brembeck ist hoch beeindruckt), Inszenierungen aus dem Young Directors Project in Salzburg, neue DVDs und Bücher, darunter der Essay "Warum Strafe sein muss" des Verfassungsrichters Winfried Hassemer.

Auf der Medienseite kommentiert Willi Winkler mit gewohnter Tücke die Entscheidung des Springer-Verlags, ein geplantes Treffen zwischen Verlagsleuten und Protagonisten der 68er-Bewegung abzusagen, "weil die 'damaligen Akteure' bei der Propaganda-Show nicht mittun wollen und damit, wie die Hausmitteilung weiß, die sicherlich einmalige 'Chance zur erneuten Auseinandersetzung' vertun".