9punkt - Die Debattenrundschau

Noch jahrelang eine Gefahr

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2022. Hunderte von Zivilisten in Charkiw sind wohl durch den russischen Einsatz eigentlich geächteter Streubomben gestorben, berichtet die BBC. Putins Weizen-Blockade ruft bei Timothy Snyder historische Erinnerungen wach, die er bei Twitter aufarbeitet. Die SZ freut sich über den harmonischen Verlauf einer Debatte von BDS-Befürwortern im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die NZZ staunt, wie woke Islamismus sein kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.06.2022 finden Sie hier

Europa

Hunderte von Zivilisten in Charkiw sind wohl durch den Einsatz eigentlich geächteter Streubomben durch die Russen gestorben, berichtet Joel Gunter für die BBC: "Die i sichtete fünf verschiedene Einschlagstellen in Wohnvierteln in Charkiw und fand Hinweise für einen charakteristischen, symmetrischen Abplatzeffekt, der mit Streumunition in Verbindung gebracht wird. Wir zeigten drei Waffenexperten die Bilder der Einschlagstellen, alle sagten, die Einschläge stünden im Einklang mit den umstrittenen Waffen... Streumunition ist umstritten, weil sie in der Luft detoniert und ein Bündel kleinerer Bomben freisetzt, die wahllos über ein weites Gebiet fallen, wodurch Zivilisten gefährdet werden können. Außerdem detonieren die kleineren Bomben beim Aufprall oft nicht, so dass sie noch jahrelang eine Gefahr darstellen. Mehr als 120 Länder haben einen Vertrag unterzeichnet, der den Einsatz dieser Waffen verbietet - allerdings sind weder Russland noch die Ukraine Unterzeichner."

Während die Ukrainer um ihr Leben kämpfen und jeden Tag um die Waffen dafür betteln müssen, macht Deutschland Putin immer noch die Taschen voll, lernt man aus einem Bericht von Alexandra Endres in Zeit online: "Seit die russische Armee in die Ukraine einmarschiert ist, hat Deutschland seine laufenden Energieimporte aus Russland zwar ein wenig reduziert. Aber trotz aller Mühe, die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle zu verringern, gehört Deutschland immer noch zu den wichtigsten Kunden des Kreml. In den ersten 100 Tagen des Krieges zahlten die hiesigen Importeure 12,1 Milliarden Euro für fossile Brennstoffe aus Russland. Nur China kaufte mehr. Zu dem Ergebnis kommt das unabhängige Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) aus Finnland in einem aktuellen Bericht. Die Zahlen basieren auf Transportstatistiken, die Lieferungen per Schiff und Pipeline erfassen."

Putins Weizen-Blockade ruft bei Timothy Snyder historische Erinnerungen war. In einem Twitter-Thread schreibt er: "Die Idee, dass Kontrolle über ukrainisches Getreide die Welt verändern kann, ist nicht neu. Sowohl Stalin als auch Hitler wollten das. Stalin wollte die Schwarzerde der Ukraine ausbeuten, um eine industrielle Wirtschaft für die UdSSR aufzubauen. Tatsächlich starben durch die Kollektivierung derLandwirtschaft etwa vier Millionen Ukrainer. Als die Menschen in großer Zahl zu sterben begannen, gab Stalin vor allem den Ukrainern selbst die Schuld. Die sowjetische Propaganda bezeichnete diejenigen, die auf die Hungersnot aufmerksam machten, als 'Nazis'. Die wirklichen Nazis hatten ähnliche Ideen. gern wollten sie die ukrainische Landwirtschaft kontrollieren. Dies war sogar Hitlers zentrales Kriegsziel. Hitler wollte das ukrainische Getreide aus der Sowjetunion nach Deutschland umleiten, in der Hoffnung, Millionen von Sowjetbürgern auszuhungern. Der Zweite Weltkrieg wurde um die Ukraine und in erheblichem Maße in der Ukraine zwischen Diktatoren geführt, die die Lebensmittelversorgung kontrollieren wollten."

Die Wahrzeichen werden umdekoriert:
Claudia Bröll geht in der FAZ den großen Sympathien der Länder der Afrikanischen Union für die russische Position nach, trotz der Weizenfrage: "Ob richtig oder nicht, die Argumentation Russlands findet in Afrika viel Widerhall. Westliche Sanktionen werden von Sall und Südafrikas Cyril Ramaphosa in einem Atemzug mit dem Krieg als Ursache für die Versorgungskrise genannt. Russlands Mitteilung, es sei bereit, wieder Getreide nach Afrika zu exportieren, verstärkt den Eindruck."

"Eines der vielen Paradoxe dieses Krieges ist, dass er gleichzeitig emanzipierend und ausgrenzend wirkt. Die Frauen spüren das am meisten", schreibt die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Kateryna Botanova in der NZZ und skizziert kurz einige Frauen, die aus ihrem zivilen Beruf heraus sich mit Beginn des Krieges zum Militär, zur Flüchtlingbetreuung oder medizinischen Hilfe und Versorgung gemeldet haben oder die vor der Entscheidung standen, ob sie mit ihren Kindern fliehen sollten, während andere Angehörige in der Ukraine blieben. "Glücklicherweise haben Frauen heutzutage keine Angst mehr, über ihre Erfahrungen zu sprechen. In den sozialen Netzwerken, in den herkömmlichen Medien, an Konferenzen und auf Podien sind die Stimmen der Frauen zahlreich: ungeschönt und mutig, stark und angriffig. Dank ihnen wissen wir mehr über diesen Krieg als Fakten und Zahlen. Wir wissen von unmöglichen Entscheidungen und Ängsten, von Elend, Verzweiflung, Freude, Selbsthingabe, Opfer, unendlicher Liebe und Fürsorge. Wir wissen, was wir nie wissen wollten. Es gibt mehr Schmerz, als wir uns jemals vorstellen wollten, und keinen Ort mehr, an dem wir uns davor verstecken können."

Sergej Sumlenny, ehemals Leiter der Böll-Stiftung in Kiew, publiziert einen bemerkenswerten Twitter-Thread über die jahrelang betriebene "Stalinisierung" des russischen Buchmarktes. Schon seit über zehn Jahren, so Sumlenny, produzieren Kreml-nahe Verlage Bücher, die die stalinistische Vergangenheit glorifizieren und die Überlegenheit der russischen Armee feiern. Dazu gehört auch eine Reihe von Groschenormanen, die sich unter anderem einen Krieg gegen die Ukraine ausmalen: "Die ganze Serie spielt mit der gleichen Idee: Die ukrainischen 'Nazis' müssen vernichtet werden. Die Covers wirken wie auf Drogen erstellt. Hier zertrümmert ein russischer Panzer ein Auto, das als 'ukrainischer Asow-Nationalisten-Mercedes-SUV' identifiziert werden kann."

Russland und die Ukraine "lassen sich schon lange nicht mehr unter dem Begriff Postsozialismus verbinden", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger in der NZZ. Denn die Ukraine glaubt an die Zukunft, Russland an die Vergangenheit: "Dabei hatten die beiden Länder mit einem Zukunftsvertrag ab 1922 eine klassenlose Zukunft vereinbart, die man in einem sozialistischen Übergangsstaat ausgestaltete. Damals war die Zukunft immerhin noch eine Perspektive. Im Gegensatz hierzu scheint das heutige Russland zukunftslos, da es nur noch zusammengewürfelte Bilder von Vergangenem reproduziert und dies mit einem schnelllebigen Rohstoffkapitalismus kombiniert, der sich allein an Gewinnen in der Gegenwart orientiert. Dieser einseitige Rückbezug auf die Vergangenheit hat im Zuge des Kriegs eine neue radikale Dynamik erfahren."

Bernard-Henri Lévy publiziert auf La Règle du Jeu eine Art Tagebuch, in dem er auch die Äußerungen berühmter Zeitgenossen kommentiert: "Albtraum gestern Nacht. Kissinger und Chomsky Arm in Arm, wie Talleyrand und Fouché in der berühmten, von Chateaubriand erzählten Szene, in der sie Ludwig XVIII. den Hof machen. Wer von beiden ist das Laster? Wer das Verbrechen?"
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Ideen

In Berlin fand am Wochenende die vom Potsdamer Einstein-Forum veranstaltete Konferenz "Hijacking Memory - The Holocaust and the New Right" statt. Es ging um die Frage, warum radikale Israelkritiker wie der BDS in Deutschland oft als antisemitisch angesehen werden. Liest man den Bericht Till Brieglebs, war auf der Konferenz niemand dabei, der den BDS für antisemitisch hielt (jedenfalls erwähnt er niemanden). Also: endlich mal eine ausgewogene, "wohltuend angstfreie" Diskussion, jubelt der SZ-Kritiker, der auch gleich klar machte, wo die BDS-Kritiker stehen: ganz rechts. Die Teilnehmer ließen sich "nicht vom sonst in Deutschland oft spürbaren Klima der Verdächtigungen anstecken. Wer sich nicht schnell genug vom Kontakt im weitesten Sinne mit irgendeiner Art von BDS-Ideen distanziere, so wurde es in Beiträgen und Kommentaren betont, setze sich sofort der Unterstellung antisemitischer Tendenzen aus. Differenzierte Argumentationen und historische Einordnungen, wie sie auf dieser wissenschaftlichen Konferenz aus vielen Perspektiven geliefert wurden, fänden in einer Atmosphäre der Reizworte kaum noch Gehör. Dass dies auch ein strategisches Ziel speziell der rechten Netanjahu-Politik der letzten Jahre war, die mit Geldern des 'Ministry of Strategic Affairs and Public Diplomacy' darauf hingewirkt hat, Anti-BDS-Beschlüsse durch Parlamente in der westlichen Welt sanktionieren zu lassen (unter anderem erfolgreich in 33 Bundesstaaten der USA), wurde in vielen Vorträgen beleuchtet."

Auch Hanno Hauenstein (Berliner Zeitung) zeigt sich höchst zufrieden über die große Harmonie der ersten Konferenz, die nach Kriterien der "Weltoffenheit"-Initiative kuratiert wurde.

Mehr zur BDS-Thematik heute auch in efeu.

Der Historiker Andreas Rödder und die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder, beide CDU, entwerfen in der FAZ ein konservatives Gegenprogramm zur Idee der Gleichstellung, der sie den Begriff der Gleichberechtigung entgegenstellen. Einer "Debatte über Eigentum und Besteuerung" wollen sie aber nicht ausweichen: "Wenn solvente Mittelschichten ihre Kinder auf Privatschulen in England oder Amerika schicken oder ihnen die teuersten Vorbereitungskurse zum Aufnahmetest für das Medizinstudium finanzieren, während die untere Hälfte der Gesellschaft verzweifelt gegen die Inflation kämpft, dann sind die fairen Startchancen von vielen gefährdet. Insofern ist die Idee, allen jungen Erwachsenen ein 'Grunderbe' zur Verfügung zu stellen, das für Investitionen in die eigene Qualifikation verwendet werden kann, ein durchaus bedenkenswerter Gedanke."

Man kann durchaus stinkkonservativ und gleichzeitig woke sein, meint Lorenzo Vidino, Direktor des Extremismus-Programms an der George Washington University, in der NZZ. Wokeism ist nämlich inzwischen auch Mode geworden bei Islamisten, "die religiöse Gebote traditionell über demokratische Werte stellen. Eine junge Generation von im Westen geborenen Aktivisten, die zwischen Muslimbrüdern, College-Campus und progressiven Milieus aufgewachsen ist, macht sich den Wokeism zu eigen, indem sie ihn zur Verbreitung islamistischer Positionen benutzt." Unterstützt würden sie dabei von al-Jazeera+, einem Ableger von Al-Jazeera, der vor allem die TicToc-Generation ansprechen soll. "Die meisten Geschichten von AJ+ haben oberflächlich betrachtet wenig oder gar nichts mit islamistischen Themen zu tun. Sie beschuldigen die westlichen Gesellschaften jedoch auffällig oft, ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten zu unterdrücken und zu diskriminieren. Dass sich der Sender dabei auch für LGBT-Rechte und religiöse Minderheiten einsetzt, ist besonders heuchlerisch, denn Homosexualität wird in Katar - jenem Staat, der AJ+ gehört - mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft."

Außerdem: In der FAZ erinnert der polnische Historiker Maciej Gorny an Kulturkämpfe europäischer Intellektueller zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Und in der FR erinnert Arno Widmann an die Weltumweltkonferenz von Stockholm 1972.
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Politik

Im Interview mit Zeit online lässt die afghanische Frauenrechtsaktivistin Mahbouba Seraj kein gutes Haar an westlichen Aktivisten und afghanischen Männern: "Während der vergangenen zwanzig Jahre der US-Besatzung wurden die Rechte der Frau zu einer Art Businessmodell für westliche NGO und andere Akteure: Man verbündete sich einerseits mit brutalen Männern, die frauenfeindliche Ansichten vertraten, um Krieg zu führen. Andererseits wurde die Befreiung der Frau stets in den Vordergrund gestellt und ausgeschlachtet, um diesen Krieg zu rechtfertigen. Am Ende wurde der afghanischen Frau nicht geholfen. Die meisten von ihnen leben in Armut und sind nun einem noch brutalerem Regime ausgesetzt. ... Misogynie gibt es nicht nur unter den Taliban. Ich bezeichnete zahlreiche Männer, die bereits vor dem Fall Kabuls an der Macht waren, als 'Krawatten tragende Taliban-Mitglieder'."
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