Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2001. Marlene Dietrich würde ihren 100. Geburtstag feiern, dem Ereignis widmen sich die Zeit und die taz. Die FAZ meldet die Rückkehr der Religion in Frankreich - und zwar ausgerechnet bei den Republikanern. Und die SZ freut sich über den Erfolg dicker Bücher.

FAZ, 27.12.2001

Die Wiederkunft der Religion in Frankreich meldet Jürg Altwegg. Mit von der Partie ist der Philosoph und Linksnationalist Regis Debray. Altwegg deutet das so: "Angesichts einer geschwächten Republik, die in Europa und im Euro unterzugehen droht, ist Regis Debray versucht, die Lichter des bekämpften, aber nicht besiegten Feindes wieder anzuzünden."

Anderswo wäre es besser, wenn die Religion verschwindet. Eine Art kollektiven Wahnsinn, der von dem der palästinensischen Selbstmordattentäter nicht mehr weit entfernt ist, stellt Josph Croitoru unter den israelischen Siedlern fest: "Die Tendenz, die Angriffe, denen sie täglich ausgesetzt sind, als Prüfung Gottes zu betrachten, nimmt unter den Siedlern zu. Auf einem Treffen in Gush Etzion, das der Stärkung der Moral und des Glaubens dienen sollte, ging der Rabbiner Yaakov Medan - eine weithin anerkannte Autorität - so weit, die Benutzung der besonders gefährlichen Straßen von Judäa und Samaria geradezu als religiöses Gebot, gar als Märtyrerakt zu bezeichnen."

Weiteres: Harald Wessels, 1979 stellvertretender Chefredakteur des Neuen Deutschland schildert in einem detailreichen Artikel Erich Honeckers Reaktionen auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 - er war dagegen und bekundete es in einem Telefonanruf, den der Autor des Artikels selbst entgegennahm. Martin Kämpchen stellt eine interessante indische Intellektuellenzeitschrift vor: The Little Magazine, die von Antara Dev Sen, der Tochter des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen, herausgegeben wird. In seiner Kolumne "Leben in Venedig" porträtiert Dirk Schümer den Seelsorger Mario Cisotto, der sich um Seeleute in Venedig kümmert.

Ferner beschreibt Zhou Derong, wie Peking die separatistischen und teilweise islamistischen Uiguren im Westen Chinas bekämpft. Matthias Grünzig fragt, ob die geschützten Baudenkmäler in der sachsen-anhaltinischen Stadt Weißenfels noch zu retten seien. Jochen Schmidt stellt die Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan und ihren Choreografen Lin Hwai-min vor. Gina Thomas schreibt zum Tod des Schauspielers Nigel Hawthorne. Christian Deutschmann stellt eine Reihe mit Marlene-Dietrich-Hörspielen in Radio Kultur vor. Ebehard Rathgeb berichtet über eine Kieler Elterninitiative, die Zigarettenreklame aus der Vorwerbung in jugendfreien Filmen verbannen will. Verena Lueken stellt in einem leider allzu kurzen Porträt den amerikanischen Medienmogul Barry Diller vor, der durch die Fusion seiner USA Networks mit Vivendi Universal an Macht gewonnen hat. Und auf der letzten Seite spricht Niklas Maak aus, was aus dem guten alten Lego-Spiel geworden ist: "Die Figur Matau sieht aus, als hätte man ein herkömmliches Lego-Männchen eine Stunde lang über einen Bunsenbrenner gehalten und dann in Götterspeise getaucht, eine zerlaufene böse Plastikfigur mit glühenden Augen."

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Otto Manigk im Staatlichen Museum in Schwerin, Charlotte Links Film "Nirgendwo in Afrika", Bruno Madernas Oper "Hyperion" in Freiburg, der Film "So weit die Füße tragen" und eine Ausstellung aus den Kartenbeständen der British Library.

Zeit, 27.12.2001

Ilse Aichinger schreibt zum 100. Geburtstag Marlene Dietrichs. Ein Auszug: " Einen Augenblick lang konvergiert in Marlene Dietrich die Filmgeschichte mit einer Frauengestalt. Sie bewegt ihr 'Knochenpaket', wie Jean Renoir ihren amerikanisch trainierten Körper einmal nannte, wie ein Pokerspieler die Karten. Ihr Timing ist - wie später in ihrer großen Gesangskarriere - das der Verzögerung, im Dialog klaffen Pausen."

Aufmacher des Feuilletons ist eine Jahresenderzählung von Elke Heidenreich. Anfang: "Herr Berner war ein kleiner, redseliger Mann mit einer etwas zu dick geratenen Nase. Er lebte allein mit seinem Hund Bodo, und das war ein sehr hässlicher Hund, der aber einen guten Charakter hatte. Er war schon alt und konnte nur noch langsam an der Leine hinter Herrn Berner herlaufen, aber Herr Berner war auch nicht mehr der Jüngste und ließ sich mit den Spaziergängen und den Besorgungen Zeit, sodass ihn Bodo ohne Atemnot begleiten konnte."

Jürgen Moltmann erklärt uns, "was den apokalyptischen Terrorismus mit der Neuen Weltordnung verbindet". Das Ergebnis ist nicht überraschend: "Sehen wir genauer hin, dann finden wir hier ein anderes religiöses Muster, nicht das apokalyptische vom 'Ende der Welt', sondern das millennaristische von der 'Vollendung der Weltgeschichte' durch Globalisierung wirtschaftlicher und militärischer Macht." Und in der Zeit ist ja eigentlich immer die Globalisierung schuld.

Weiteres: Thomas Groß schreibt über das neue Album von Prince (der jetzt wieder so heißt). Achatz von Müller begrüßt den Euro als ein "wahrhaft postmodernes Geld". Georg Seeßlen bespricht die deutschen Filme "Nirgendwo in Afrika" und "So weit die Füße tragen". Besprochen wirtd außerdem John Neumeiers Choreografie von Schuberts "Winterreise". Aufmacher des Literaturteils ist Iris Radischs Besprechung von Susanne Riedels Roman "Die Endlichkeit des Lichts". Und Willi Jasper hat Einwände gegen Heinrich Breloers Fersehfilm "Die Manns": "Breloers Fernsehfilm übernimmt die Perspektive von Thomas Mann - und wieder verliert Heinrich den Bruderzwist."

NZZ, 27.12.2001

Paul Jandl berichtet von der Eröffnung des Thomas-Bernhard-Archivs im oberösterreichischen Gmunden. In dem "kongenialen" Archiv erfährt Bernhards "aristokratische Weltverachtung" dreizehn Jahre nach dem Tod des Schriftstellers nun ihre Vollendung, schreibt Jandl begeistert. Die nüchterne Architektur stehe mit Bernhards Werk geradezu in Konkurrenz und erinnere den Forscher, der sich ins Archiv in die Villa Stonborough-Wittgenstein begebe, an Bernnhards "mönchische Arbeitskerker". Für Jandl ist Bernhard "wohnhaft" geworden, auch wenn der Autor dies selbst vielleicht nie gewollt hatte: "Man müsste herausgehen aus allem, die Tür hinter sich nicht zumachen, sondern zuwerfen und weggehen", liest man in Bernhards Roman "Frost" zum Thema Heimkehr.

Weitere Artikel: Alice Vollenweider schreibt einen Nachruf auf die italienisch-schweizerische Schriftstellerin Alice Ceresa, deren Werke sich durch eine "unerbittliche Klarheit" auszeichnen. Franz Haas empfielt den Roman "Königin ohne Schmuck" des italienischen Schriftstellers Maurizio Maggiani. Dem Reiz der Gedichte von Urs Allemann ist Beatrice von Matt erlegen. Samuel Moser bespricht die Neuübersetzung des Gilgamesch-Epos durch Raoul Schrott (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14.00 Uhr)

Die NZZ bietet in der heutigen Ausgabe eine Menge Musikalisches: Martin Horat hat das erste Album der Dungeon Family "Even in Darkness" angehört, und Manfred Papst hat Geoff Dyers Buch über Jazz "But Beautyful" gelesen. Über die Wiederveröffentlichung einiger "Perlen des Reggae" durch das Londoner Label Soul Jazz freut sich Jürgen Teipel. Eric Tapel freut sich über ein "großartiges" Hank-Williams-Tributalbum.

Lilo Weber lobt die bravouröse Aufführung der komisch-mythologischen Oper "Die schöne Galathee" im Theater St. Gallen: Philipp Egli lässt seine Tänzer - wie der Tänzer und Choreograph Jean Börlin in den dreißiger Jahren - Schlittschuh laufen. Als "Musterbogen der Tanzkunst" bezeichnet Christina Thurner den Galaabend des Bejart Ballett und der Ecole Rudra Lausanne. Und Thomas Baltensweiler hat eine "spritzige Neuinszenierung" von Aubers "Fra Diavolo" am Theater der Regionen Biel-Solothurn gesehen.

SZ, 27.12.2001

Die Süddeutsche konnte sich heute morgen nicht entschließen, ihre Seiten zu aktualisieren. Darum eine Zusammenfassung in aller Kürze und ohne Links.

Thomas Steinfeld freut sich über den Erfolg dicker Bücher wie Peter Esterhazys "Harmonia Caelestis", das gerade auf seine vierte Auflage zusteuert. Fritz Göttler und der Filmwissenschaftler Steven Bach erinnern an Marlene (hier und hier). Reinhard J. Brembeck berichtet, wie Venedig den 200. Todestag des Komponisten Domenico Cimarosa feiert. Rainer Erlinger denkt über Gerichtsurteile nach, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Kind ein Schaden sein kann. Cordelia Edvardson kritisiert die Demütigung Arafats durch Ariel Scharon. Und Willi Winkler ist auf der Suche nach dem Mittelpunkt Europas in Kremnica Bane angekommen.

Besprochen werden die Ausstellung "La peinture comme crime" im Louvre, Caroline Links Film "Nirgendwo in Afrika" (daneben gibt es ein kleines Interview mit der Regisseurin), die Uraufführung von "Mensch sein macht müde (mehrstimmig)" in Zürich, eine Ausstellung über Elektrizität um 1900 im Museum Industriekultur Osnabrück, Thomas Oberenders "Selbstporträts. 48 Details" am Schauspielhaus Bochum, drei Mal Ballet Russe im Pariser Palais Garnier, "Wie es euch gefällt" in Dresden und Bücher, darunter Walter K. Langs Studie über Sadismus in der neapolitanischen Malerei (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 27.12.2001

Sasha Verna berichtet, wie Afghanistan zum Broadway kam, wo im Augenblick ebenso erfolgreich wie kontrovers Tony Kushners ("Angels in America") 1998 entstandenes Stück "Homebody/Kabul" gespielt werde. "Das vierstündige Bühnenwerk spielt zu einem großen Teil in Afghanistan und verleiht dem zur nichtssagenden Formel gewordenen Clash of Civilisations wieder so etwas wie einen Inhalt." Eine befreundete Schauspielerin habe Kushner schon 1998 darum gebeten, einen Monolog für sie zu schreiben, und weil Kushner sich schon lange mit Gedanken an Afghanistan herumgeschlagen habe, sei daraus ein Monolog über Afghanistan geworden. "Wie Kushner in einem Interview mit der New York Times erklärte, interessierte ihn die blutige Geschichte Afghanistans: dass ein Land durch die Interessen westlicher Gutmenschen (also Amerikas) und östlicher Weltverbesserer (der Sowjetunion, dann der Nordallianz und schließlich der Taliban) zu Grunde gerichtet wird."

Joseph Garncarz rekapituiert zum 100. Geburtstag von Marlene Dietrich die Entstehung der Dietrich-Legende: "Gewiss, Josef von Sternbergs Anteil an der späteren Erfolgsgeschichte ist beträchtlich. Verschleiert werden sollte jedoch offenbar, dass der Regisseur auf ein Image zurückgriff, dass Marlene Dietrich noch vor dem Blauen Engel selbst in Anlehnung an Greta Garbo geschaffen hatte. Die Legende vom Meisterregisseur und seinem Geschöpf hingegen bestätigte Ideologien, die das zeitgenössische Publikum international teilte. Ovid kreierte das mythische Modell einer Paarbeziehung, indem er den Bildhauer Pygmalion erfand, der eine Statue schuf, die sein eigenes Ideal einer Frau repräsentierte. Über diese Urerzählung patriarchaler Wünsche hinaus bestätigt die Legende den "amerikanischen Traum": die unbekannte, junge Deutsche, die von einem (in Österreich geborenen) angesehenen Amerikaner entdeckt und ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gebracht wird, um dort kometenhaft zum Star aufzusteigen.

Noch ein Geburtstagskind: Petra Kohse gratuliert dem Brecht Schauspieler und Defa-Star Erwin Geschonneck zum 95. Geburtstag.

Besprochen wird außerdem Christof Loys "Rosenkavalier"-Inszenierung in Brüssel.

TAZ, 27.12.2001

Gottseidank wird Marlene hundert. Sonst wären die Feuilletons heute eine Weihnachtswüste.

"Heute sagt man cool, damals in Berlin war man schnodderig, was nicht das Gleiche ist", schreibt also Frieda Grafe und zieht Rückschlüsse von Marlene Dietrichs One-Woman-Shows der Spätzeit auf das Geheimnis ihrer Wirkung auf Zelluloid: "Was sie von der Kinoszene auf ihre Shows übertrug, war der Anspruch, den sie bei Sternberg kennen gelernt hatte. Die Schleier und Netze und Luftschlangen, mit denen er die Zweidimensionalität der Leinwand markierte, sollten den Zuschauer wissen machen, dass er das Eigentliche, weil unabbildbar, nie zu sehen bekommt. So verstand Sternberg die Abstraktion des Kinos." Thomas Girst schreibt (und wir lesen es augenreibend), dass ihm im Frühjahr, nach einem Besuch der Ruinen von Shiraz im Iran, New York, wo er lebt "wie ein Sündenpfuhl" vorkam. "Nachdem ich über Wochen höchstens der Knöchel verhüllter Frauen gewahr wurde, ist mir nun fast zuviel, was sich im Hochfrühling auf den Straßen und den riesigen Werbeflächen Manhattans drängelt."

Besprochen werde Caroline Links Verfilmung von Stefanie Zweigs autobiografischem Roman "Nirgendwo in Afrika" und Imogen Kimmels Film "Secret Society". 

Schließlich Tom.