Heute in den Feuilletons

Hochkulturwürden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2013. Die FAZ macht die Museen mit dafür verantwortlich, dass ein bunter Blechpudel jetzt 54 Millionen Dollar erlöst. Die Zeit erklärt, wie geraubte Kunst zum Grundstock der blühenden Galerienlandschaft nach dem Krieg wurde. SZ, FAZ und Perlentaucher sind schockiert von Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Act of Killing". Die NZZ macht einen Ausflug in die Schwulenszene von Jerusalem. Die Welt räumt mit dem Mythos der deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg auf. Seit hundert Jahren sucht Proust nach der verlorenen Zeit. Und wir betten einen 110-minütigen neuen Dokumentarfilm über Jimi Hendrix ein.

Welt, 14.11.2013

Der Historiker Christopher Clark hat in seinem Buch "Die Schlafwandler" die auch in Deutschland populäre Idee einer alleinigen Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg endgültig begraben, meint Cora Stephan und nennt das Buch "politisch brisant", denn Frankreich oder Großbritannien (um von Serbien oder Russland zu schweigen) waren mindestens genauso tief ins Schlamassel verstrickt: "Was die deutsche 'Schuld' betrifft, so teilen sich die Sieger selten die Verantwortung mit den Besiegten. Irgend jemand musste die enormen Kosten der Materialschlachten tragen. Vor allem aber brauchten die ausgebluteten und zerstörten Nationen wenigstens den Hauch einer Rechtfertigung für den millionenfachen Tod junger Männer. Dass ihr Opfer keinem vernünftigen Ziel diente, ja dass es ihnen geradezu absichtslos abverlangt wurde, war und ist schwer auszuhalten."

Im Feuilleton unterhält sich Paul Jandl mit Peter Matic (deutsche Synchronstimme von Ben Kingsley), der den ganzen Proust eingelesen hat: "Man muss die Sätze fassen, die manchmal über eine ganze Seite laufen. Es kann einem beim lauten Lesen von Proust auch manchmal die Luft ausgehen. Oft sind Subjekt und Prädikat meilenweit voneinander entfernt. Das muss man sich markieren."

Außerdem stellt Manuel Brug Stefan Braunfels' Projekt für ein Opernhaus in Zhangzhou vor. Besprochen wird Paul Greengrass' Film "Captain Phillips" mit Tom Hanks als Kapitän eines von somalischen Piraten gekaperten Schiffs und Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Act of Killing" über die Kommunistenverfolgungen mit Zigtausenden Toten in Indonesien vor fünfzig Jahren.

Berliner Zeitung, 14.11.2013

Den Versuch von Ulla Unseld-Berkewicz und Hans Barlach, sich gegenseitig aus dem Suhrkamp Verlag herauszuklagen, hat das Landgericht Frankfurt unterbunden. Beide Parteien hätten in gleichem Maße ihre Treuepflicht verletzt, urteilte Richter Norbert Höhne. Harald Jähner kommentiert die "neue Folge in der Suhrkamp-Soap" mit einigem Sarkasmus: "Die Suhrkamp-Rechtsprechung verläuft in einer Weise, die man hinsichtlich der Konstruktion eines Romans polyperspektivisch nennen würde. Recht wird hier nicht einfach gefunden, sondern ihm wird sich von verschiedenen Perspektiven aus genähert. In der bildenden Kunst würde man auch von Kubismus sprechen. Justitia ist hier mal nicht blind, sie malt nur wie Picasso."

NZZ, 14.11.2013

Auch in Jerusalem gibt es eine Schwulen- und Lesbenszene, berichtet Daniela Segenreich-Horsky, obgleich Homosexualität dort noch lange nicht so akzeptiert wird wie im weltoffenen Tel Aviv. Zitiert wird Nita Klausner, deren Söhne beide schwul sind: "Die Leute hier machen es einem nicht immer leicht. Sie verstehen auch nicht, warum ich jedes Jahr die Regenbogenfahne an mein Fenster hänge und mit meinen Kindern und Enkeln an der Gay-Parade teilnehme - warum in der Heiligen Stadt marschieren mit dieser Unheiligkeit, die wir repräsentieren? Israel hat sehr fortschrittliche Gesetze, und auch die öffentliche Meinung hat sich geändert, aber wir haben noch vieles, das wir verbessern müssen, bis unsere Kinder als gleich angesehen werden."

Außerdem: Andreas Breitenstein besucht die Ausstellung "August 1914" im Deutschen Literaturarchiv Marbach, die anhand von Schriftstücken wie in einem "polyfonen Epochen-Montageroman" ein Stimmungsbild zu Beginn des Ersten Weltkriegs nachzeichnet. Dirk Pilz lässt sich von dem Maler und Bühnenbildner Achim Freyer durch dessen nahezu unbekannte Kunstsammlung in Berlin führen und stößt dort auf Neo Rauch, Joseph Beuys und Sigmar Polke.

Besprochen werden Luc Schaedlers China-Doku "Watermarks", Ritesh Batras Film "The Lunchbox", der von dem Dabbawala-System zur Verteilung von Mittagessen in Mumbai erzählt, und Bücher, darunter DJ Stalingrads Roman "Exodus" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Weitere Medien, 14.11.2013

Für kurze Zeit ist Bob Smeatons 110-minütiger Dokumentarfilm über Jimi Hendrix über PBS (mehr hier) kostenlos im Netz zu sehen.

Stichwörter: Dokumentarfilm, Hendrix, Jimi

TAZ, 14.11.2013

Aus den Koalitionsgesprächen sind Pläne zu vernehmen, den freien WLAN-Zugang auszubauen und die Störerhaftung abzuschaffen. Svenja Bergt genießt diese Ankündigungen allerdings mit Vorsicht: "Während sich eine Unterarbeitsgruppe um vermeintlich minderwichtige Themen wie Open Data oder Netzneutralität kümmern durfte, zog die Arbeitsgruppe Inneres und Justiz gleich die Vorratsdatenspeicherung an sich. Hier ist es wieder, das Verständnis, dass Internetnutzung nicht in erster Linie eine Chance, sondern eine Gefahr ist. Der User, ein möglicher Gesetzesbrecher, dessen digitale Schritte man genauestens überwachen muss. NSA und Co dürften das ganz genauso sehen."

Weiteres: Lisa Schnell informiert über den Kampf gegen Prostitution in der Sextourismus-Hochburg Saarbrücken. Anne Fromm berichtet aus Buxtehude vom dreißigsten Geburtstag der Dreißigerzone.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "The Act of Killing" von Joshua Oppenheimer, Jon Turteltaubs Komödie "Last Vegas", Justus Köhnckes neues Album "Justus Köhncke and the Wonderful Frequency Band" sowie Bücher, darunter "Prostitution - ein deutscher Skandal" von Alice Schwarzer (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 14.11.2013

Perlentaucher, 14.11.2013

Im Kino: Jochen Werner schreibt über Joshua Oppenheimers ungeheuren Dokumentarfilm "The Act of Killing", eine Art Re-Inszenierung der Morde an indonesischen Oppositionellen Mitte der Sechziger: Oppenheimer "überlässt, jedenfalls zum Schein, den Mördern selbst die Kontrolle über das eigene Bild - und lässt sie zu vermeintlichen Kinostars werden. Übermannt von der Aussicht, die eigenen als heroisch verklärten Untaten filmisch verewigt zu sehen, lassen sie jede Maske fallen und stellen vor Oppenheimers Kamera Massenschlachtungen, Torturen und sadistischste Tötungsarten nach, bei denen den Zuschauern von 'The Act of Killing' der Atem stockt." Außerdem: Elena Meilicke bespricht den ägyptischen Debütfilm "Coming Forth by Day" von Hala Lotfy.
Stichwörter: Dokumentarfilm, Oppenheimer

Zeit, 14.11.2013

Der Fall Hildebrand Gurlitt ist sympomatisch für den Umgang mit Raubkunst im Nachkriegsdeutschland, berichten Stefan Koldehoff und Tobias Timm: "Zahlreiche Männer, die vor 1945 hohe Positionen in Galerien, Auktionshäusern oder im privaten Kunsthandel innehatten, konnten nach dem Krieg weitermachen, als wäre nichts geschehen - und das nicht selten sogar mit jenen Kunstwerken, die sie zur Zeit des Holocaust erworben hatten. Niemand fordere die NS-Raubkunst von ihnen zurück, denn sie diente in der jungen Wirtschaftswunderrepublik als Grundstock für den boomenden Kunsthandel - und die Gründung neuer Unternehmen. Und so zog ein altes Unrecht immer neues Unrecht nach sich."

Weiteres: Die Schriftstellerin Nora Bossong denkt in einem Essay über die Krise des Liberalismus nach. Moritz von Uslar trifft die TV-Moderatorin Christine Westermann. Hanno Rauterberg empfiehlt die "wunderbar spekulative" Bonner Ausstellung "1914 - Die Avantgarden in den Kampf" über die Rolle des Ersten Weltkriegs in der modernen Kunst (links die Bronzestatue "Feinde ringsum" von Franz von Stuck, 1916). Abgedruckt ist außerdem der von Hans Zender initiierte offene Brief, in dem 148 Komponisten gegen das Vorhaben des SWR-Intendanten Peter Boudgoust protestieren, das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg zu zerschlagen.

Besprochen werden die Filme "The Act of Killing" von Joshua Oppenheimer ("ein spektakulärer und ungeheuerlicher Film", staunt Thomas Assheuer) und "Captain Phillips" von Paul Greengrass (den Ursula März "tadellos inszeniert" findet), neue Alben von Eminem, Anne-Sophie Mutter und dem Jazz-Quartett Die Glorreichen Sieben sowie Bücher, darunter Brigitte Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Weitere Buchbesprechungen finden sich in einer Sonderbeilage für Kinder- und Jugendbücher, in der außerdem Sarah Schaschek die Lindgren-Biografin Birgit Dankert interviewt und Louise Carleton-Gertsch von den App-Entwicklern deutscher Verlage mehr Kreativität fordert. Im Dossier erinnern sich Weggefährten an Willy Brandt. Justus von Daniels untersucht in der Rubrik Chancen die rechtlichen Risiken für Internetnutzer und stellt fest: "Es liegt ein Hauch von Wildem Westen über dem Recht im Netz." Die Zeit im Osten befasst sich mit der Debatte um den Bauhaus-Direktor Philipp Oswalt. Und auf Zeit Online berichtet Ulrich Stock weiter von der Schachweltmeisterschaft in Moskau.

FAZ, 14.11.2013

Die 58,4 Millionen, für die Jeff Koons' "Balloon Dog" gerade den Besitzer gewechselt hat, lassen Niklas Maak gehörig schlucken. Das Gejammer der Museen, sie könnten nicht mehr mithalten, möchte Maak aber auch nicht hören. Denn gerade die Museen hätten bei diesem Spiel fleißig mitgemacht: "Koons' Ballonpudel war, wie der Auktionskatalog stolz erläutert, nicht nur durch alle für die Aufladung mit Hochkulturwürden relevanten Schleusen der Museumswelt (Metropolitan, Venedig) gezerrt, sondern auch in Versailles ausgestellt worden, wo sich die Welt des Sonnenkönigs in ihm spiegelte."

Andreas Rossmann spricht mit dem Provenienzforscher Willi Korte über die ersten Erkenntnisse über Gurlitts Kunstsammlung: Zu tun habe man es "einmal mit 'Entarteter Kunst' und zum anderen mit Werken, die einen Bezug zu Frankreich haben (...). Das passt zu den beiden großen Projekten der Nationalsozialisten, an denen Hildebrand Gurlitt maßgeblich beteiligt war: als Händler, der Werke der 'Entarteten Kunst' durch den Verkauf ins Ausland 'verwertet' hat, und als Großeinkäufer, der in Frankreich Kunst für das Museum einsammelte, das Hitler in Linz plante."

Weitere Artikel: Olivier Guez sieht Frankreich mit einem sagenhaft unbeliebten François Hollande an der Spitze und zahlreichen schwelenden Konflikten im Innern in einer handfesten "Identitäts- und Zivilisationskrise". Andreas Platthaus erinnert an die beschwerliche Veröffentlichung von Marcel Prousts vor 100 Jahren erschienenen Hauptwerks "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Unter den Fanfaren von Richard Strauss' "Zarathustra" informiert sich Gina Thomas in London über den Teilchenbeschleuniger des CERN. Stefan Schulz berichtet von einer Tagung über Cyber-Kriminalität, auf der Polizei und Staatsanwälte monierten, dass sie noch immer viel zu wenig Möglichkeiten zur Kommunikationsüberwachung hätten. Gerhard R. Koch schreibt den Nachruf auf den Komponisten Sir John Tavener.

Besprochen werden Joseph Gordon-Levitts Regiedebüt "Don Jon" über einen Pornosüchtigen und Bücher, darunter Nick Biltons Darstellung der Geschichte von Twitter (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 14.11.2013

Regelrecht schockiert ist Philipp Stadelmaier von Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Act of Killing" über die Täter des indonesischen Massakers von 1965, bei dem über eine Million Kommunisten ermordet wurden. Die Henker feiert man noch immer als Helden, wie Stadelmaier anhand einer besonders absurden Szene verdeutlicht: "Da sieht man beispielsweise einen [von ihnen] in einer Talkshow. Die Moderatorin fasst seine außergewöhnliche Leistung für das Publikum zusammen - wie er und seine Leute eine 'effektivere Methode, um Kommunisten auszurotten' erfunden hätten. Es klingt, als hätte er Kinder vor dem Ertrinken gerettet. Ob sie nicht Angst vor der Rache der Angehörigen damaliger Opfer hätte, fragt sie dann. Nein, bellt ein anderer. 'Wenn sie kommen, radieren wir sie aus.' Applaus und Gelächter im Studio."

Weitere Artikel: Stefan Ulrich denkt über Aufstieg und Allianzen anti-europäischer Populisten im Zuge der Eurokrise nach und fragt sich: "Ist Europa womöglich eine Schönwetterveranstaltung, die nur dann Zuspruch findet, wenn die Wirtschaft brummt?" Außerdem würdigen SZ-Autoren auf der Literaturseite Marcel Prousts vor 100 Jahren erschienene "Recherche": Gustav Seibt betrachtet das Jahr 1913 im Spiegel von Prousts "Recherche" und notiert: "Es ist die Welt von Clarks 'Schlafwandlern', die in einem Sprachgebrauch aufscheint, dessen Phrasenhaftigkeit vergessen lässt, dass hier mit den Schicksalen ganzer Gesellschaften gespielt wird." 1913 war außerdem das Jahr, in dem Proust seine Haushälterin Céleste fand, schreibt Lothar Müller, und Ina Hartwig bespricht die Neuübersetzung durch Bernd-Jürgen Fischer (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Auf der Medienseite liest Willi Winkler die am Sonntag auch in Deutschland startende Netflix-Serie "House of Cards" als Wiederkunft Brechtscher Erzähltugenden.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Avantgarde im Jahr 1914 in der Bundeskunsthalle in Bonn (die Kia Vahland verdeutlicht, "wie tief sich der große Schrecken in die moderne Kunst einschreibt"), Robbie Williams' neues Album, mit dem er (zu Max Fellmanns "großer Erleichterung") zurück zum Swing findet, die Altherrenkomödie "Last Vegas" mit Robert de Niro, Lot Vekemans am Deutschen Theater Berlin aufgeführtes Stück "Gift" und Christoph Willibald Glucks in Frankfurt aufgeführte Oper "Ezio".