9punkt - Die Debattenrundschau

Ängste schüren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.06.2022. Auf dem Gesicht Putins spielt "erneut sein selbstgewisses, höhnisches Lächeln. Wie viele Jahre wird dieses Lächeln noch leben", fragt Viktor Jerofejew in der FAZ. Was die Republikaner nicht auf gesetzgeberischem Wege schafften, schafften sie durch die Besetzung des Supreme Court, notiert die SZ nach zwei radikalen Entscheidungen des Gerichts.  Abtreibungsverbote treffen in einem Land ohne allgemeine Gesundheitsversorgung natürlich in erster Linie arme Frauen, ergänzt Sonia Sodha im Observer. Auch für die britischen Konservativen ist die Debatte um den Brexit in eine neue Phase eingetreten, die der Dolchstoßlegenden, warnt Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.06.2022 finden Sie hier

Europa

Im Krieg gegen die Ukraine haben die Europäer bei weitem nicht die gleichen Interessen wie die Amerikaner, schreibt der Politologe Helmut Däuble in der taz: "Dass Russland zu einem Paria-Staat wird, der in absehbarer Zeit keine fossilen Rohstoffe mehr an den Westen liefern wird, trifft Europa wirtschaftlich und sozial mit einer ganz anderen Wucht als die USA. Diese sind autonom und haben es mit ihren Fracking-Methoden geschafft, vor Saudi-Arabien und Russland zum weltgrößten Erdölproduzenten aufzusteigen." Das Opfer wird, wie fast immer in solchen geostrategischen Erwägungen, en passant fallen gelassen: "Erstes Ziel müsste aus europäischer Sicht ein schnellstmögliches Ende der Kampfhandlungen sein. Damit wäre der Konflikt zwar nur eingefroren, aber von dort aus ließe sich dann - möglicherweise erst in ferner Post-Putin-Zukunft - ein Versuch einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz starten."

In der FAZ ist der Politologe Joachim Schild zuversichtlich, dass die EU hinzulernt: "Nicht nur gegenüber Russland, auch gegenüber China ist die EU dabei, ihre Naivität zu überwinden. Sie hat 2016 und 2017 ihre handelspolitischen Schutzinstrumente gegen Dumping und subventionierte Warenexporte aus China verstärkt."

Viktor Jerofejew hat in der Uni Lüneburg ein Kolloquium mit Studenten und vor allem Studentinnen aus der Ukraine, Russland, Kasachstan und Deutschland bestritten. Manche sind hier gestrandet, andere verzweifelt. Wer als Russe zu Beginn des Krieges floh, dachte, dass es nicht lange dauern könne: "Indessen scheint Putins Armee nach der misslungenen Einnahme Kiews irgendwie wieder aufgelebt zu sein wie ein vorübergehend niedergerungener Drache, und auf dem Gesicht des Präsidenten spielte erneut sein selbstgewisses, höhnisches Lächeln. Wie viele Jahre wird dieses Lächeln noch leben?"

Auch für die britischen Konservativen ist die Debatte um den Brexit in eine neue Phase eingetreten, die der Dolchstoßĺegenden, schreibt Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne: "Ohne sichtbare Vorteile des Brexit sind Verratsnarrative alles, was die Führer der Brexit-Rechten haben, um die Bewegung zusammenzuhalten. Sie müssen ihre Anhänger und vielleicht auch sich selbst davon überzeugen, dass sie ihr Leben nicht für eine sinnlose Sache vergeudet haben. Das innige Bemühen, die Gläubigen bei der Stange zu halten, führt dazu, dass man das Gefühl hat, Privatgespräche zu belauschen, wenn man den Debatten der Konservativen zuhört. Die Rechten sprechen eher mit sich selbst als mit dem Land: Sie zerstreuen die Zweifel ihrer Anhänger, indem sie deren Ängste schüren."

Die mexikanisch-amerikanische Grenze ist ein Kinderspiel verglichen mit der Landgrenze zwischen den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und Marokko. Unter unklaren Umständen sollen dort mindestens 18 Migranten von der marokkanischen Polizei getötet worden sei. Die Brutalität geht maßgeblich von Europa aus, schreibt Christian Jakob  in der taz: "Der von Spanien genutzte Zaundraht ist eigentlich zum Schutz von Munitionslagern und Atomreaktoren gedacht. Die Gewerkschaft von Polizei und Grenzschützern erklärte vor einigen Jahren, die Beamten seien 'den Anblick sterbender Menschen leid', die versuchen, die Grenze zu überqueren. 'Wir sind nicht bereit, noch mehr Subsaharis zu finden, die blutend im Stacheldraht festhängen', schrieb sie. Die Konfrontation mit vermeidbaren Todesfällen setze die Grenzschützer 'unnötigem Stress' aus." Von den Verblutenden ganz zu schweigen.
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Ideen

Ausführlich antwortet Timothy Snyder in der FAS auf Jürgen Habermas' Friedensappell in der SZ, dem er vorwirft, ohne weitere Reflexion die deutsche Mentalität der "neuen Ostpolitik" fortzuführen: "Habermas erwähnt nebenbei den 'Fehler deutscher Regierungen', eine Abhängigkeit von russischem Öl und Gas nicht vermieden zu haben. Das war jedoch eine aktive deutsche Entscheidung, zu der es Alternativen gab. Der Beschluss, die Kernenergie aufzugeben, war unverständlich, die Entscheidung, nach der russischen Invasion in der Ukraine 2014 Nord Stream 2 zu bauen, skandalös. Diese Entscheidungen hatten verheerende Folgen. Politische Entscheidungen haben zur Folge, dass Deutschland selbst heute noch Russlands Vernichtungskrieg finanziert."
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Gesellschaft

Statt die Ernennung Ferda Atamans zur Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes zu kritisieren, wollen die Integrationsbeauftragte Güner Yasemin Balci und der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel "lieber Erwartungen formulieren, Erwartungen aus Berlin-Neukölln", die sie in der Welt am Sonntag darlegen. Eine Antidiskriminierungsbeauftragte müsse verstehen, dass sie es mit komplexen Problemen zu tun habe, auch innerhalb der Communities: "Wir müssen lernen, mit Ambivalenzen umzugehen. Auch Politik und Presse haben da noch viel Nachholbedarf. Illustrieren lässt sich dies etwa am Beispiel des sogenannten 'antimuslimischen Rassismus', vor dem immer wieder gewarnt wird. In dieser rhetorischen Figur werden muslimisch Gläubige kurzerhand zu einer 'Rasse' umdefiniert, und gleichzeitig wird jede Migrantin und jeder Migrant aus dem türkischen oder arabischen Raum pauschal für 'muslimisch' erklärt. Dass dies zumeist von Unterstützern und Akteuren islamischer Verbände gefördert wird, darf nicht verschwiegen werden, sondern darüber muss mit diesen gesprochen werden."
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Politik

Die Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court gegen Abtreibung und für mehr Waffen lesen sich wie ein nachträglicher Coup Donald Trumps, schreibt Hubert Wetzel in der SZ: "In beiden Fällen reichten sechs respektive fünf konservative Richterinnen und Richter, von denen drei ihr Amt Donald Trump verdanken, um dem Land eine harte rechte Politik aufzuzwingen - so hart und rechts, dass die Republikaner es nie geschafft hätten, diese Politik auf dem normalen, gesetzgeberischen Weg durchzusetzen."

"Eine Frau gegen ihren Willen zur Geburt zu zwingen, ist stets unmenschlich und entwürdigend", schreibt die Observer-Kolumnistin Sonia Sodha, "aber es ist besonders erschreckend, dies in einem Land mit solcher Ungleichheit wie den USA zu tun, wo die Hälfte der Frauen, die eine Abtreibung wünschen, unterhalb der Armutsgrenze leben. Die USA sind ein schrecklicher Ort, um eine arme Frau zu sein: Sie sind die Ausnahme unter den Ländern der OECD, da sie keinen Anspruch auf Mutterschaftsgeld haben, keine allgemeine Gesundheitsversorgung bieten, die höchste Müttersterblichkeitsrate aller wohlhabenden Länder aufweisen und kaum Unterstützung bei den Kosten für die Kinderbetreuung leisten."

Die New York Times führt ein Liveblog zum Thema: "Die Aufhebung von Roe v. Wade durch das Oberste Gericht hat auf beiden Seiten einen Sturm von Aktivitäten ausgelöst. Abtreibungsgegner schwören, in jedem Bundesstaat fast vollständige Verbote zu fordern, und Pro-Choice-Gruppen betonen, sie würden die Wut über die Entscheidung nutzen, um auf die Straße zu gehen, vor Gericht zurückzuschlagen und die Regierung Biden zu drängen, mehr für den Schutz der Abtreibungsrechte zu tun."

Warum wollen die Männer die Frauen kontrollieren, fragt die Schriftstellerin Mirna Funk in der SZ nach der deutschen Entscheidung zu Paragraf 219 a und dem amerikanischen Richterspruch: "Wir sind zu stark! Wir sind zu mächtig! Wir sind zu frei! Unsere angeborenen Fähigkeiten verunsichern. Unsere Macht, Leben zu kreieren, lässt Männer im Kern ihrer Existenz erzittern. Nur die ganz Starken unter ihnen können uns für all das schätzen und lieben und begehren und ehren."
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