Im Kino

Fetzen statt Zentralperspektive

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer, Sebastian Markt
20.11.2019. Richard Linklaters Film "Where'd You Go, Bernadette" hat so viele Launen wie seine Heldin, eine oft ganz unausstehliche Architektin. Die finnische Regisseurin Reetta Huhtanen zeigt "Die Götter von Molenbeek" auf Bauchhöhe.


Bernadette ist schlaflos in Seattle. Bernadette ist oft ganz unausstehlich. Bernadette hat sich ihrem Mann entfremdet. Bernadette wird von ihren Nachbarinnen mit guten Gründen gehasst. Bernadette lebt in einem riesigen Haus, an dem sie den ganzen Tag herumrenoviert. Bernadette sorgt dafür, dass das Haus ihrer Nachbarin Audrey von einer Schlammlawine überschwemmt wird. Bernadette hat trockenen Witz. Bernadette ist agoraphobisch, meidet Menschen und diktiert einer Frau irgendwo in Indien Aufträge, die sie selbst nicht erledigen will oder kann. Bernadette gerät damit in Teufels Küche. Bernadette hat offenkundig psychische Probleme. Bernadette und ihr Mann, der für Microsoft an Spracherkennung durch Gedanken arbeitet, besitzen offenbar unendlich viel Geld. Bernadette erklärt sich bereit, mit ihrem Mann und ihrer Tochter zu deren Schulabschluss in die Antarktis zu reisen. Bernadette ist Architektin und galt einmal als Genie. Bernadette wird von ihrer Tochter geliebt. Bernadette verliert ihre Weisheitszähne und wird am Südpol erlöst.

Cate Blanchett spielt diese Bernadette, die eine komplizierte Person, aber nicht unbedingt eine komplexe Figur in Richard Linklaters Film ist. Beziehungsweise sagt man besser: Das Drehbuch unternimmt Versuche, diese Figur mit etwas schlichten Weisheiten als halbpathologischen Fall einer arretierten Künstlerinbiografie zu erklären. Diese Bändigung kann zum Glück nicht gelingen, jedenfalls nicht so ganz, der Bändigungsenergie stehen ganz andere Energien entgegen, aber so sieht diese Bändigung aus: Zwanzig Jahre ist es her, so wird das nach und nach enthüllt, da entwarf Bernadette das "20 Mile House", das unter Kennern als Ikone der Architekturgeschichte gilt. Nur leider noch nicht fertig gebaut war, als ein Fernseh-Barbar das Grundstück kaufte und wieder abreißen ließ. Das Prinzip des Hauses gleicht dem mancher berühmter zeitgenossischer Regionalküchen. Nur aus Dingen, die im Umkreis von zwanzig Meilen um das Haus aufzutreiben waren, war es erbaut. Anders als in diesen Küchen war das Prinzip allerdings leicht verunreinigt: Was sich im Müll finden ließ, war gleichfalls erlaubt.

Verunreinigung und Unreinheit, Bricolage statt Einheitlichkeit sind, darum ist er so schön, die Bauprinzipien von Richard Linklaters Film. Und waren schon die Bauprinzipien von Maria Semples Roman (sie hat für "Saturday Night Life", "Ellen", "Arrested Development" geschrieben, eine komische Autorin von Graden). Der nämlich ist alles andere als aus einem Guss: Textschnipsel aller Art runden sich nach und nach erst zum Bild. Mails unter Nachbarinnen, die ausführlichen Diktate an die indische Helferin (und deren sehr knappe Antworten), das Zeugnis der Tochter, die wiederum, aber nur zwischendurch, als Ich-Erzählerinstimme fungiert, Rechnungen, dies, das, Text-Bric-à-Brac statt auktorialem Erzählen, schlau und komisch an- und gegeneinander montierte Fetzen statt Zentralperspektive.



Im Film ist das schwer nachzubauen. Dass es sechs Jahre dauerte vom Erwerb der Rechte zum Kinostart von "Bernadette", hat sicher damit zu tun. Der Montagecharakter ist im Film von anderer, etwas weniger auffälliger Art. Die Abweichungen vom erwartbaren Normalgang einer solchen Erzählung sind kleiner, krauser, oft aus heiterem Himmel, man denkt, was ist jetzt wieder los. Schilder, entwurzelt. Bees Elefantenchoreografie mit Blockflötenbegleitung. Oder Seattle-Sightseeing mit Kohlhaas-Bibliothek und Space-Needle-Restaurant. Aber nur so, nebenbei. Die Doku-Schnipsel, die zwar die biografische Vorgeschichte erklären, aber in ihrer wunderbar erratischen Art auch wieder Abweichungen sind. Der Film selbst hat Launen, könnte man sagen, wie seine Heldin. Manche sind entzückend, andere seltsam, einige verblüffend konventionell, manches riecht nach Drehbuchdoktor, bei wieder anderen weiß man nicht recht. Bändigen aber lässt sich nicht nur Bernadette nicht, bändigen lässt sich auch dieser Film nicht. Wer darin nicht Richard Linklaters Handschrift erkennt, der hat diesen Regisseur nicht kapiert.

Manches wird gar nicht erklärt, etwa diese hinreißende Mise-en-Abyme des eigenen Erzählprinzips: Beim Renovieren im riesigen Haus schlitzt Bernadette ein Loch in den Teppich, darunter der grüne Trieb einer Pflanze, die ins Innere des Hauses gedrungen ist. Bernadette tackert den Teppich zur Seite, dem Trieb wird Freiheit verschafft. So verfährt auch der Film. Irgendwas treibt immer aus, drängt hinein, will auch noch mit, und sei es - die aggressive Variante - ein Lawine aus Schlamm, die sich mitten in die Wohnzimmerparty ergießt. Manches wird erklärt, vieles bleibt Rätsel. Aus dem Chaos von Seattle geht es in die reine Luft, ins klare Weiß der Antarktis. Denkt man für einen Moment. Aber Pustekuchen. Bernadette bleibt Bernadette. Und "Bernadette" bleibt "Bernadette". Noch hier geht es hin, geht es her, man sucht und verfehlt sich, schwer ist der Seegang, im Kajak, aus heiterem Himmel, wird eine glückliche Zukunft gebaut. Apotheose der krummen Biografien in der Forschungsstation. Noch eine sehr eigenwillige Frau. Liebe auf den ersten Blick von Freak zu Freak. Dann Happy End. Einfach so? Ja, tatsächlich. Einfach so.

Ekkehard Knörer

Where'd You Go, Bernadette - USA 2019 - Regie: Richard Linklater - Darsteller: Kate Blanchett, Billy Crudup, Emma Nelson, Kristen Wiig, Laurence Fishburne, Zie Chao, Troian Bellisario - Laufzeit: 109 Minuten.

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Molenbeek, das ruft eine Texttafel, die am Anfang des Films steht, nochmal in Erinnerung, ist ein Brüssler Stadtviertel, das seine weltweite Bekanntheit in diesem Jahrzehnt vor allem der Tatsache verdankt, dass dort islamistische Terroristen wohnten, worüber spätestens nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015 breit berichtet wurde. Die Erwartung, dass ein dokumentarischer Blick auf Lebensrealitäten in besagtem Viertel sich in erster Linie an dem Skandalbild abarbeiten, und das Bild einer komplexen Sozialität dagegen setzen würde, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, und die halbwegs banale Einsicht, dass es sich dort unter netten Menschen durchaus leben lässt, bleibt nicht aus. "Die Götter von Molenbeek" versucht aber noch etwas anderes. Die Kamera blickt auf die Welt aus einer markant verschobenen Perspektive, und das auch ganz wörtlich, also bildlich: Sie bewegt sich zumeist in niedriger Position, erwachsene Menschen kommen oft gar nicht mit dem Gesicht in die Kadrage, bleiben jenseits der Bauchhöhe im Off.

Denn die Held*innen des Films sind drei Fünf- bis Sechsjährige: Athos, der Neffe der Regisseurin, der mit finnischer Mutter und chilenischem Vater dreisprachig aufwächst, und dessen anfänglich größte religiöse Hingabe dem Gott Hermes gilt, sein Freund Amine, dessen muslimische Familie aus Marokko kommt, und die forsche, froschküssende Krawallatheistin Flo.



Um Glaubensfragen, darum, wie Kinder - oder eher: diese Kinder - sich die Welt erklären, um die Konsumierbarkeit von Schweinefleisch, um Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Gott und Jesus, darum, ob es Gott gibt, und wenn ja wieviele, geht es in den Gesprächen der Kinder auch. Der Film erzählt das allerdings nicht losgelöst von ihrem In-der-Welt-Sein: Fußballspielen auf betonierten Hinterhöfen, Spinnenjagd in alten Mauerritzen, Pizzaessen und Verkleidungen, Herumtreiben in verwilderten Waldgegenden, ein Herantasten an den Tod, als Mumien verkleidet in der Badewanne. In seinen besten Momenten nähert sich der Film der Ordnung einer Welt und belässt sie in ihrer Andersheit: Die Verbindung zwischen einer Welt, in der Götter nach Bedarf und Laune zurechtgezimmert werden können, und den politischen Bruchlinien der Gegenwart ist mehr als lose, vor allem bedarf sie keiner Übersetzung.

Spätestens mit den Anschlägen vom März 2016, die während der Drehzeit stattfanden, schiebt sich die andere, erwachsene Welt stärker in den Film und in die Augenhöhe der Kinder. Das Militär patrouilliert die U-Bahn, Demonstrationen finden statt, Diskussionen werden geführt, auch mit und zwischen Kindern. Der innigen Freundschaft der Kinder, hinter die erst Athos' Wegzug aus Brüssel ein schmerzhaftes Fragezeichen setzt, kann all das nichts anhaben, zugleich markiert es den Einzug eines anderen Koordinatensystems. So ragen in eine Landschaft aus Poseidonsverkleidungen und Götter-Rankings die Insignien einer Welt, in der Grenzen gezogen sind, die sich nicht im Spiel auflösen. Im Nebeneinander des umstellten Terrains politischer Konflikte und der konträren Logik von Kinderfreundschaften, in der Religionsfragen Unterschiede sind, die keinen Unterschied machen, liegt die Versuchung, die kindliche Welt als Utopie zu setzen - eine Lesart, die der Film stellenweise herausfordert, nicht zuletzt, weil er aus der Differenz immer wieder seine Fallhöhe bezieht. Als utopisches Bild taugt es aber gerade deshalb wenig, weil das Unterholzuniversum der Kinder die Fragen der erwachsenen Welt nicht anders, sondern genau genommen gar nicht beantwortet.

Muss es allerdings auch nicht. Wenn man Athos und Amine dabei beobachten kann, wie sie sich mit Klopapier und Kreppband selbst mumifizieren, um dann in der Badewanne eine spielerische Todeserfahrung zu machen, genügt das als Bild für sich.

Sebastian Markt

Die Götter von Molenbeek - Finnland 2019 - OT: Aatos ja Amine - Regie: Reetta Huhtanen - Laufzeit: 73 Minuten.