Heute in den Feuilletons

Ein Mann wie Winnetou

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2010. Der Tagesspiegel bringt eine Petition deutscher Großschriftsteller von Grass bis Wolf gegen einen möglichen Leipziger Buchpreis für Helene Hegemann. Gerhard Amendt belehrt in der Welt Josef Haslinger, dass er in seinem Text über pädophile Priester an einem kindlichen Zustand der seelischen Ohnmacht festhalte. Micha Brumlik findet für die taz  von Anfang an homoerotische Aspekte in der deutschen Reformpädagogik. In der FAZ kritisiert Necla Kelek die islamischen Verbände in Deutschland.

Tagesspiegel, 16.03.2010

Der Schriftstellerverband hat eine "Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums" veröffentlicht, die wohl sicher stellen soll, dass nicht Helene Hegemann mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wird, meldet Gerrit Bartels. So heißt es in der Erklärung: "Wenn ein Plagiat als prestigewürdig erachtet wird, wenn geistiger Diebstahl und Verfälschungen als Kunst hingenommen werden, demonstriert diese Einstellung eine fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb." Unterschrieben haben unter anderen Günter Grass, Günter Kunert, Christa Wolf und Sybille Lewitscharoff.

Welt, 16.03.2010

Auf der Forumsseite ist Gerhard Amendt empört über Josef Haslingers Erinnerungen an zärtliche Priester und spricht ihm jede Fähigkeit ab, das Geschehen einordnen zu können. "Er verharrt im kindlichen Zustand der seelischen Ohnmacht gegenüber dem Vergangenen. Dieses Beharren ist nicht nur ein Indiz für die Grausamkeit der Institution und die inneren Fesseln, die sie ihren Schutzbefohlenen auferlegt haben. Sie haben sie damit nicht nur zum Schweigen gebracht und in Loyalitätskonflikte gestürzt. Sie haben sie darüber hinaus so verwirrt, dass sie zwischen Recht und Unrecht, zwischen kindlichen Zärtlichkeitswünschen und den Sexualwünschen von Erwachsenen, zumal den perversen, keine eindeutigen Grenzen mehr ziehen können."

Abgedruckt ist ein kurzer Auszug aus dem Spiegel-Artikel, in dem der Schriftsteller Bodo Kirchhoff über den Missbrauch schreibt, der an ihm verübt wurde: "Ich bin missbraucht worden - ein Wort, das nicht viel taugt, das nicht weiterhilft, das nur die ganze Misere der Sprachlosigkeit zeigt. Was ist geschehen? Ich war zwölf, ein hübsches Internatskind, und der Heimleiter und Schulkantor, ein Mann wie Winnetou, Anfang 30, langes Haar (1960!), Roth-Händle-Raucher, Cabrio-Fahrer..."

Im Feuilleton erzählt der chinesische Rockmusiker Xie Tian Xao, wie er mit traditionellen chinesischen Instrumenten Reggae spielt. Ulrich Claußen singt ein Loblied auf das seit gut zwei Monaten sendende DRadio Wissen. Dankwart Guratzsch berichtet über eine Düsseldorfer "Konferenz für die Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt" Gerhard Midding gratuliert Bernardo Bertolucci zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung der Kunstsammlung des Aga Khan im Martin-Gropius-Bau in Berlin, Werner Schroeters Inszenierung von "Quai West" an der Berliner Volksbühne, einige CDs, Martin Walsers Tagebuch aus den Jahren 1974-78, eine Ausstellung der Fotos der deutschen Kriegsfotografin Gerda Taro, Nicholas Joels Inszenierung des "Rings" an der Pariser Oper (der 35-jährige Dirigent Philippe Jordan lässt Peter Krause jubeln: "So klingt Zukunftsmusik!") und ein Spielfilm über die Ermordung der Juden in Frankreich, "La Rafle".

NZZ, 16.03.2010

Aldo Keel meldet aus Dänemark neu aufgeflammten Streit über die Kunsthaltigkeit von Piero Manzonis in Dosen abgefüllter "Merda d'artista". Patrick Straumann schreibt zum Siebzigsten des italienischen Filmregisseurs Bernardo Bertolucci. Brigitte Kramer hat Javier Marias' gerade in Spanien erschienenen Kolumnenband gelesen, in denen der Schriftsteller gegen die IT-Versklavung, die Infantilisierung der Gesellschaft und andere Fährnisse wütet.

Besprochen werden Julia Fischers Bach-Konzert in der Tonhalle Zürich, Dennis Kellys Stück "DNA" am Theater Basel, Shahriar Mandanipurs Roman "Eine iranische Liebesgeschichte zensieren" und Hans Joachim Schädlichs Roman "Kokoschkins Reise" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 16.03.2010

Micha Brumlik gibt einen Überblick über die Geschichte der Reformpädagogik in Deutschland, in der es von Anfang an auch homoerotische Aspekte gab: "Die Gesellschaft des Kaiserreichs verfolgte männliche Homosexualität. Wenig war im Zeitalter des Militarismus so verpönt wie 'Triebhaftigkeit', weshalb ein offenes Ausleben homosexueller Wünsche undenkbar war. Wollte man sich zur Homosexualität bekennen, musste man ihr einen besonderen erzieherischen und kulturbildenden Wert zuschreiben." Zur Geschichte der Reformpädagogik in Deutschland schreibt auch Alan Posener in der Welt am Sonntag.

Im Kulturteil schreibt Philipp Goll über den zögerlichen Beginn des E-Books in Deutschland. Katrin Kruse bringt von den Pariser Schauen keine allzu guten Nachrichten mit: "Das ist also die große Neuerung in der Mode: Das ängstliche Bemühen, anders als die anderen zu sein, wird abgelöst durch den Wunsch, zu sein wie die anderen." Die Londoner Kulturkorrespondentin Julia Grosse kritisiert die Werbung von Freiwilligen durch die britische Polizei.

Besprochen werden Ereignisse eines Festivals für Pionierinnen elektronischer Musik in Berlin und eine Box mit dem Gesamtwerk von Miles Davis.

Und Tom.

FR, 16.03.2010

In Times mager möchte Hans-Jürgen Linke bitte sichergestellt wissen, dass Hessens Steuerprüfer bei Millionären die gleiche Impertinenz an den Tag legen wie bei Musikern. Besprochen werden eine große Ausstellung zur frühen Neuzeit im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Alice Sara Otts Chopin-Aufnahmen, David Drabeks Stück "Kunstschwimmer" am Staatstheater Wiesbaden, Christoph Antweilers anthropologische Untersuchung zur "Heimat Mensch" sowie Georg Kleins "Roman unserer Kindheit", (Leseprobe) über den Judith von Sternburg schwärmt: "Eine solche Hülle und Fülle an Erzählkunst, die schon an Angeberei grenzt - aber alles gelingt -, hat es selbst bei Georg Klein noch nicht gegeben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 16.03.2010

Auf Seite 1 berichtet Sebastian Herrmann über einen extrem haltbaren neuen Mikrofilm, auf dem künftig unser kulturelles Gedächtnis gespeichert sein soll - er zeigt archivierte Gegenstände in Farbe und wurde gestern in der Anna-Amalia-Bibliothek vorgestellt. Im Feuilletonaufmacher zitiert Helmut Mauro gar nicht so schlechte Zahlen über den Absatz klassischer Musik auf CD und im Internet und unterstützt Pläne, Raubkopierer nach französischem Modell abzustrafen. Burkhard Müller berichtet von einem donaldistischen Kongress im Schloss Neuhardenberg, der sich sogar der Gegenwart der Bundesfamilienministerin erfreuen durfte. Gustav Seibt zitiert einige Texte von Schriftstellern zur aktuellen Debatte um Kindesmissbrauch, unter anderem Bodo Kirchhoff im Spiegel, Amelie Fried in der FAZ, Josef Haslinger in der Welt (hier) und Adolf Muschg im Tagesspiegel (hier). Volker Breidecker verfolgte eine Freiburger Tagung zum Thema "Skandal". Fritz Göttler gratuliert Bernardo Bertolucci zum Siebzigsten. Jeanne Rubner hat einen französischen Film über die "rafle du vel d'hiv" gesehen, mit der Frankreich die Judenverfolgung aus eigenem Antrieb unterstützte - und sie erinnert daran, dass bereits im Jahr 1940 unter der Dritten Republik Flüchtlinge aus Deutschland im Pariser Radrennstadium zusammengetrieben wurden, von wo aus man sie in Lager schickte.

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von "Was ihr wollt" am Schauspielhaus Zürich, die Ausstellung "Neugierig? Kunst des 21. Jahrhunderts aus privaten Sammlungen" in Bonn und Bücher, darunter Erik Orsennas "Die Zukunft des Wassers - Eine Reise um unsere Welt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Außerdem präsentiert die SZ heute ihre Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse. Der Aufmacher ist Georg Kleins "Roman unserer Kindheit" gewidmet. Wir werten die Beilage in den nächsten Tagen aus.

Auf der Medienseite stellt Johannes Boie die neu gestaltete Internetseite der Jüdischen Allgemeinen vor. In der Online-Serie "Wozu noch Journalismus" malt Volker Lilienthal, Professor für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg, die Schreckensvision einer Welt ohne Journalismus aus.

FAZ, 16.03.2010

Die islamischen Verbände konnten sich bisher nicht entschließen, ihre Teilnahme an der von Innenminister de Maiziere geplanten zweiten Islamkonferenz zuzusagen, berichtet Necla Kelek. Sie kann darauf auch bestens verzichten, denn: "Den Islamverbänden geht es um Einfluss, nicht um Integration. Ein konkretes Beispiel dieser Politik ist die als 'Wunder von Marxloh' weltweit gepriesene Ditib-Moschee in Duisburg. Mit Millionen Euro aus der EU und vom Land Nordrhein-Westfalen subventioniert, sollte die Einrichtung den interreligiösen Dialog befördern. Ein Jahr nach der Einweihung haben die konservativen Kräfte der Ditib den Moscheevereinsvorstand ausgewechselt, werden Deutschkurse gestrichen und interreligiöse Angebote gekürzt, so dass die kopftuchtragenden Besucherinnen der Moschee protestierten und forderten: 'Wir wollen Deutsch lernen!'"

Nachdem die FAZ in ihrer gestrigen Ausgabe den mit Missbrauchvorwürfen konfrontierten ehemaligen Leiter der Odenwaldschule und Lebensgefährten Hartmut von Hentigs, Gerold Becker porträtiert hatte, erklärt heute der Disziplinverfechter Bernhard Bueb, warum er nicht gegen Missbrauch an der Odenwaldschule eingriff. Zu seiner Zeit als Erzieher in der Odenwaldschule habe er jedenfalls keinen Missbrauch bemerkt, und als 1998 die ersten Vorwürfe gegen Becker aufkamen, habe es andere gegeben, die Becker hätten drängen müssen, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen: "Ich vertraute vor allem auf Hartmut von Hentig, dass er nie etwas decken würde, was Kindern schadet. Ich bin bis heute nicht sicher, ob Becker sich ihm anvertraut hat. Ich persönlich verzichtete darauf, Becker auch dazu zu befragen, weil ihm viel näher Stehende es vergeblich versucht hatten."

Weitere Artikel: Peking-Korrespondent Mark Siemons entwirft eine sehr ausführliche Typologie der chinesischen Dissidenten (Ai Weiwei ist dabei als "eine Kategorie für sich"). Ludger Fittkau informiert darüber, dass die Schweizer in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit entschieden haben, dass an "'urteilsunfähigen' Personen" wie Kindern, Behinderten und Dementen ohne deren Zustimmung biomedizinisch geforscht werden darf. Oliver Jungen bietet atmosphärische Schilderungen von Lesungen im Rahmen der lit.Cologne. Online berichtet Jordan Mejias über eine Internetplattform, mit der das US-Außenministerium Bürgerbeteiligung mit Web2.0-Touch demonstriert.

Besprochen werden eine "bahnbrechende" Retrospektive zum Werk von Marina Abramovic im New Yorker MoMA, eine Klassikerabend des Karlsruher Balletts, Armin Petras' Inszenierung von Goldonis "Krieg" und Kleists "Robert Guiskard" an den Münchner Kammerspielen und Franz Molnars "Liliom" in einer Inszenierung von Florian Boesch am Residenztheater. Rezensionen gibt es zu Richard Obermayrs Roman "Das Fenster" sowie zu einem Gedichtband des bulgarischen Lyrikers Georgi Gospodinov (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau).