Heute in den Feuilletons

Kraft-ohne-Freude-Demonstration

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2010. In der FAZ beklagt der britische Filmemacher Adam Curtis in einem Wort zu den britischen Wahlen den Konsumismus, in dem wir uns eingerichtet hätten. Die Zeit hat nach Gesprächen mit Kopftuchträgerinnen eines verstanden: "Kategorisch wird man dem Kopftuch in keinem Fall gerecht." Die SZ bringt eine ganze Seite über die italienische Opernkrise. In Spiegel Online zieht Henryk Broder eine polemische Bilanz von fünf Jahren Holocaust-Mahnmal: tonnenschwere Entlastung.

Spiegel Online, 06.05.2010

Henryk Broder zieht eine polemische Bilanz von fünf Jahren Holocaust-Mahnmal in Berlin: "Es zentralisiert das Gedenken und zieht einen tonnenschweren Schlussstrich unter die Erinnerung. Es dient der kollektiven Entlastung, nicht der individuellen Gewissensprüfung. Denn es hat nichts, überhaupt nichts mit der Gegenwart der Bundesrepublik zu tun. Es stellt keine Verbindung zwischen dem Gestern und dem Morgen her, es zelebriert den Holocaust als ein einzigartiges Ereignis, ohne auch nur anzudeuten, dass sich das Ereignis wiederholen könnte - woanders und unter anderen Voraussetzungen."
Stichwörter: Holocaust, Holocaust-Mahnmal

TAZ, 06.05.2010

Dietmar Kammerer berichtet über die Kurzfilmtage Oberhausen, die in ihrem Sonderprogramm filmische Fundstücke aus der Zeit vor 1918 präsentierten. Sonja Vogel resümiert eine Tagung der Böll-Stiftung in Berlin zum Thema Rechtspopulismus in Mittelosteuropa. In tazzwei fordert der Designer Melih Kesmen, Gründer eines Online-Labels, das islamische Botschaften auf Kleidungsstücken präsentiert, im Interview mehr Gelassenheit in der europäischen Diskussion über ein Burka-Verbot. Auf der Leben-Seite berichtet Nina Apin über Kindesmissbrauch in linken Kreisen der guten alten Bundesrepublik: Anja Röhl, Tochter des konkret-Gründers Klaus-Rainer Röhl, erhebt im neuen Stern Vorwürfe gegen ihren Vater.

Besprochen werden die große Retrospektive von Werken der mexikanischen Malerin Frida Kahlo im Berliner Martin-Gropius-Bau, der inzwischen sechste Zombiefilm von George A. Romero "Survival of the Dead", Peter Liechtis Essayfilm "Das Summen der Insekten - Bericht einer Mumie" und der Dokumentarfilm "David Wants to Fly" von David Sieveking.

Und Tom.

NZZ, 06.05.2010

Barbara Spengler-Axiopoulos erzählt, wie Nikos Stavroulakis, einer von noch sieben auf Kreta ansässigen Juden, die Etz-Hayyim-Synagoge renovierte und zu einem ganz neuen Begegnungsort machte: "An einem Morgen betraten schüchtern und zaudernd drei greise, schwarzgekleidete Griechinnen die Synagoge und fragten, ob sie ihre mitgebrachten Kerzen anzünden dürften. Als Stavroulakis sie später nach dem Grund ihres Besuchs fragte, erfuhr er Folgendes: 'Diese Kerzen haben wir für unsere liebsten Freundinnen angezündet. Sie waren unsere Spielgefährtinnen und Mitschülerinnen. Im Sommer 1944 waren sie auf der 'Tanais' und ertranken mit der gesamten Besatzung des Schiffes. Heute konnten wir ihrer das erste Mal gedenken!' Dies war der Anfang der Havurah von Chania, jener seltsamen Synagogengemeinde, in der Juden verschiedener Denominationen ebenso wie Christen und Muslime stets willkommen sind, wenn sie einen ruhigen Andachtsort suchen." Im Januar gab es allerdings zwei schwere Brandanschläge auf die Synagoge (mehr hier). Die Täter, so Spengler-Axiopoulos, waren zwei Engländer, zwei Amerikaner und ein Grieche.

Beat Stauffer hat Mithly gelesen, das erste Schwulen-Magazin in Nordafrika: "Die erste Nummer von Mithly, eine schmale Broschüre ohne provokatives Bildmaterial, ist ausschließlich auf Arabisch erschienen. Sie enthält unter anderem Berichte junger Homosexueller über ihr Comingout, Tipps zur Prävention von Krankheiten sowie eine Analyse über den Hass der Islamisten gegenüber Schwulen. Die Mai-Nummer soll auch Texte in französischer Sprache enthalten."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Bildern von der Seine in Monets Haus in Giverny, Jan Kounens Film "Coco Chanel & Igor Stravinsky", Jon Favreaus "Iron Man 2" und Alain Mabanckous Roman "Black Bazar".

FR, 06.05.2010

Peter Michalzik fragt sich, was aus dem Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm wird, wenn der Leiter Dieter Buroch demnächst geht. Welche Rolle soll das Haus künftig spielen, welches Profil soll es haben? "Auf der geheimen Liste von Semmelroth [Frankfurts Kulturdezernent] und Buroch scheinen jedenfalls kaum Namen zu stehen, die in der Szene der international agierenden freien Produktionsstätten ernst genommen werden. Zumindest weiß in dieser Szene niemand davon. Dabei ist genau diese Szene das schlagende Herz des Fortschritts im Tanz und im Theater. Und der Mousonturm hat sich bisher immer dazugezählt, auch wenn er zuletzt weniger Grund dazu hatte."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte berichtet von den 56. Oberhausener Kurzfilmtagen. Harry Nutt stellt Heft Nummer 8 der Zeitschrift polar vor. In Times Mager berichtet Harry Nutt von einem "Aufruf von Europäern jüdischer Herkunft", die um Israel fürchten.

Besprochen werden Karoline Grubers Inszenierung der Henze-Oper "Elegie für junge Liebende" an der Essener Aalto Oper, Jon Favreaus Film "Iron Man 2", Bradley Rust Grays Liebesfilm "The Exploding Girl", Frank Hoffmanns Inszenierung des Kleist-Fragments "Robert Guiskard" bei den Ruhrfestspielen, David Sievekings Dokumentarfilm über David Lynch und Laszlo Krasznahorkais Erzählband "Seiobo auf Erden".

Welt, 06.05.2010

Suhrkamp eröffnet einen hippen kleinen Laden in Berlin-Mitte für die Edition Suhrkamp, der zugleich auch ein Veranstaltungsort sein soll - zunächst für drei Monate, berichtet Ulf Poschardt im Aufmacher. In der Leitglosse kommentiert Ulrich Weinzierl einen offenen Brief der NRW-Landesbühnen, die neben realistischen Äußerungen auch eine Erhebung der deutschen Theaterlandschaft in den Status des Unesco-Weltkulturerbes fordern, als weltfremd. Stefan Koldehoff rätselt über die Frage, wer Picassos "Akt mit grünen Blättern und Büste" für 106 Millionen Dollar ersteigert haben könnte. Max Dax unterhält sich mit den Künstlern Damien Hirst und Michael Joo, die in Berlin ausstellen und ihre Kunst auf Wurzeln im Punk zurückführen. Der in Israel lebende Cembalist und Journalist Michael Borgstede wendet sich gegen israelkritische Bücher von Shlomo Sand (hier) und Avraham Burg (hier). Manuel Brug zieht eine eher enttäuschte Bilanz der Münchner Musiktheaterbiennale.

Besprochen werden Filme, darunter "Iron Man 2".

FAZ, 06.05.2010

Auf der Medienseite erklärt der britische Filmemacher Adam Curtis (hier sein Blog bei der BBC) anlässlich der heutigen Wahlen, warum es in der aktuellen Politik nicht eigentlich mehr um politische Fragen geht: "Wir wissen zurzeit sehr wenig über die Welt. Wir sind Komplizen des Konsumismus. Wir genießen das, und wir hatten in den letzten zwanzig, dreißig Jahren eine sehr gute Zeit."

Weitere Artikel: Patrick Bahners war dabei, als zur Eröffnung des Frankfurter Instituts für globale Gerechtigkeitsprobleme der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin einen Vortrag hielt. Lorenz Jäger kommentiert die Aufregung um die jüngste Aktion des Künstlerduos Surrend, in der die Karte eines ausgelöschten Israel unter der Überschrift "Endlösung" zu sehen ist - das Werk verstehe sich im übrigen als Kritik an Israelkritik (im gestrigen Tagesspiegel sah es nach Äußerungen der Künstler allerdings ganz anders aus). Oliver Tolmein zeichnet Konfliktlinien in der Bundesärztekammer zur Frage der Sterbehilfe nach. In der Glosse denkt Edo Reents historisch informiert über den Ausdruck "ultima ratio" nach. Aus Frankreich kann Jürg Altwegg ermutigende Zahlen für den französischen Musikmarkt vermelden. Vom Wiesbadener Filmfestival GoEast (Website) berichtet Hans-Jörg Rother. Necla Kelek schreibt einen Nachruf auf den marokkanischen Philosophen Mohammed Abed Al-Jabri.

Besprochen werden gleich drei neue Inszenierungen des lettischen Regiestars Alvis Hermannis, ausnahmsweise einmal wieder in seinem Heimattheater in Riga, der Abschiedsauftritt des Bassbaritons Jose van Dam als Titelheld "Don Quichotte" in einer Brüsseler Aufführung der Massenet-Oper, Picasso-Ausstellungen in New York und London, eine Pariser Ausstellung über die Gefängnisse der Stadt mit dem Titel "L'impossible photographie", das neue Album "Nobody's Daughter" von Courtney Loves Band Hole, das Chanson-Album "La Musique" von Dominique A, Peter Liechtis Filmessay "Das Summen der Insekten" und Bücher, darunter Rafael Yglesias' neuer Roman "Glückliche Ehe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 06.05.2010

Fürs Dossier hat sich Christian Schüle mit deutschen Musliminnen unterhalten, die aus ganz unterschiedlichen Gründen freiwillig das Kopftuch tragen - oder auch nicht. Schüles Fazit: "Es gibt gläubige Eltern, die ihre Töchter drängen, das Kopftuch für einen Ausbildungsplatz abzulegen. Es gibt Töchter, die es nur ihren Familien zuliebe tragen. Es gibt Eltern, die gegen das Kopftuch sind und hinnehmen müssen, dass ihre Töchter es anlegen. Und es gibt Großfamilien, gegen deren subtilen Druck sich aufzulehnen es junge Frauen sehr schwer haben. Kategorisch wird man dem Kopftuch in keinem Fall gerecht."

Im Aufmacher des Feuilleton hat Peter Kümmel nicht das geringste Problem mit kategorischen Urteilen über deutsche Fußballer: "Diese Deutschen! Sie machten auch aus dem großen Spiel eine Kraft-ohne-Freude-Demonstration." Elisabeth von Thadden findet mit Paul Krugman, dass die Ölpest im Golf von Mexiko auf gut altmodische Art den Amerikanern den Preis für ihren Lebensstil vorführt (und womit fährt von Thaddens Auto, mit Müsli?) Thomas E. Schmidt freut sich über die distanzierte Präsentation der Topografie des Terrors: "Niemand vermisst hier mehr ein Stück Zumthor-Architektur." Ursula März sucht nach dem Erfolgsgeheimnis des Sachbuchautors Eckart von Hirschhausen, "aber er gewinnt an Ambivalenz, je mehr man über ihn weiß und hört". Claus Spahn berichtet von einem Besuch bei den Yanomami: "Der Klang des Urwalds ist ein abenteuerliches polyphones Gewebe, das trotzdem ganz transparent gewirkt ist. Alles hat im Klangspektrum der unberührten Natur seinen konkurrenzfreien Platz." Marius Müller-Westernhagen appelliert an die Musikindustrie, lieber etwas mehr Haltung als Quotenhunger zu zeigen. Der französische Soziologe Luc Boltanski spricht im Interview über die Wichtigkeit von Institutionen und die Aufgabe der Kritik: "Eine gute Gesellschaft ist diejenige, in der zwar Institutionen existieren, sodass nicht ohne Unterlass alles und jedes neu verabredet werden muss, aber in der diese Institutionen zugleich und pausenlos kritisiert werden können." Auf der Seite "Glauben und Zweifeln" hofft Klaus Harpprecht, dass eine Zölibatsdebatte zum Auftakt einer großen Reform wird, die "eine zweite Reformation einleiten könnte".

Besprochen werden eine Ausstellung über die deutsche Nachkriegskunst, "le grand geste!", im Düsseldorfer museum kunst palast (Radikale Avantgardisten waren die deutschen Maler nicht, stellt Hanno Rauterberg fest. "Und das schon deshalb, weil viele Bilder der Deutschen nicht nur später entstanden, sondern auch schlechter gemalt sind als die der internationalen Kollegen."), David Sievekings Dokumentarfilm "David wants to fly" über den Filmemacher David Lynch und die Transzendentale Meditation, Cary Joji Fukunagas mexikanisches Gangsterfilmdrama "Sin Nombre", eine Ausstellung über Nelly Sachs im Jüdischen Museum in Berlin und Bücher, darunter zwei Biografien über Johann Peter Hebel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 06.05.2010

Die ganze erste Feuilletonseite ist der "Opernkrise in Italien" gewidmet. Henning Klüver erklärt, dass auch ein Ausnahmetheater wie die Mailänder Scala von den rabiaten Kürzungen und Reformen nicht ausgenommen ist - und warum gerade das auch wieder nicht gerecht ist. Der Opern- und Filmregisseur Franco Zeffirelli erläutert aus eher neoliberal-elitärer Sicht, warum die Reichen die Hochkultur unterstützten sollten, nicht aber der Staat: "Der Staat kann keine Kulturprogramme betreuen. Wer ist überhaupt der Staat? Das sind halbgebildete Beamte." Vom desolaten Zustand des Opernhauses in Rom berichtet Julius Müller-Meiningen. Reinhard J. Brembeck erklärt vorsichtshalber, warum Oper wichtig ist: als "Faktor für die Ausbildung und Bildung von Bürgern".

Weitere Artikel: Leicht gekürzt abgedruckt wird die Dankesrede des Schriftstellers Wilhelm Genazino zur Verleihung des Rinke-Sprachpreises. Als Einrichtung eines EU-"Zweiklassensystems" begreift es Andreas Zielcke, dass die armen Mitgliedsstaaten sich kaputtsparen sollen, während die nicht so armen auf Keynes und massive Kreditaufnahme setzen. Christine Dössel hat den Heidelberger Stückemarkt besucht, bei dem in diesem Jahr Israel Gastland ist. Thomas Urban berichtet von der Wiedereinweihung der Breslauer Storch-Synagoge. Den Preisweltrekord (106 Mio) für Pablo Picassos Gemälde "Nackte, grüne Blätter und Büste" kommentiert Catrin Lorch. Martina Knoben und Fritz Göttler blicken voraus auf das Münchner Dokfest (Website).

Besprochen werden die Ausstellung "Der Kunschtmeyer" über den Goethe-Weggefährten Johann Heinrich Meyer im Züricher Museum Strauhof, die George A. Romeros neuer Zombie-Film "Survival of the Dead" und Mona Achaches Regiedebüt "Die Eleganz der Madame Michel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite berichtet Timofey Neshitov über chinesische Investitionen in fremdsprachige Medien, die das Bild der Nation beim internationalen Publikum schönen sollen. Und Marc Felix Serrao meldet, dass die Washington Post nach fünf Jahrzehnten das Nachrichtenmagazin Newseek zum Verkauf stellt - wegen mangelnder Gewinne. Für Seite 1 hat constanze von Bullion die neu präsentierte Ausstellung der "Topografie des Terrors" besucht.