Heute in den Feuilletons

Natürlich Snippet-frei

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2012. Online-Medien zielen immer mehr auf globale Märkte, aber nur die wenigsten haben Chancen, meint der Economist. Die FAZ singt ein Loblied auf die HBO-Miniserie "Mildred Pierce". Warum sollen in Hebron nicht ein paar hundert Juden leben?, fragen Tagesspiegel und Achgut nach Sigmar Gabriels Apartheids-Vorwurf. Die Leipziger Buchmesse ist eröffnet. Der Börsenvereinsvorsitzende Gottfried Honnefelder spricht sich für Acta aus. FR und taz freuen sich sehr über den Leipziger Buchpreis für Wolfgang Herrndorf.

Weitere Medien, 16.03.2012

(Via Hemartin) Online-Medien zielen immer mehr auf ein internationales Publikum, berichtet der Economist. Allerdings haben nur sehr wenige Titel echte Chancen auf diesem Markt: "The Guardian, which caters to those who like their news left-leaning and serious in contrast to the Daily Mail's right-wing raciness, has one-third in Britain and another third in America. Their chief competitors are two American publications: the New York Times, which like the Guardian aims at readers of serious news, and the Huffington Post, which since its launch in 2005 has become the biggest site of the four."

Der Börsenvereinsvorsitzende Gottfried Honnefelder hat sich bei seiner Eröffnungsrede zur Leipziger Buchmesse (hier als pdf-Dokument) für Acta ausgesprochen. Sein Argument: "Die Freiheit, die eigene Meinung äußern und den eigenen Gedanken oder das eigene Werk dauerhaft publizieren zu dürfen, und die Freiheit, über die Verbreitung dieser Äußerung nach Umfang und Dauer selbst entscheiden zu können, gehören zusammen. Zum Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gehört das Recht am geistigen Eigentum und das Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich Umfang und Dauer der Verbreitung der eigenen Meinung."

Tagesspiegel, 16.03.2012

Der Äußerung Sigmar Gabriels über die Stadt Hebron, in der für ihn "Apartheid" herrscht, stellt die Anwältin Stefanie Galla ihre Reiseeindrücke entgegen: "Es leben knapp 170.000 Menschen in Hebron, davon je nach Quelle 400-800 Juden in der Altstadt." Galla hat dieses Viertel besucht: "Dort empfand ich es als sehr deprimierend. Die Straßen, welche aus dem Viertel führten, waren versperrt mit Mauern. Die ganze Grenze zum arabischen Teil ist abgesichert mit Mauern und Stacheldraht. An den wenigen Mauern, an denen es Durchgänge zum arabischen Teil der Stadt gab, hingen Schilder mit der Aufschrift: 'Juden ist der Durchgang verboten.' Ghetto ist hier der falsche Begriff. Ein Ghetto schließt aus. Hier aber haben sich Juden eingeschlossen. Dennoch fällt mir kein anderer Begriff ein, der die Situation der Juden dort beschreiben könnte."

Aus den Blogs, 16.03.2012

Kevin Zdiara ist auf Achgut empört über Sigmar Gabriels Vorwurf, dass in Hebron "Apartheid" herrsche: "Warum sollen Juden zum vierten Mal (die anderen Male waren 1929, 1936 und 1948) vollständig aus Hebron verschwinden? Dort befindet sich der zweitheiligste Ort des Judentums und bis 1929 lebten Juden über Jahrhunderte relativ friedlich in dieser Stadt."

Marcel Weiß polemisiert auf Neunetz gegen den Gewerkschafter Michael Hirschler, der mal wieder Google als den Bösen in der aktuellen Urheberrechtsdebatte ausmacht: "Das meiste Geld verdient Google übrigens mit transaktionalen Suchen, also wenn jemand etwas kaufen und sich über das Produkt informieren will. Man ahnt es bereits: In diesen Suchen werden nicht einmal mehrheitlich die rechtlich zulässigen Snippets von wertvollen, urheberrechtlich geschützten Werken von zum Beispiel Presseverlagen angezeigt sondern etwa Produktseiten mit Produktbeschreibungen."

FR/Berliner, 16.03.2012

Ulrich Seidler freut sich sehr über den Buchpreis für Wolfgang Herrndorf, der mit seinem Roman "Sand" den "längsten, reichsten und spannendsten Amnesie-Slapsticks der Literaturgeschichte" vorgelegt habe. Auch Sabine Vogel schreibt über die Preisvergabe.

Nach der Berliner Zeitung druckt heute die FR das Interview mit Regisseur Bela Tarr, das jetzt auch online steht. Sebastian Preuß bespricht die Schau "Pacific Standard Time", die nach Los Angeles nun südkalifornische Kunst im Berliner Gropiusbau zeigt.

NZZ, 16.03.2012

Der deutsche Jazz ist zwar eine Nischenkultur, erlebt aber eine neue Blütephase, klärt uns Stefan Hentz auf. Junge Talente wie der Pianist Florian Weber (Musik hier...) und die Saxofonistin Angelika Niescier (...und hier) haben sich von der "Last ihrer Ausbildung" frei gestrampelt und beleben die Szene: "Und obwohl diese neue Vitalität des Jazz für die Medien schwer zu fassen ist, weil sie aus den Rezeptionsmustern herausfällt, weil sie nicht mit Werbeetats protzen und mit Verkaufszahlen prahlen kann, weil sie Ansprüche stellt, statt solche einfach zu befriedigen, wird sie begeistert aufgenommen."

Jan-Werner Müller warnt vor "falschen Freunden" im transatlantischen Austausch, vor Begriffen also, die in Sprachen ähnlich klingen, aber Unterschiedliches bedeuten. Ein Beispiel sind "Liberale" in Deutschland und "liberals" in den USA: "Limousine liberals" sind nicht Kapitalisten, die wie Mitt Romneys Gattin gleich mehrere Cadillacs besitzen, sondern diejenigen, welche man auf dem alten Kontinent "gutbetuchte Salonlinke" nennen würde.

Weiteres: Samuel Herzog hat die Triennale "The Ungouvernables" im New Museum of Contemporary Art in New York besucht - und begegnete der Homeland Security. Besprochen wird eine Neuausgabe der (mehr als dreitausend Seiten starken) Island-Sagas (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 16.03.2012

Als "richtig und schön" bezeichnet Dirk Knipphals die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Wolfgang Herrndorf, den er für seinen Roman "Sand" erhielt, in seinem Porträt des Autors. In seinem Bericht von der Verleihung fügt er hinzu, dies zeige zudem, "dass der Literaturbetrieb manchmal auch gewillt ist, über seinen eigenen Schatten zu springen. Denn mit seiner Popfähigkeit und Weltzugewandtheit und auch mit seiner Unbürgerlichkeit sieht Wolfgang Herrndorf in manchem nicht so aus, wie man sich hierzulande einen großen Schriftsteller vorstellt. Aber er ist einer, wie vor 'Sand' bereits der Roman 'Tschick' bewiesen hat." In einem weiteren Bericht aus Leipzig liest Knipphals dann in Gesichtern von Autoren.

Tom Mustroph berichtet über eine Unterstützungsaktion von 100 Cellisten für das Teatro Valle in Rom, das seit letztem Juni von Künstlern besetzt ist, die versuchen, eine Stiftung zu dessen Erhalt aufzbauen.

Auf der Medienseite informiert Juliane Schumacher über eine peinliche Schlappe für das Goethe-Institut in Kairo: Nachdem es das kritische Blog Transit, auf dem seit einem Jahr junge Menschen über die Revolution schreiben, abgeschaltet hatte, wurde es nach Zensurvorwürfen und Protesten wieder online gestellt.

Besprochen wird das Album "Lighthouse Madness" der Gruppe The Hidden Sea und hochgelobt Katrin Seddigs Buch "Eheroman". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FAZ, 16.03.2012

Im Medienteil singt ein rundum beglückter Andreas Kilb ein Loblied auf die HBO-Miniserie "Mildred Pierce" von Todd Haynes. Diese ist "doch etwas ganz anderes als Fernsehen, wie wir es kennen. Man müsste, wenn es das Wort gäbe, von Hyperfernsehen reden: Kino für zu Hause. Von Hyperbildern für jene riesigen Flachbildschirme, die allmählich die quadratischen Kästen in den Wohnzimmern ersetzen, und von einer Hypergeschichte, deren Format die Maße eines Fernsehabends sprengt. (...) Ein Frauenporträt, das zugleich das Bild einer Epoche ist, das hat es in diesem Rahmen noch nicht gegeben. Ein amerikanischer Tolstoi, das ist 'Mildred Pierce'."

Constanze Kurz malt sich im Gedankenspiel eine nahe Zukunft aus, in der sich das Leistungsschutzrecht für die Lobbyisten als tiefer Schnitt ins eigene Fleisch entpuppt, nachdem Google sich dazu entschließt, deutsche Zeitungen aus seinem Suchindex zu streichen. "FreeNews sprach sich wie ein digitales Lauffeuer herum: Nach nur einem Monat meldete schon das erste Blog, dass über die Hälfte der Surfer über FreeNews zu einem Artikel gelangt seien. Da hatte das FreeNews-Projekt längst begonnen, deutsche Zeitungsmeldungen automatisiert zusammenzufassen, natürlich Snippet-frei..."

Weitere Artikel: Bei Horst Köhlers Vortrag im Rahmen der 19. Wittenberger Gespräche fühlt sich Ingolf Kern wie beim Versteckspiel im "Floskelwald". Eric Pfeil ist hin und weg von Leslie Feists Konzert in Köln. Dieter Bartetzko denkt über die Gründe dafür nach, warum im Film- und Musikgeschäft plötzlich wieder Stars fortgeschrittenen Alters gefragt sind. Mark Siemons fasst die Diskussion in China und Tibet über die Häufung von Selbstverbrennungen unter tibetanischen Mönchen zusammen. Die Lyrikerin Nora Gomringer gratuliert der Insel-Bücherei zum hundertjährigen Bestehen. Lena Bopp bringt Notizen von der Leipziger Buchmesse, deren bestimmendes Thema sie schon gleich zu Beginn mit Gottfried Honnefelders Grundsatzrede zur Urheberrechtsverteidigung im Netz angesprochen sieht. Als "verheerend" bilanziert Andreas Rossmann die Kulturpolitik von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen.

Besprochen werden die Filmkomödie "Türkisch für Anfänger", Alain Platels Tanzstück "C(h)oeurs" am Teatro Real in Madrid und Bücher, darunter Raoul Schrotts Erzählung "Das schweigende Kind" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 16.03.2012

Beim auch technisch "grandios gemachten" Theaterabend mit der Adaption von Fassbinders Film "Satansbraten" an den Kammerspielen München hatte Christine Dössel "einen Heidenspaß". Mit offenem Mund bestaunte Eva-Elisabeth Fischer den Auftakt der Deutschlandtournee des New York City Ballett und beglückwünscht schon jetzt alldiejenigen, die für die kommenden Vorführungen Karten haben. Fritz Göttler freut sich sehr über die Horror- und Science-Fiction-Filme mit politischer Kante, die die Fantasy Filmfest Nights ab morgen in München zeigen. Tim Neshitov berichtet ausführlich von der linguistischen Tagung "Das Deutsch der Migranten". Jens Bisky übermittelt Notizen von der Leipziger Buchmesse, wo Gottfried Honnefelder vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels ACTA verteidigt und auch ansonsten gute Laune herrscht.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Verhältnis Axel Springers zu den Juden im Jüdischen Museum in Frankfurt, eine Ausstellung mit Kunst aus dem Los Angeles der 50er bis 80er Jahre im Martin-Gropius-Bau in Berlin, eine Ausstellung über den Architekten Hans Kollhoff im ETH Zentrum in Zürich und Bücher, darunter Milena Michiko Flasars Roman "Ich nannte ihn Krawatte" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).