Heute in den Feuilletons

Wie mit den Tageszeiten das Weiß variiert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2010. Angela Merkel soll Schluss machen mit dem D-Mark-Nationalismus und die Taschen für notleidende Europäer weit öffnen, fordert Ulrich Beck in der NZZ. Der Tagesspiegel kritisiert Christian Wulffs Verbindung mit den Evangelikalen. Die SZ feiert Olivier Assayas' Dreiteiler über den Terroristen "Carlos" . In der FAZ will der CDU-Politiker Günter Krings per Leistungsschutzrecht für Innovation in den Zeitungen sorgen. Welt-Autor Marko Martin ist fassungslos über Christa Wolf  und die Liebhaber ihres neuen Romans.

NZZ, 26.06.2010

Im Feuilleton feiert Andrea Köhler eine großflächige, aus weißen Gipselementen bestehende Horizontalskulptur Walter de Marias (Bild) im Los Angeles County Museum: "Man kann erfahren, wie das Licht die Gestalt verwandelt, wie mit den Tageszeiten das Weiß variiert, sich plötzlich verdunkelt zu einem changierenden Grau oder aufscheint in leuchtendem Alabaster."

Besprochen wird die Ausstellung "Regie-Frauen - Ein Männerberuf in Frauenhand" in München.

Die Beilage Literatur und Kunst setzt einen EU-Schwerpunkt. Wird sie die aktuelle Krise überleben? Ulrich Beck kritisiert im Hauptartikel sehr scharf Angela Merkel dafür, dass sie die deutschen Taschen nicht noch weiter öffnete: "Die Merkel-Regierung, die Griechenland-Hetze der Boulevardpresse, aber auch große Teile der juristischen und intellektuellen Elite verkennen und verraten die nationalen Interessen Deutschlands, indem sie die Zeit für gekommen halten, Deutschland gegen Europa abzugrenzen und das deutsche Erfolgsmodell gegen die Übergriffe der eifersüchtigen europäischen Nachbarn zu verteidigen, die ihre Staatsdefizite mit dem Griff ins Portemonnaie der Deutschen kurieren wollen."

Außerdem: Der Schweizer Banker Konrad Hummler wendet sich bei der Betrachtung der Krise allerdings gegen "manch intellektuelles Wortgemenge mit viel Halbwahrheiten". Und der Politologe Jan-Werner Müller ruft nach "neuen Gründungsvätern und -müttern". Besprochen werden Bücher, darunter Toni Morrisons neuer Roman "Gnade" (mehr hier).

Perlentaucher, 26.06.2010

In der taz sprach Slavoj Zizek gestern über einen fehlenden Satz in der deutschen Ausgabe von "The Lost Causes": "Hitler war nicht radikal genug." Aber es fehlen noch ganz andere Sätze in der deutschen Ausgabe, merkt Thierry Chervel an. Zum Beispiel dieser hier: "The only true solution to the 'Jewish question' is the 'final solution' (their annihilation) because the Jews qua objet are the ultimate obstacle to the 'final solution' of History itself, to the overcoming of divisions in all-encompassing unity and flexibility." Chervels Mutmaßung hierzu: "Zizek scheint den Satz nicht so zu meinen, wie er da steht, aber ebenso sicher scheint es ihm Spaß zu machen, ihn mal so da hinzustellen."

TAZ, 26.06.2010

Anja Maier spricht mit dem Palliativmediziner Matthias Gockel über das Befriedigende, aber auch über das manchmal Unerträgliche seiner Arbeit: "Ich mache das jetzt seit zehn Jahren und ich schätze, ich habe in dieser Zeit drei- bis viertausend Patienten betreut. Da gibt es vielleicht fünfhundert, mit denen ich ein sehr nahes Verhältnis hatte bis hin zu dem Punkt, wo ich sagen würde, innerhalb teilweise weniger Tage war das wie eine Freundschaft für mich. Es geht nicht spurlos an einem vorbei, wenn man ein paar hundert Freunde verliert. Ich weiß, wir müssen alle sterben. Aber es gibt Tage, da geht das gar nicht."

Weitere Artikel: Klaus Walter liefert eine kleine Philosophie des künstlich stimmmodulierenden Autotune-Effekts in der zeitgenössischen Popmusik. Ines Kappert ist mit der Schauspielerin und Filmregisseurin Tatjana Turanskyi auf der Fanmeile unterwegs und unterhält sich mit ihr über Mode, Emanzipation und mancherlei mehr. Dirk Knipphals guckt mal nach, was aus den Bachmann-PreisträgerInnen der Nullerjahre so wurde. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne zieht Andreas Fanizadeh anlässlich des Kommunismus-Kongresses in der Volksbühne den "antiautoritären" Linken Toni Negri dem "totalitären" Alain Badiou vor. Auf den Politikseiten hat der Politologe Ingo Arend ein umwerfendes (und tatsächlich ernst gemeintes) Argument für die Wahl Christian Wulffs zum Staatsoberhaupt: "Kassenbrille, Langweiler, Schwiegersohn - eben ein solides Mittelmaß so wie du und ich."

Besprochen werden Bücher, darunter Christa Wolfs neuer Roman "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" und Emmanuel Guiberts Comic "Alans Krieg" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 26.06.2010

Die Neurowissenschaftler Grischa Merkel und Gerhard Roth antworten auf Winfried Hassemers in der FAZ formulierten Vorwurf, die Hirnforschung begehe einen Kategorienfehler, wenn sie ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Willensfreiheit für juristisch relevant hielten: "Wer hat denn überhaupt jemals behauptet, Menschen könnten wegen der neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht verantwortlich gemacht werden?

Weitere Artikel: Die Autorin Jagoda Marinic, Tochter kroatischer Einwanderer, bleibt angesichts des aktuellen Nationalmannschafts-Migranten-Jubels skeptisch: "So repräsentativ wie die Nationalmannschaft ist der Bundestag nicht. Nicht einmal annähernd. Und noch immer ist er es, der die Lebenswirklichkeit in diesem Land, auch für Ausländer, maßgeblich bestimmt." In ihrer US-Kolumne widmet sich Marcia Pally dem Urteil eines möglicherweise nicht ganz unbefangenen Richters, der die von Barack Obama ausgesprochenen Ölbohrverbote wieder aufhob.

Besprochen werden ein Konzert des Jazz-Bassisten Avishai Cohen mit seinem Aurora-Quintett im Frankfurter Palmengarten, die im Frankfurter Mousonturm gezeigte jüngste Produktion "The Wolf Boys" der Performance-Gruppe norton.commander, zwei Ausstellungen in Basel, eine zu Jean-Michel Basquiat in der Fondation Beyeler und eine zu Gabriel Orozco im Kunstmuseum (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 26.06.2010

Pardon - wir hatten's gestern übersehen. Nach dem Perlentaucher (hier mehr) greift auch der Tagesspiegel Christian Wulffs Verbindung mit der evengelikalen Organisation Prochrist auf. Claudia Keller schreibt: "Kenner der evangelikalen Szene rechnen Prochrist dem gemäßigten Spektrum zu. Aber auch hier wird ein rigides Familienbild propagiert. Was nicht ins Bild passt wie etwa Scheidung, Abtreibung, Homosexualität, wird diffamiert. Christian Wulff ist geschieden."

Welt, 26.06.2010

Auf der Forumsseite ist Marko Martin fassungslos über das "ehrfürchtige Staunen", das Christa Wolfs neues Buch bei den Kritikern ausgelöst hat: "Fast scheint es so, als habe die humorlose alte Dame, die ihr Bleiben in der DDR einst mit der Formel 'dem Druck des härteren Lebens standhalten' verteidigt hatte, doch recht gehabt mit all ihren Ressentiments gegenüber dem ironisch-leichtlebigen Westen. Immerhin nämlich ist sie ihrem 'utopischen Projekt' treu geblieben, während ihre Kritiker - als wäre tatsächlich alles nur eine willkürlich umzurührende Meinungssuppe und als hätte der profunde Literaturstreit von 1990 nie stattgefunden - nun angesichts des neuen Selbstenthüllungstheaters geradezu in die Knie gehen. Medea in Korinth! Kassandra in Troja! Christa in LA!"

Im Feuilleton erzählt Albert Ostermaier eine Geschichte über Fußball guckende Männer. Dankwart Guratzsch zeichnet anlässlich des Tages der Architektur ein deprimierendes Bild der deutschen Baukunst: Epigonentum dominiert! Und Hanns-Georg Rodek erzählt, wie die kambodschanische Regierung versucht, Bradley Coxs Dokumentarfilm über den vor sechs Jahren erschossenen Gewerkschaftsführer Chea Vichea zu unterdrücken. Wieland Freund denkt über neues Zeitmanagement nach.

Besprochen werden die Ausstellung des Fotografen Jürgen Klauke im ZKM in Karlsruhe und eine Aufführung von Massenets Oper "Manon" mit Anna Netrebko in London.

In der Literarischen Welt schreibt Hannes Stein - anlässlich der Karl-May-Festspiele in Bad Segebert - über Indianer. Wenn Sibylle Lewitscharoff härtere Literaturkritik will, soll sie doch ins Netz gucken, wo "der Mob" tobt, meint Elmar Krekeler (hier, ebenfalls im hiochgefährlichen Internet, Lewitscharoffs Klagenfurter Rede). Matthias Politycki erzählt von einer traumatischen Eventlesung in einem Recklinghausener Hallenbad. Jacques Schuster porträtiert Susan Taubes als Schriftstellerin von Rang.

Besprochen werden unter anderem Friedrich Sieburgs Band "Die Lust am Untergang" und Robert Harrisons Buch "Gärten".

SZ, 26.06.2010

Am nächsten Wochenende läuft auf dem Münchner Filmfest Olivier Assayas' eigentlich fürs Fernsehen entstandener Dreiteiler über den Terroristen "Carlos". Tobias Kniebe feiert das Werk auf der ersten Feuilletonseite als großes Filmereignis, nicht zuletzt, weil Assayas Fiktionen eine fast unfassbare Wirklichkeit begreiflich machen: "Auf eigentümliche Weise, wie durch bunte, elegante Pop-Art-Schleier von der Wirklichkeit entrückt, ergibt das alles dennoch perfekten Sinn. Denn wie soll man schon einen Mann darstellen, der in real dokumentierten Briefen von der 'vulkanischen Weiblichkeit' einer Geliebten faselt, deren 'katzenhafte Sexiness mein brennendes Verlangen schürte'? Was ist das - wenn nicht absurde Machismo-Selbstinszenierung, Hand-ans-Gemächt-Prosa?"

Weitere Artikel: Fritz Göttler schreibt über eine Doku, die das schwierige Verhältnis von Jean-Luc Godard und Francois Truffaut nachzeichnet: "Deux de la vague". In neun Thesen zum Tag der Architektur lobt Gerhard Matzig nicht zuletzt das Unoriginelle. Lothar Müller bietet mit Fallada-, Steinbeck- und Springsteen-Lektüren ein wenig Hintergrundinformation zur Differenz zwischen Deflation und Inflation im Verhältnis deutsch-amerikanischer Finanzängste. Zum Verkaufsstart des neuen, standortdatenweitergebenden Iphone erklärt Johannes Kuhn, dass auch Apple inzwischen viel Skepsis in Sachen Datenschutz entgegenschlägt. Gottfried Knapp informiert über das bis August andauernde internationale Musik-Festival im alten Schlosspark von Grafenegg.

Timofey Neshitov besucht für die SZ am Wochenende den nicht unumstrittenen, in den USA im Exil lebenden islamischen Prediger Fetullah Gülen. Neshitov hat in St. Petersburg selbst eine der von Gülen gegründeten Schulen besucht und liefert ein Porträt, das Kritikpunkte erwähnt, insgesamt aber sehr positiv ausfällt: "Gülen empfindet eine tiefe, persönliche Scham angesichts des heutigen Zustands der muslimischen Welt. Es tut ihm weh, dass Islam mit Terror und Ignoranz assoziiert wird."

Im Aufmacher beklagt Gerhard Matzig die Spektakelarchitektur in den Alpen und ihre Folgen. In einer zweiseitigen Reportage berichten Reymer Klüver, Martin Kotynek und Nicolas Richter über die Vorgänge rund um die Deepwater-Horizon-Katastrophe. Auf der Historienseite erzählt Joachim Käppner, wie und warum sich die Väter des Grundgesetzes das Amt des Bundespräsidenten ausdachten. Abgedruckt wird auf der Literaturseite der Anfang des in diesen Tagen in deutscher Sprache erscheinenden Romans "Die Reise des Elefanten" des kürzlich verstorbenden Literaturnobelpreisträgers Jose Saramago. Eva Karcher unterhält sich mit dem Künstler und Filmregisseur Julian Schnabel über "Befreiung".

Besprochen werden ein Konzert von Charlotte Gainsbourg in Brüssel, die Ausstellung "Sahure - Tod und Leben eines großen Pharao" im Frankfurter Liebieghaus, die Ausstellung "Thomas Mayfried: Ephemera" im Münchner Haus der Kunst und Bücher, darunter Michael Walters Neuübersetzung von Laurence Sternes "Empfindsamer Reise" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 26.06.2010

Wenig Neues ist von Zeitungen noch zu erwarten - es sei denn, sie bekommen das Leistungsschutzrecht. So sieht es jedenfalls der CDU-Politiker Günter Krings vor der Anhörung zum Thema im Bundesjustizministerium: "Ordnungspolitisch ist die Einführung eines ausschließlichen Leistungsschutzrechtes für Presseverlage unbedingt nötig, um den rechtlichen Rahmen für mehr Anreize für Kreativität und Innovation zu setzen und Wettbewerb zu ermöglichen."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger glossiert das gestrige taz-Interview mit Slavoj Zizek, wo auch das Fehlen des Satzes "Hitler war nicht radikal genug" in der deutschen Ausgabe von Zizeks Buch "Auf verlorenem Posten" zur Sprache kam (da fehlen allerdings noch ganz andere Sätze, mehr hier). Zwei Reden sind heute abgedruckt: John Le Carre plädierte im Auftrag einer deutschen Werbewoche in England für das Erlernen der deutschen Sprache und den Abbau von Vorurteilen. Martin Mosebach sprach beim Braunschweiger Symposion "Zwischen Traum und Trauma - die Stadt nach 1945" von den Vorzügen von Gründerzeitwohnungen und einer konservativen Stadtplanung. Jürgen Dollase bespricht in seiner Gastrokolumne ein Buch des Starkochs Joachim Wissler (das allerdings schwer zu bekommen ist). Oliver Tolmein kommentiert das aktuelle Urteil des BGH zur Sterbehilfe. Joachim Müller-Jung feiert den Abdruck des von Craig Venter entschlüsselten menschlichen Genoms in der FAZ vor zehn Jahren. Auf der letzten Seite schreibt Marcus Jauer über Hannover und die vielen berühmten Menschen, die ausgerechnet aus dieser Stadt kommen.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht?s unter anderem um Bruno Maderna, um die Folkrockgruppe Delta Spirit und um eine CD-Reihe des WDR mit Pionieraufnhamen der Neuen Musik.

In Bilder und Zeiten gratuliert Walter Moers höchstselbst dem Animations- und Special Effects-Veteranen Ray Harryhausen zum Neunzigsten. Maria Frise schickt eine Reportage aus dem sozialen Brennpunkt Hamburg-Horn, wo man der Rasselbande durch Musikunterricht beikommen will. Auf der letzten Seite unterhält sich Julia Spinola mit Cecilia Bartoli. Auf der Literaturseite wird unter anderem ein Band mit Gedichten Georg Kreislers besprochen (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Walter Hinck ein Gedicht Bertolt Brechts vor - "Landschaft des Exils":

Aber auch ich auf dem letzten Boot
Sah noch den Frohsinn des Frührots im Takelzeug
Und der Delphine graulichte Leiber, tauchend
Aus der japanishen See (...)"