Im Kino

Kommunikativer Verkehrsunfall

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
07.07.2021. "Das Mädchen und die Spinne" von Ramon & Silvan Zürcher erzählt von zwei jungen Frauen, die zusammen gewohnt haben, nimmt dabei die Welt auseinander und setzt sie wieder neu zusammen. In Radu Lupes Montagefeuerwerk "Bad Luck Banging or Loony Porn" muss sich eine Lehrerin für ein Amateur-Pornovideo mit ihrem Mann rechtfertigen. Die Welt, lernen wir, ist ein einziger Sauhaufen.


Das erste Bild ist abstrakt, und dann auch wieder nicht: Der Grundriss einer Wohnung, auf einem Computerbildschirm, zwei Zimmer, Küche, Bad, alle vier annähernd gleich groß. Auf der Tonspur hört man Dinge, die sich einfach mit dem Bild verknüpfen lassen, das Surren eines Druckers, und andere, die entfernter scheinen: der Lärm eines Presslufthammers. (Eine Großaufnahme des betonspaltenden Geräts wird dann das zweite Bild sein.) Beides, die Wohnung selbst und der Plan von ihr, werden in "Das Mädchen und die Spinne", dem neuen Film von Ramon und Silvan Zürcher, noch eine Rolle spielen, die Wohnung selbst als zentraler Handlungsort, der Plan ausgedruckt auf Papier, in welcher Form er, zuerst als Geschenk und dann als Fundstück, durch mehrere Hände wandert, immer weiter ausgemalt wird, von Kinderhand zuerst, konkrete Bilder in die Abstraktion aufnehmend. Zu dem Ding und seinem Abbild, das ein Eigenleben entwickelt, kommt noch eine Anekdote, später, darüber, wie beim ersten Öffnen des PDF Dokuments ein nicht wiederholbarer Fehler passiert ist, der aus der Zeichnung einen chaotischen Zeichenhaufen gemacht hat, der nichts mehr bezeichnet.

Die Wohnung ist die neue Wohnung von Lisa (Liliane Amuat), in die sie aus der WG mit Mara (Henriette Confurius) zieht, und der Plan ist ein Abschiedsgeschenk, das Mara Lisa macht. Der Film erzählt die zwei Tage und eine Nacht des Umzugs, in der alten und in der neuen Wohnung, und wieder in der alten, Packen und Auspacken, Renovieren und eine Abschiedsparty zwischendrin, mit gelegentlichen Abschweifungen nach draußen, und in Erinnerungsräume, mit einem Reigen von Figuren, Handwerkern und Nachbarn, die helfen und stören, die manchmal nichts zur Sache des Umzugs beitragen, und umso mehr zur Sache des Films. So von der Handlung zu sprechen, als ob sie den Kern des Films bilden würde, und den Reichtum drum herum nur als Mittel zum Zweck deren Verständlichmachung diente, wäre zutiefst irreführend. "Das Mädchen und die Spinne" ist ein Film, der die gewöhnlichen Hierarchien, von Handlung und Momenten, von Ereignissen und Gesten, von Charakteren und Dingen, Tieren und Räumen, von Bild und Ton umwirft.



Gelegentlich kommt es vor, dass ein Film die Welt auseinandernimmt und neu zusammensetzt, mit den eigenen Mitteln des Kinos einen Blick ermöglicht, der die Dinge in einem ungesehenen Licht erscheinen lässt, mithilfe einer Sprache, die nicht nur anders klingt, sondern die es auch erlaubt, andere Dinge zu sagen. So ging es 2013 vielen auf der Berlinale 2013, als "Das merkwürdige Kätzchen", der Debütfilm der Zürcher-Zwillinge, im Forum Premiere hatte. "Das merkwürdige Kätzchen" beschrieb einen nicht weiter außergewöhnlichen Tag einer Familie in einer Berliner Altbauwohnung, perspektivierte das Alltägliche dabei in einer Art enthusiastischem Kinokubismus in einer Weise neu, dass man aus dem Staunen kaum heraus kam. (Die Zusammenarbeit der beiden ist wandelbar: Wo bei "Das merkwürdige Kätzchen" Ramon als Regisseur und Silvan als Produzent geführt wurde, ist "Die Spinne und das Mädchen" "ein Film von Ramon und Silvan Zürcher", mit geteilten Regie- und Buchcredits.) "Das Mädchen und die Spinne", der dieses Jahr auf der Berlinale im Encounters-Wettbewerb den Preis für die beste Regie gewann, setzt das unverkennbare ästhetische Programm des Erstlings fort, entwickelt es zugleich weiter und überträgt es von der engen Familienbanden auf ein weiteres Netz von Beziehungen, in denen (andere) Formen des Begehrens treibende Kräfte sind.

Ein Beispiel nur von unzähligen, wie der Film etwas, das eine Handlung sein könnte, auflöst und neu konfiguriert, wie er weniger elliptisch verfährt und um Lücken herum erzählt, als in die Lücken hinein: Am Morgen nach der Party erzählt Mara der Nachbarin Kerstin (Dagna Litzenberger Vinet) eine Geschichte: Wie Lisa einmal auf dem Klo saß, und Mara zurief, dass das Klopapier aus sei. Während Maras Erzählung im Off weiterläuft, wechselt das Bild in eine scheinbar objektive Rückblende, die die gleiche Anekdote betrifft, aber nicht deckungsgleich mit Maras Geschichte ist. Sie habe, erzählt Mara weiter, Klopapier geholt (im Bild sind es Taschentücher), anstatt sie ihr gleich zu geben, sei sie aber mit ausgestreckten Armen, "wie ein Zombie" mehrmals an der Tür vorbeigelaufen. Weil Lisa das Zurückgehen nicht gesehen habe, habe es für sie so gewirkt, als ob Mara zweimal hintereinander aus derselben Richtung am Badezimmer vorbei gelaufen sei, und deswegen habe sie gelacht. Darüber lacht auch Kerstin, das Bild hat dann aber noch eine Pointe, die Maras Erzählung auslässt: Als Mara an der Badezimmertür steht, schlägt Lisa, in einem plötzlichen Stimmungsumschwung, zu denen die Figuren in "Das Mädchen und die Spinne" öfter neigen, die Tür zu, und Maras Finger wird eingequetscht. Es ist, merken wir jetzt erst, die Verletzung, die Mara schon zu Beginn des Films hatte (und eine von mehreren blutenden Wunden, die sie im Laufe der Zeit ansammelt) und die auch der Grund einer Entschuldigung von Lisa ist, die in der Erzählzeit des Films der Verletzung vorher ging, und dort noch rätselhaft blieb. Die Verletzung erzählt der Film, Mara erzählt sie Kerstin nicht.



So wenig wie der Film um etwas kreist, das man einen Plot nennen könnte, so wenig sind die Beziehungen von eindeutigen Verläufen gezeichnet, angefangen mit den nicht-mehr-Mitbewohnerinnen Lisa und Mara, deren Intimität in vielen Tonlagen schwingt, ohne jemals eindeutig zu werden. Auch hier zerlegt der Film, was falsche Eindeutigkeit sein könnte, erzählt in Gesten und Blicken und Berührungen, in Mono- und Dialogen, im plötzlichen Kippen der Stimmung und den Formen, in denen Menschen aufeinander bezogen sind, in Rückblenden und Anekdoten, in Gegenständen, die durch viele Hände gehen und ihre eigene Geschichte haben, in libidinöser Energie, die zirkuliert.

Immer wieder summt jemand 'Voyage, Voyage', oder die Melodie wird auf dem Klavier geklimpert von einer Frau, die das Zimmermädchen genannt wird (und auch als solches gearbeitet hat), die mal in der WG gewohnt hat, aber seit längerem nicht mehr da ist, außer als Gespenst. Und in den Übergängen zwischen den Situationen und Orten erklingt Eugen Dogas Walzer Gramofon, während die Montage ein Dingballett der Tagesreste in Großaufnahme veranstaltet, das Fäden zusammenführt und andere Knoten auflöst. Wie die Dinge zusammenhängen, wie die Leute zusammenhängen: Es ist ein Blick auf Beziehungen, der gegen die Ordnung der Begriffe die Konkretion des Moments stellt, und darin Raum schafft für alles, das nicht ausgemacht ist im einsamen und gemeinsamen Begehren.

Eine Spinne kommt tatsächlich vor, neben allerlei anderen Tieren, als stumme Mitbewohnerin, die mal von einem Arm auf den anderen läuft, zärtlich weitergereicht, in surrealer Selbstverständlichkeit. Das verführerische Netz aus Bezügen und Verbindungen spinnt der Film vor allem selbst, und so fügt sich nicht zuletzt auch der Titel in das Spiel aus materieller Konkretion und Flüssigkeit der Bedeutung, das die unwahrscheinliche Fähigkeit eines Kinos ausmacht, der Welt mit anderen Augen entgegentreten zu können.

Sebastian Markt

Das Mädchen und die Spinne - Schweiz 2021 - Regie: Ramon & Silvan Zürcher - Darsteller: Henriette Confurius, Liliane Amuat, Ursina Lardi, Flurin Giger - Laufzeit: 99 Minuten.

---


Eine ältere Frau mischt sich in der Schlange vor der Apothekenkasse in das Gespräch zweier anderer Kunden, die sich über einen Organspendeskandal empören. Da gerade Corona ist, tragen alle Beteiligten Atemschutzmasken. Wenn die Frau ansetzt, eine Anekdote aus ihrer Jugend zu erzählen, die belegen soll, dass alle Menschen egoistisch handeln und die Erregung über ein paar "schwarze Schafe" deshalb verlogen ist, zieht sie, um ihren Sätzen Nachdruck zu verleihen, ihre Maske unters Kinn. Woraufhin sie von einem der Umstehenden zurechtgewiesen wird. Was wiederum sie selbst auf die Palme bringt.

Eine Zufallsepisode aus dem pandemischen Alltag, komisch gerade in ihrer Pointenlosigkeit: Die Maskierung im öffentlichen Raum führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Kommunikation - das Problem ist allerdings, dass mehr Kommunikation nicht automatisch dazu führt, dass Leute einander besser verstehen. Kommunikation sollte, anders gesagt, keineswegs gleichgesetzt werden mit gelingender Kommunikation. Vielmehr neigt sie, insbesondere unter Unbekannten, dazu, jede Menge Stress und heiße Luft, aber nur sehr wenig gute Stimmung oder gar Erkenntnis zu produzieren.

Das kommunikative Artefakt, das Radu Judes "Bad Luck Banging or Loony Porn" ins Zentrum stellt, führt die destruktiven Aspekte kommunikativer Prozesse mit besonderer Prägnanz vor: Es geht um ein Amateur-Pornovideo, das die Lehrerin Emi (Katia Pascariu) beim Sex mit ihrem Mann zeigt. Dieser von Judes Film keineswegs schamhaft versteckte, sondern gleich zu Beginn in seiner ganzen phallozentrischen Awkwardness präsentierte Clip sorgt an Emis Arbeitsplatz, nachdem er seinen Weg zunächst auf einschläge Streamingplattformen und anschließend auf die Handys einiger Schüler_innen gefunden hat, für Aufregung. Dabei ist weder klar, wer ihn online gestellt hat (Emis Mann? Ein Computertechniker? Sie selbst), noch, was aus der Tatsache, dass im Klassenzimmer Videoaufnahmen zweier erwachsener Menschen beim konsensuellen Geschlechtsverkehr kursieren, nun konkret folgen soll; die Schulleitung hat jedenfalls vorsorglich Emi sowie alle Eltern zum klärenden Gespräch geladen.

Judes Film entfaltet sich in drei Kapiteln: Zunächst sehen wir Emis Passage durch den städtischen Raum, auf dem Weg zur Schule, inklusive Zwischenstopps im Supermarkt und (siehe oben) in der Apotheke. Dann folgt als Zwischenspiel eine nach lexikalischem Prinzip sortierte Sketch-, beziehungsweise Diskursparade, in der diverse fürs kommunikative Gestrüpp der Gegenwart relevante Begriffe - von "Blowjob" bis "Rassismus" - mithilfe polemischer Montagesequenzen oder auch audiovisueller Einzelfundstücke auseinandergenommen werden. Und schließlich landen wir beim angekündigten Elternabend - der aus Infektionsschutzgründen vom Schulinneren auf den Pausenhof verlegt wurde und sich als ein Tribunal entpuppt, bei dem alle tendenziell aneinander vorbei reden.



In seltener Einigkeit feierten Filmkritik und Festivaljury auf der diesjährigen Berlinale "Bad Luck Banging" als einen quintessentiellen Film zur Zeit, als "bitterböse Satire" beziehungsweise "beißenden Kommentar" zur Coronagesellschaft. Es fällt mir doch ein wenig schwer, eine solche Rezeption nachzuvollziehen; tatsächlich wirkt die Begeisterung für Judes Film aus heutiger Perspektive selbst ein wenig wie ein kommunikatives Lockdown-Artefakt. Das gilt vor allem mit Blick auf den im Februar mit besonderer Heftigkeit gefeierten ersten Filmteil. Der Emi mit einer vom rumänischen Kino gewohnten lakonischen Distanziertheit durch ein chaotisches Straßenbild folgenden Kamera gelingen durchaus einige prägnante Beobachtungen - die freilich von einem reichlich aufdringlichen formalen Kniff gleich wieder entwertet werden: Wieder und wieder lässt Jude seine Protagonistin aus dem Bild laufen und schwenkt anschließend ostentativ auf ein "sprechendes" Detail des urbanen Tableaus, auf eine absurde Werbetafel etwa, oder eine heruntergekommene Hochhausfassade.

Letztlich spricht aus diesen Schwenks nicht Neugier auf die Welt, sondern eine vorsortierte Gewissheit, die den städtischen Raum zum unentrinnbaren Schicksal seiner Bewohner werden lässt. Das passt zu einem Film, der sich in seinen schlechteren Momenten anfühlt wie die Bewegtbildversion einer Schülerzeitung - die soeben von einem zweifellos ambitionierten, aber schon auch etwas allzu neunmalklugen Edgelord übernommen wurde. Komplett schlägt diese Tendenz im lexikalischen Mittelteil durch: Judes Montagefeuerwerk mag von fern an oberflächlich ähnliche Passagen bei Godard und vor allem Kluge erinnern, bleibt aber in Pointenförmigkeit und polemischen Verkürzungen gefangen. Wo Godards und Kluges Bilderfolgen expansiv und ergebnisoffen angelegt sind, darauf aus, die Welt mit Komplexität und Ambiguität anzureichern, reduziert sich bei Jude alles, die Gegenwart genauso wie die Vergangenheit, auf einen einzigen Sauhaufen, mit Sexismus, Rassismus und Antisemitismus als einzigen Konstanten.

Die finale Aushandlung wiederum entpuppt sich als der mit Abstand stärkste Teil des Films - weil Jude sich darauf beschränkt, einen kommunikativen Verkehrsunfall zu dokumentieren, detailliert und in angemessen frustrierender Ausführlichkeit: Es ist, als wäre man eine gute halbe Stunde lang in einem besonders verfahrenen Twitterthread gefangen. Brillant ist in dieser Passage insbesondere die Tonspur: In teilweise offen antirealistischer Manier montiert Jude höhnisches Gelächter und obszöne Seitenbemerkungen in die Diskussion - das Äquivalent von Online-Trollkommentaren, die im öffentlichen Raum leider nicht so einfach stummgeschaltet werden können. Am Ende steht die freilich auch wieder nicht bahnbrechende Erkenntnis, dass die unausstehlichsten Stimmen im Allgemeinen den meisten Raum einnehmen und das alles mit allem zu tun hat.

---

Zu den wenig erquicklichen diskursiven Begleiterscheinungen von Corona gehört, dass die Pandemie, je länger sie andauert desto deutlicher, bei nicht wenigen Zeitgenossen als Meinungsverstärker fungiert: Wer schon immer den Kapitalismus für den Ursprung allen Übels gehalten hatte, glaubt das nach eineinhalb Jahren Coronaökonomie erst recht, wer den Ursprung allen Übels immer schon in China verortet hatte, sieht sich ebenfalls bestätigt und wer immer schon von finsteren globalen Eliten schwafelte, gibt jetzt gleich gar keine Ruhe mehr. (Und darauf, dass "die Politik wieder mal versagt" hat, können sich ohnehin alle einigen.)

Insofern ist "Bad Luck Banging" vielleicht doch ein zentraler Film zur Zeit. Denn auch Jude interessiert sich nicht für das Singuläre, Neuartige an Corona, für die beängstigende Entmächtigungserfahrung insbesondere, die die Pandemie für Individuen und Kollektive gleichermaßen bedeutete und bedeutet; sondern lediglich für jene Aspekte des Pandemiealltags, die dabei helfen, eine allen Virusvarianten vorgängige zynische Weltsicht noch etwas unerbittlicher zu konturieren.

Lukas Foerster

Bad Luck Banging or Loony Porn - Rumänien 2021 - OT: Babardeala cu bucluc sau porno balamuc - Regie: Radu Jude - Darsteller: Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia Malai, Nicodim Ungureanu - Laufzeit: 106 Minuten.