Heute in den Feuilletons

Zum letzten Trümmerl-Ablegen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2011. Für die NZZ  schreitet Alex Capus in Flip-Flops über die Bahnhofstraße. In der Jungle World erklärt Kenan Malik, warum die Londoner Krawalle kaum als politischer Akt zu verstehen sind. Der Freitag empfiehlt das Cafe Heine. Was hat die Sarrazin-Debatte gebracht? Nix! Meint Hamed Abdel-Samad in der Welt. Und Sie stehen nicht gerne auf? Dafür gibt's jetzt eine App, meldet Mashable.

Jungle World, 18.08.2011

Die Londoner Krawalle der letzten Woche lassen sich kaum politisch lesen, meint der britische Publizist Kenan Malik im Gespräch mit Federica Matteoni, im Gegenteil: "Der Generationenkonflikt ist wichtiger als ethnische oder religiöse Unterschiede. Ich würde fast nur von einem Generationenkonflikt sprechen. Es ist beeindruckend, wie wenig die Randalierer sich um ihre Communities zu sorgen scheinen. Sie scheinen nicht einmal ein Bewusstsein dafür zu haben, dass sie in einer Community leben."

Claire Horst findet die neue Roche ziemlich doof: "Wie die Elizabeth denkt die Charlotte auch ganz viel nach. Seit sie mal auf einem Konzert von Jan Delay einen Attac-Stand gesehen hat, ist sie politisch engagiert und war auch bei den Castor-Protesten. Dem Christian Wulff hat sie voriges Jahr Sex angeboten, wenn er das Abkommen zur Laufzeitverlängerung der AKW nicht unterschreibt."

Julian Schumacher schickt einen interessanten Hintergrundbericht aus Ägypten, wo sich Islamisten und das Militär gegen säkulare Kräfte zu verbünden scheinen, aber auch dieses Bündnis sei labil. Und Magnus Klaue fragt sich, wen Anders Breivik mit den "Kulturmarxisten" meinen könnte.

TAZ, 18.08.2011

Postironischer Popcorn-Patriotismus ohne Skepsis gegenüber Amerika und seinen Helden, dafür aber mit 3D-Effekten - so lautet die Zusammenfassung von Georg Seeßlens Kritik zu Joe Johnstons Film "Captain America". Er schreibt: "Das Missvergnügen, zumindest für uns liberalkritische Europäer, entsteht aus der Unbekümmertheit, mit der hier aus historischen Versatzstücken ideologische Module und durchschaubare Feindbilder gewonnen werden. So als wäre der 'Krieg gegen den Terror', den Amerika nicht gewinnen kann, aber auch nicht verlieren, solange es Kerle wie den Cap gibt, tatsächlich der Schatten jenes gerechten Krieges gegen Nazideutschland."

Besprochen werden die Komödie "Crazy, Stupid, Love" von Glenn Ficarra und John Requa, die DVD von Franz Müllers Film "Die Liebe der Kinder" sowie neue Biografien über Heinrich von Kleist von Günter Blamberger und Peter Michalzik und der von Mathias Brodkorb herausgegebene Rückblick zum Historikertsreit "Singuläres Auschwitz?" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

Aus den Blogs, 18.08.2011

Für jeden, der nicht gerne aufsteht empfiehlt Zachary Sniderman in Mashable eine Wecker-App, die jedes Mal 25 Cent spendet, wenn man auf "Snooze" drückt: "Need just another 10 minutes before stumbling out of bed? A new iOS app is turning those precious minutes into a chance to donate to charity. Snooze is an alarm clock app for your iPhone, iPod Touch or iPad that pledges $0.25 of your own money to charity every time you hit the snooze button. Users set a desired charity and the app will calculate how many times you hit snooze. There will be two opportunities every month to donate."
Stichwörter: Iphone, Ipod, Aufstehen, #aufstehen, Thonet

Welt, 18.08.2011

Ein Jahr nach Erscheinen des Sarrazin-Buchs fragt sich Hamed Abdel-Samad, "ob wir in der Debatte irgendetwas außer Polarisierung, Empörung und Beleidigung wahrgenommen haben", und beantwortet die Frage gleich selbst mit nein: "Beide Seiten reagieren auf die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche dieser Welt mit Verunsicherung und Angst, die jede Seite auf die andere projiziert. Doch statt die Spannung der Veränderung auszuhalten und sich an die eigene Nase zu fassen, sucht man die Schuld beim ewig anderen."

Im Kulturteil meditiert Mara Delius nach Charlotte Roches neuestem Buch über eine zwanghafte Zwanglosigkeit in der heutigen deutschen Öffentlichkeit. Tilman Krause geht die Longlist des Deutschen Buchpreises durch und favorisiert eindeutig die Schriftstellerinnen der Liste - von Sibylle Lewitscharoff bis zu Judith Schalansky. Manuel Brug erlag in der Waldbühne den üppigen, auch gesanglichen Reizen Anna Netrebkos. Thomas Lindemann besuchte die Kölner Videospielmesse Gamescom.

Besprochen wird die romantische Filmkomödie "Crazy, Stupid, Love" (mehr hier).

NZZ, 18.08.2011

Der Schweizer Schriftsteller Alex Capus besingt den Flip-Flop, der in ärmeren Gegenden erschwingliches Schuhwerk bietet, bei uns dagegen "saloppen Wohlstand" bezeugt: "In stil- und klassenbewussten, bürgerlich-urbanen Kreisen regt sich gelegentlich Unmut angesichts der epidemischen Ausbreitung dieses scham- und formlosen, egalitären Umherschlurfens in Gummilatschen, die ihre Berechtigung doch eigentlich allenfalls im Strandbad, aber gewiss nicht an der Bahnhofstraße hätten. Flip-Flop-Befürworter halten dem entgegen, dass es bei dreißig Grad im Schatten an der Bahnhofstraße nicht kühler sei als bei dreißig Grad am Strand."

Weiteres: Josef Nagel besichtigt das neu gestaltete Filmmuseum in Frankfurt. Jenny Berg berichtet vom Festival "Herbst des Mittelalters" in Basel. Besprochen werden Woody Allens Spiel mit den Klischees "Midnight in Paris", eine Ausstellung in Bregenz zum architektonischen Schaffen von Ai Weiwei, Albert Ostermaiers Roman "Schwarze Sonne scheine" und Kazuki Kaneshiros Roman "GO!" über Koreaner in Japan (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Freitag, 18.08.2011

Wunderschön führt der immer sehr lesenswerte Helmut Schödel in sein Wiener Lieblingscafe ein, das Cafe Heine unweit des Pratersterns: "An dieser Stelle Wiens, gegenüber dem viel kleineren Cafe Else, einst ein viel besuchter Ort der Rotlichtwelt, steht das Cafe Heine, ein lang gezogenes Kaffeehaus mit zwei Räumen, einem Separee und im Sommer einem angenehmen Schanigarten zum Draußen-Sitzen, an dem vorbei jeden Abend die Hundebesitzer ihre Lieblinge zum letzten Trümmerl-Ablegen führen."

Und jetzt kommt's drauf an, warnt Jakob Augstein im Aufmacher: "Demokratie oder Kapitalismus".

FR/Berliner, 18.08.2011

Im Krimi "Radikal" des Spiegel-Online-Redakteurs Yassin Musharbashs wird ein grüner Spitzenpolitiker ermordet. Der Abgeordnete Omid Nouripour schreibt dazu aus eigener Betroffenheit: "Die Hass-Mails, die Latif in Musharbashs Roman von Radikalen aller Art erhält, das verrückt-gefährliche 'Manifest' des Anders Breivik, die Kampfschriften der Al-Qaida: Sie alle kommen mir so bekannt vor, weil ich selbst seit Jahren ähnliche Hass-Mails erhalte - eben von Radikalen aller Art."

Weiteres: Daniel Kothenschulte gratuliert Robert Redford zum 75. Geburtstag. Silvia Staude kann von Schenkungen an das Frankfurter Museum für Moderne Kunst berichten. Besprochen wird Marcus Rosenmüller "heiterer Heimatfilm" aus Poona "Sommer in Orange".

Zeit, 18.08.2011

Gut, London hat soziale Probleme, die Gewalt und die Plünderungen waren so unschön wie die Kälte, mit der sie nun bedacht werden, räumt der in London lebende Fotograf Wolfgang Tillmans, aber ansonsten ist es die wunderbarste Stadt der Welt: "Trotz der extremen Situation und der erlebten Gewalt darf man nicht vergessen, dass London in Wirklichkeit die integrierteste Region ganz Europas, wenn nicht der Welt. Selbst New York ist segregierter. Selbstverständlich halten die Verkehrsbetriebe London Transport spezielle Uniformmützen für ihre karibischen Mitarbeiter bereit, Mützen, unter die beispielsweise Rastalocken passen; London Transport hat aber auch eine Variante für Sikh-Mitarbeiter." Carolin Emcke trifft außerdem auf recht ratlose Autoren in London, von Hanif Kureishi bis Adam Thirlwell.

Im Interview zu seiner nächste Woche erscheinenden Autobiografie "Das Bastardbuch" spricht Regisseur Hans Neuenfels über sein exzessives Bühnenleben: Was das sogenannte Bürgerliche angeht, habe ich immer versucht, dem nicht zu nahe zu kommen, nicht hineinzuspielen. Mir ist alles Gesellschaftliche, Repräsentative und Strategische verhasst."

Weiteres: Die israelische Soziologin Eva Illouz hofft, dass mit den Protesten in Israel endlich wieder auch Innenpolitik auf die Agenda des Landes kommt. Die beiden Ethnologen Kerstin Eckstein und Michael Schönhuth betrachten kritisch das von Christoph Schlingensief initiierte Operndorf. Japan ist dunkler geworden, bemerkt Tobias Timm beim Besuch der Triennale in Yokohama, aber dadurch auch magischer. Thomas Assheuer möchte klarstellen, dass Peter Handkes neues Stück "Immer noch Sturm" eine durchaus reaktionäre Polemik gegen die Moderne und den Westen ist zugunsten der "heiligen slowenischen Sprachabstammungsgemeinschaft".

Besprochen werden außerdem Christoph Marthalers Inszenierung von Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" in Salzburg, Woody Allens Hommage an die Zwanziger "Midnight in Paris", Hal Vaughans Buch über Coco Chanel als angebliche Nazi-Agentin und Feridun Zaimoglus Roman "Ruß" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Dossier erzählt Anna Kemper die Geschichte der Kölner Familie Türköz.

FAZ, 18.08.2011

Als geradezu kulturkampfartig beschreibt Paul Ingendaay die Auseinandersetzungen in Spanien zwischen Laizisten und Kirche in Vorbereitung des großen Weltjugendtags cum Papstbesuch. Ingendaay immerhin weiß, wie ein richtiger Spanier in der Sache zu empfinden hat: "Das Peinliche an den laizistischen Einwänden ist nicht die offensichtliche Heuchelei, sondern die mit Staatstheorie maskierte Intoleranz. Es liegt etwas Unspanisches in dieser sauertöpfischen Kleinlichkeit."

Weitere Artikel: Wie die monarchischen Herrscher in Marokko und Jordanien mit vorsichtigen Reformen und dank ihres "Erb-Charismas" als angebliche Mohammed-Abkömmlinge bislang durchkommen, schildert Joseph Croitoru. Lena Bopp schlägt sich in der Auseinandersetzung zwischen Charlotte Roche und Alice Schwarzer zwar nicht auf Schwarzers Seite, vermisst aber doch historisches Feminismusbewusstsein bei Roche. Ingo Petz trifft den weißrussischen Künstler und Schriftsteller Artur Klinau. Das diesjährige Berliner Young Euro Classics-Festival resümiert Jan Brachmann. Nach der Restaurierung ist, wie sich Dieter Bartetzko freut, die Frankfurter Kirche St. Leonard als "Schatzkammer des Weichen Stils" der gotischen Skulptur wiederzuentdecken. Auf der Kino-Seite resümiert Verena Lueken die Vincente-Minelli-Retrospektive beim Festival in Locarno. Auf der Leserbriefseite finden sich gleich zwei sehr geharnischte Reaktionen auf die ausführliche Charlotte-Roche-Bejubelung im FAZ-Feuilleton - eine beginnt so: "Ich gratuliere Felicitas von Lovenberg zu ihrer Bankrotterklärung als Journalistin."

Besprochen werden die "Via regia"-Ausstellung in der Kaisertrutz Görlitz, neue Jazzalben von Andreas Schnermann und Werner Hasler, die mit unter anderen Julianne Moore und Steve Carrell bestens besetzte Hollywood-Komödie "Crazy, Stupid, Love" und Bücher, darunter Graham Swifts neuer Roman "Im Labyrinth der Nacht" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.08.2011

Ein weiteres - aber nach der Tarifeinigung letztes - Mal ist die SZ heute streikbedingt arg schmal. Ohne Namen und Medien zu nennen (es geht um Zeit und FAZ) erklärt Thomas Steinfeld im Feuilleton-Leitartikel, woran man bloße Selbstbestätigungs-Betroffenheits-Literatur wie die "Schoßgebete" schon am Paratext erkennt: "Dass in der vergangenen Woche in überregionalen Zeitungen gleich zwei große Interviews mit Charlotte Roche erschienen, über denen je ein Bild von Interviewerin und Interviewter in trautem Nebeneinander (und in gleicher Größe) prangte, ist der sichtbare Ausweis dieser grundsätzlichen Affirmation auf Gegenseitigkeit."

Weitere Artikel: Burkhard Müller erinnert in der Serie "Verschollene Länder" an Mobutus Erfindung von Zaire. Über die Eröffnung des Nachlasses des Altphilologen Karl Reinhardt in der Münchner Staatsbibliothek freut sich Thomas Meyer.

Besprochen werden der Gustav-Mahler-Schwerpunkt bei den Salzburger Festspielen, die Ausstellung "Lumiere Noire - neue Kunst aus Frankreich" in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, Woody Allens neuer Film "Midnight in Paris" (beistehend ein Interview mit dem Regisseur), Norbert Beilharz' in Salzburg uraufgeführtes Filmporträt "Thomas Bernhard - Die Kunstnaturkatastrophe" und Angelika Klüssendorfs neuer Roman "Das Mädchen".