Heute in den Feuilletons

Dann lernte ich noch zwei Jahre bei Proust

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2011. Die FAZ bringt die Rede, in der Martin Walser erklärt, warum es gar nicht sein kann, dass er Antisemit ist. Der Mediendienst DWDL.de staunt über die Hardcore-Integrationsfähigkeit der Bambi-Jury. Der Islamismus ist eine rechtsextreme Ideologie, auch wenn ihn vor allem Linke dulden, meint Frederik Stjernfelt in der Jungle World nach dem Brandanschlag auf Charlie Hebdo. In der taz erklärt die Regisseurin Kelly Reichardt, wie es bei den Siedlertrecks wirklich zuging: formell. Die Zeit nimmt eine Prise Kritik am Mainstream.

Jungle World, 10.11.2011

Der Islamismus ist eine rechtsextreme Ideologie, der die europäische Linke mit Duldsamkeit begegnet, meint der dänische Multikulti-Kritiker Frederik Stjernfelt in einem Kommentar zum Brandanschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einigen knieweichen Kommentaren, besonders in britischen Medien: "Die demokratischen Kräfte in den säkularisierten westlichen Gesellschaften sollten begreifen, dass wir uns in einer neuen Situation befinden, nämlich einer seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Verdichtung auf der Seite der Rechtsextremen, wobei extremer Nationalismus, Neonazismus, Ethnopluralismus und Rassismus mit dem christlichen und dem islamischen Fundamentalismus konkurrieren. Man darf sich nicht dadurch blenden lassen, dass diese Ideologien und Bewegungen sich gegenseitig anfeinden: Gemeinsam haben sie alle ein tiefes Ressentiment gegen die Aufklärung und den Liberalismus."

Aus den Blogs, 10.11.2011

Nach dem "Courage-Bambi" an den Scientologen Tom Cruise wird nun ein "Integrations-Bambi" verliehen, und zwar an den deutschen Rapper Bushido. Thomas Lückerath vom Mediendienst DWDL.de findet das nicht richtig: "Die Begründung dieser Auszeichnung ist im Zusammenhang mit einem Blick auf die Karriere von Bushido so perfide, dass man die Augen nicht verschließen kann. 'Bushido setzt sich ein gegen Gewalt und für ein respektvolles Miteinander', erklärt die Jury." Lückerath reibt sich die Augen: "Nicht nur in seinen Songs auch in Interviews und bei Auftritten ist Bushido immer wieder durch diskriminierende und verachtende Texte gegenüber Frauen oder Schwulen aufgefallen. Die Textzeile 'Ihr Tunten werdet vergast' in einem seiner Songs wurde erst nach öffentlichen Protesten abgeändert."
Stichwörter: Bushido, Cruise, Tom, Integration

NZZ, 10.11.2011

Stepan Cernousek schildert Eindrücke von einer Reise entlang jener Eisenbahnlinie, die Stalin am Polarkreis von Gulag-Häftlingen und Verbannten bauen ließ. Gesäumt ist die Linie von Hunderten von ehemaligen Lagern: "In den Zellen stehen noch immer die Kübel für Exkremente. Das hier erlittene Leid scheint ganz nah. Es fröstelt mich. Doch dank der Kühle quält uns für einmal kein gnus-Schwarm. Deshalb harren wir hier eine ganze Stunde aus und nicht aus Pietät."

Weiteres: Joseph Croitoru berichtet vom Gezerre um das geplante Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem. Besprochen werden David Cronenbergs Film "Eine dunkle Begierde" und Paolo Sorrentinos Film "This Must Be the Place", Alice Schwarzers Autobiografie "Lebenslauf" und Laurent Binets Roman "HHhH" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 10.11.2011

Im Feuilleton bedauert Marko Martin die russische Exilgemeinde in Nizza, die sich seit 1917 um die dem ermordeten Zarewitsch geweihte Kathedrale scharte und nun den Schlüssel für die Kathedrale an Putins Büttel überreichen muss.

Besprochen werden die große Leonardo-Schau in London, Gerhart Hauptmanns "Einsame Menschen" in Düsseldorf, eine Walter-Benjamin-Ausstellung in Paris und Filme, darunter David Cronenbergs "Eine dunkle Begierde" (mehr hier).

Im Forum kann es Marko Martin immer noch nicht fassen, dass eine Frau, die noch im Sommer 1989 die Bundesrepublik als Posse denunzierte, heute MDR-Intendantin sein kann: Wunder des Recycling! Und Thomas Schmid kommentiert Berlusconis klägliches Ende.

TAZ, 10.11.2011

Regisseurin Kelly Reichardt erzählt im Interview, warum in ihrem Film "Meek's Cutoff" - über einen Siedlertreck im 19. Jahrhundert - der Umgang zwischen Männern und Frauen so formell ist: "Die Frauen haben ihren Ehemann meist beim Nachnamen angesprochen, das war normal. Man darf aber nicht vergessen, unter welch widrigen Umständen diese Trecks stattfanden. Das war auch eine sehr formale Angelegenheit, bis hin zur Kleidung. Die Leichtigkeit der Reise liegt eher in der Freundschaft unter den Frauen. Ich erinnere mich an den Eintrag einer Frau, die schreibt, dass sie ihr eigenes Tagebuch unter anderem deshalb führt, falls ihr Mann sie eines Tages besser kennenzulernen wünsche." Hier eine kurze Inhaltsangabe des Films.

Außerdem: Carla Baum porträtiert die kolumbianische Rapperin Diana Avella, die gerade beim Festival "Translating HipHop" im Berliner Haus der Kulturen der Welt auftritt.

Besprochen werden Paolo Sorrentinos grotesk überhöhtes Roadmovie "Cheyenne - This Must Be The Place" mit Sean Penn und Frances McDormand, die DVD von Francis Ford Coppolas "in all seinen Verirrungen wirklich großem" Film "One from the Heart" und der Erinnerungsband "Das Paradies" von Andrea Hanna Hünniger (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR/Berliner, 10.11.2011

Die Unesco-Konvention zum Schutz immateriellen Kulturguts steht kurz vor der Ratifizierung, berichtet Daniela Vates. Sie soll Praktiken schützen, die bestimmten Gruppen "ein Gefühl von Kontinuität und Identität" vermittelt: "Damit der Ku-Klux-Klan und andere Gruppierungen sich nicht angesprochen fühlen, ist angemerkt, dass die Wahrung von Menschenrechten und gegenseitige Achtung Bedingung sind."

Weitere Artikel: Sylvia Staude meldet, dass der Mousonturm unter seinem neuen Leiter Niels Ewerbeck erst einmal geschlossen wurde. Auf der Medienseite spekulieren Simon Hurtz und Marin Majica, welchen Partner sich die Huffington Post wohl für ihren deutschen Ableger aussuchen wird.

Besprochen werden David Cronenbergs Film "Eine dunkle Begierde" ("formvollendet" findet Anke Westphal ihn), Kelly Reichardts Drama "Meek?s Cutoff" und Cosima von Bonins "Lazy Susan"-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig.

SZ, 10.11.2011

In keinem Land der Welt wurden in den vergangenen Jahren mehr Menschen unter Terrorverdacht verurteilt als in der Türkei, gefolgt von China auf dem zweiten Platz, informiert Tim Neshitov. Ein Grund hierfür liege in der nur relativen Freiheit des Landes, die der Erdogan-Regierung willkürlich anlegbare Maßstäbe gestatte: Der Publizist Ahmet Insel "erkennt in der Türkei Anzeichen eines 'demokratischen Autoritarismus'. Er meint damit ein Regime, das 'alle Formen von Opposition kriminalisiert, die es nicht akzeptieren kann' und dazu Verschwörungstheorien benutzt. [...] Kein Mensch scheint Genaueres über die Untergrundorganisation Koma Civaken Kurdistan (KCK) zu wissen, mit der der Verleger Ragip Zarakolu und nahezu zweitausend weitere Inhaftierte nun in Verbindung gebracht werden."

Weiteres: Video ist das "narrative Medium der Stunde", stellt Catrin Lorch angesichts neuer Arbeiten von Kutlug Ataman, Omer Fast und Anri Sala fest. Tobias Kniebe unterhält sich mit Keira Knightley über deren neuen Film, das Psychoanalyse-Drama "Eine dunkle Begierde", das Fritz Göttler bespricht. Thomas Steinfeld schwärmt von der Popsängerin Shelby Lynne. Bernd Dörries berichtet über den Streit zwischen dem muslimischen Dachverband Ditib und dem Architekten Paul Böhm über den Bau der Kölner Moschee . Jörg Häntzschel meldet, dass Christos Projekt "Over the River" von der zuständigen US-Behörde genehmigt wurde.

Besprochen werden eine Performance der Batsheva Dance Company in Frankfurt, Maria Bues Romanadaption von Sofi Oksanens "Fegefeuer" am Theater Osnabrück, der Film "Another Earth" und Bücher, darunter Antonia Baums Roman "vollkommen leblos, bestenfalls tot" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.11.2011

Theologiebewehrt rechnet Martin Walser in einer gestern an der Universität Harvard gehaltenen, ganzseitig dokumentierten und von Felicitas von Lovenberg in einem andächtigen Kommentar bereits gewürdigten Rede mit dem Rechthaben ab, eine laut Walser vorrangig unter Linken grassierende Haltung. Freilich will auch Walser abschließend rechthaben und rechtfertigt sich nachdrücklich gegenüber allen Anwürfen, die er regelmäßig auf sich gezogen hat, vor allem nach der Paulskirchenrede vor 13 Jahren: "Ein Antisemit konnte ich nicht sein, weil während der wichtigsten fünf Jahre meiner Lehrzeit Kafka mein Vorbild war. Ich glaube, ich war der erste, der über ihn eine Dissertation schrieb. Dann lernte ich noch zwei Jahre bei Proust und schrieb über Heine."

Berlusconi mag zwar bald die politische Bühne verlassen, so recht Freude darüber kommt in Italien aber nicht auf, notiert Dirk Schümer, den das nicht wundert: Denn Berlusconi agierte "nicht als Ursache der Krise des Landes, sondern ist nur ein (wenn auch das schrillste) Symptom für einen kulturellen und ethischen Verfall, der die gesamte politische Klasse einschließt".

Weiteres: Christina Hucklenbroich befasst sich in einem informativen Hintergrundartikel mit Positionen des Tierschutzes zu religiösen Schlachtungen. Polen hat die "am höchsten entwickelte, zerklüfteste, abenteuerfreudigste Jazzszene", schwärmt Ulrich Olshausen in seinem Bericht vom Berliner Jazzfestival. Andreas Rossmann informiert über den Stand der Dinge im Kölner Moscheenstreit zwischen dem Architekt Paul Böhm und dem islamischen Verband Ditib. Sabine Frommel stellt den geplanten Neubau des französischen Verteidigungsministeriums vor. Lena Bopp blickt auf die ersten, bei C.H. Beck erschienenen Bände der zuvor bei Langewiesche-Brandt beheimateten Reihe "textura". Rüdiger Suchsland unterhält sich mit David Cronenberg über dessen neuen Film "Eine dunkle Begierde". Hans-Jörg Rother übermittelt Notizen vom Filmfestival Cottbus.

Auf der Medienseite informiert Jörg Wittkewitz, dass in der Wikipedia allen Ernstes über Filter nachgedacht wird, mit denen etwa religiös Empfindliche missliebige Informationen ausblenden können.

Besprochen werden Roland Emmerichs Shakespeare-Spekulation "Anonymus", eine Performance der Batsheva Dance Company, das neue Album von Niels Frevert und Bücher, darunter die Autobiografie des Science-Fiction-Avantgardisten J.G. Ballard (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 10.11.2011

"Wo waren die Intellektuellen eigentlich, als Europa die Luft ausging?" Thomas Assheuer richtet eine Menge Fragen an die kritische Intelligenz, die sich nie über ihre nationalen Zirkel zu einer Europäische Öffentlichkeit zusammenfinden konnte. Aber vielleicht ist es nicht zu spät: "Es wäre ein Fehler, wenn Intellektuelle diese Krise ungenutzt verstreichen ließen. Obwohl sie es auch nicht besser wissen, steht es ihnen frei, sich ungefragt mit einfachen Vorschlägen an einem komplizierten Projekt zu beteiligen. Wie soll jenes föderale Europa aussehen? ... In welchen Verhältnis stehen dann die nationalen Demokratien zur EU-Verfassung? Mit einem Wort: Welche Gestalt hat der Souverän?"

Weitere Artikel: Ijoma Mangold erinnert daran, wie sich eine grüne Politdelegation vor dreißig Jahren nach Tripolis aufmachte, um dem Autor des "Grünen Buchs", Muammar al-Gaddafi, ihre Aufwartung zu machen. Der Philosoph Kenichi Mishima schildert die derzeitige Stimmung in Japan. Ursula März beobachtet ein Umsichgreifen alberner Verdächtigungen.

Besprochen werden die große Leonardo-Retrospektive in der National Gallery in London, Kelly Reichardts Western "Meek's Cutoff" und Bücher, darunter Ian Kershaws Studie über die letzten Tage des nationalsozialistischen Deutschlands "Das Ende" und Klaus Bittermanns neues Buch mit dem hübschen Titel "Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Übrigens kann es gut sein, dass ab morgen alle gegen den Mainstream sind: Im Dossier plädiert Harald Martenstein gegen das Juste Milieu und für die "Reaktanz". Wenn alle Medien das Gleiche schreiben, hat das nichts zu tun mit Verschwörungen - oder Einfallslosigkeit - behauptet er: "Alle sind gegen Westerwelle und gegen Kernkraft, alle waren für Klinsmann. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen ungern alleine dastehen. Sie möchten Erfolg haben und geliebt werden. Das gilt auch für Journalisten. Im Mainstream ist man sicher. Die meisten Medien spiegeln folglich den Mainstream wider und verstärken ihn dadurch noch, aber sie erschaffen ihn nicht."