Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2002. In der SZ beklagt Martin Walser den Tod Siegfried Unselds, in der FAZ schreibt Louis Begley noch einen Nachruf. In der taz erinnert sich Peter-Jürgen Boock an die RAF. Die NZZ denkt über Sexualität im Iran und im Westen nach. Die FR fragt: Kann Kino töten? Und die FAZ findet im neuen russischen Pressegesetz die alten Gummiparagrafen.

SZ, 02.11.2002

Eine große Wunde hat der Tod Siegfried Unselds bei Martin Walser hinterlassen, und sie scheint immer noch frisch zu sein. Heute ist das Begräbnis, und Walser stimmt ein wehmütiges Klagelied an. "Das ist also der Mangel, der jetzt herrscht: du hast keinen mehr, der mit dir zusammen noch einmal und noch einmal einen weiteren Frühling veranstaltet. Ein Verleger und ein Autor - das ist nichts anderes als ein Gespann, das ein weiteres Mal mit frühlingshafter Unbedachtheit in eine Szene sprengt, die zuerst einmal von Frühling nichts wissen will. Und dann tritt eben Siegfried Unseld auf und gibt Laut - rein jahreszeitlich findet?s im Herbst statt, ist aber in Wirklichkeit der reine Frühling."

Apokalyptisch liest sich der Warnruf von Heinz Bude, der uns schon im Dämmerschlaf der Restauration versinken sieht. "Deutschland ist ein Land ohne Versprechen. Es herrscht eine Atmosphäre der Rückkehr und des Rückzugs. Vom frischen Wind ist keine Rede mehr. Diejenigen, die im Zeichen der Globalisierung die Fenster geöffnet hatten, werden nun zurückgepfiffen. Die Propheten des Neuen werden mit Häme bedacht und in die Wüste geschickt. Nicht Regisseure, sondern Wasserträger sind gefragt. Wer sich jung und dynamisch fühlt, sollte vorsichtig sein: Man schätzt jetzt wieder Anpassungsfähigkeit und Vorhersehbarkeit und misstraut allen, die mit Ideen, Ansprüchen und Visionen daherkommen."

Weitere Artikel: Miriam Neubert sieht in Russland die Zeit des Anti-Terrorkriegs gekommen: strengere Pressegesetze, patriotische Parolen, erschossene Terroristen in Großaufnahme. In der Reihe Deutschland extrem schreibt diesmal Oliver Maria Schmitt über den reichsten Golfclub der Republik in Düsseldorf-Hubbelrath, wo die "Autos schöner, die Frauen älter und die Männer goldbehängter sind als anderswo." Ira Mazzoni berichtet von der Tagung der Industriedenkmalpfleger, die den nationalen Hang zum Totalabbruch beklagen. Claus Koch hat sich wieder einmal Gedanken und Notizen gemacht, etwa zu Bürgerwehren, Überalterung oder dem Friedensnobelpreisträger. Kurz gemeldet wird, dass die Theater in Frankfurt und Berlin schweren Zeiten entgegen gehen. Und passend zu Allerseelen lesen wir heute gleich drei Nachrufe, alle drei verfasst von Fritz Göttler: er verabschiedet einen der härtesten Typen von Hollywood, den Filmregisseur Andre de Toth (hier mehr), würdigt den verstorbenen italienischen Schauspieler Raf Vallone (mehr) und schreibt zum Tod des spanischen Regisseurs Juan Antonio Bardem.

Besprochen werden das Konzert der Popband Saint Etienne in Berlin, Gregor Jordans filmische Militärsatire "Buffalo Soldiers", Martin Kusejs Inszenierung von Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" am Wiener Burgtheater und eine Ausstellung mit Amerikabildern von Garry Winogrand im Center of Photography in New York, und Bücher, darunter Bruce Chatwins und Peter Levis neuaufgelegte Reise durch Afghanistan oder Yasar Kemals zornige Erzählung "Der Granatapfelbaum". Dazu gibt es noch ein Gedicht von Ulrich Johannes Beil.

Auf der dritten Seite nimmt sich Herrmann Unterstöger des Wildschützes Georg Jennerwein an, der am 6. November 1877 unter ungeklärten Umständen gewaltsam zu Tode kam.

Die Medienseite steht ganz im Zeichen der Zeitschriftenmogule: Hubert Burda plaudert über Medienkrise und Axel Springer, in einem weiteren Artikel erfahren wir dann etwas von der Welt des Zeitschriftenkönigs und TV-Investors Heinz Bauer.

Allerseelen? Da müssen wir durch, meint Robin Detje in der SZ am Wochenende und zählt drei Todesarten auf: "Der Kopfschuss an der Tankstelle im Großraum Washington. Das Gas im Musicaltheater in Moskau. Der Atemstillstand im Krankenhausbett auf der Krebsstation." Herbert Riehl-Heyse klärt uns über den letzten Stand in Sachen Ruhm und Vergänglichkeit auf. Marc Hujer stellt uns den Pleitier Neil Bush (Details zu diversen Skandalen hier) vor, der - nicht so erfolgreich wie Bruder George - heute Software für Legastheniker an Schulen verkauft. Gregor Hens lässt uns seine Kurzgeschichte lesen, von Tante Olgas Buttermund mit Rosinengeschmack aus dem Land hinter Sibirien. Sven Nordquist (mehr hier), Schwedens erfolgreichster Kinderbuchautor, Schöpfer von Pettersson und Findus, redet über mangelnde Langeweile und fehlende Einsamkeit.

FR, 02.11.2002

Kann Kino töten, fragt Thorsten Lorenz polemisch verknappt. Sind die Medien verantwortlich für Schulmassaker und Serienmorde? Eines scheint klar zu sein, die Frage ist uralt: "PISA und Erfurt, Bildungsarmut und Gewaltreichtum: Auch dieser Kurzschluss wurde damals konstruiert. Die Pädagogische Zeitung besucht im Jahre 1907 die Schulen und stellt mit Erschrecken fest: Kinder können in aberwitzigem Tempo unzählige Filmtitel aufzählen und aufschreiben. Schreiben die kleinen Kinobesucher dagegen freie Aufsätze, die Königsdisziplin des creative writing im pädagogischen Alltag des Deutschunterrichts, so sind diese ?dürftig im Inhalt?."

Navid Kermani (mehr hier) erklärt im 16 .Teil seiner Erzählungsreihe "Vierzig Leben", warum Anke und Antun nicht streiten."Ihre Welt langweile ihn, genauso wie sie ihn selbst inzwischen langweile, weil sie durch rein gar nichts mehr überrasche, alles an ihr voraussehbar sei und starr, ihre Essensvorlieben, die Routine ihres Tages und Jahres, die immer gleich schlechte Laune nach dem Aufstehen, der Urlaub auf Kreta, die unaufgebbare Wohnung und der unveränderliche Sex noch dazu."

Weitere Artikel: In Palermo hat sich Norbert Hummelt auf die Suche nach Spuren Friedrichs II. begeben, zunächst aber nur die Jugend der Stadt auf ihren Vespas angetroffen. "Schon hält einer neben mir und spricht Worte, die ich nicht verstehe. Will er wissen, was ich da in meinem Rucksack habe? Come? Non capisco!" Der Gitarrist von U2 (hier mehr) spricht über Gutmenschen und die gegenwärtige Politik der USA. Renee Zucker beneidet die katholische Kirche um die unantastbare Richtlinienkompetenz des Papstes. Michael Kohler fand auf dem Jahreskongress des Wissenschaftszentrums NRW nur die Abschlussrede von Jan Philipp Reemtsma lohnenswert. Gemeldet wird, dass die israelische Festung Massada zum Weltkulturerbe erklärt wird. Auf der Hintergrund-Seite nähert sich Daniel Kothenschulte dem Kino-Exilanten Roman Polanski (mehr hier) und seinem neuen Film "Der Pianist".

Besprochen werden Horvaths von Martin Kusej am Wiener Burgtheater inszeniertes Stück "Glaube Liebe Hoffnung", Ola Mafaalanis Inszenierung von "Othello" am Kölner Schauspiel, die große Max Beckmann-Retrospektive im Centre Pompidou in Paris, eine Kafka-Ausstellung auf amerikanisch im Jewish Museum New York, und Bücher, darunter Martin Z. Schröders brisanter Erstling "Allgemeine Geschäftsbedingungen" und Trine Søndergaards Fotoporträts aus der Prostituiertenszene (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

Im Magazin warnt uns der gerade 80 Jahre alt gewordenen amerikanische Autor Kurt Vonnegut (mehr hier) in leidenschaftlicher Manier vor dem Unterhaltungszwang in der Politik. "Unsere Nation ist ein einziger Mitesser. Wir erholen uns seit mehr als einem Jahr von dem, was wir im Fernsehen gesehen haben. Sogar die Menschen in San Diego erholen sich. Wovon? Ich vermute, die meisten erholen sich vom Entertainment." In die derzeitige Regierung hat er kein großes Vertrauen: "Diese Leute sind komplett verrückt geworden.

Außerdem: Sonja Niemann weiss, wer die harten Fakten in Sachen Sex herausfindet, etwa dass Rothaarige öfter fremd gehen als Brünette oder Blonde: das Gewis-Institut in Hamburg. Antje Potthoff schreibt einen letzten Brief an eine Selbstmörderin. Klaus Betz schildert die ungewohnten Schwierigkeiten der Tourismus-Branche, sich auf die neuen Rahmenbedingungen im Reisegeschäft nach dem 11. September einzustellen. Und Thorsten Schüller rät: Fahren sie bloß nicht zum Bergsteigen nach Nepal!

NZZ, 02.11.2002

Angesichts der zunehmenden Prostitution ist man im Iran dazu übergegangen, sogenannte "Anstandshäuser" einzurichten. Das sind Bordelle, in denen die Frauen unter staatlicher Aufsicht ihrem Erwerb nachgehen, berichtet Christina Erck. Legitimiert wird die Prostitution durch die vom Imam abgesegnete "Ehe auf Zeit". Selbst Präsident Hashemi Rafsanjani befürwortete die Anstandshäuser 1990 in einer Predigt, weil man nur so Abtreibungen und Aids unter Kontrolle bringen könne. Im Iran löste das eine heftige Diskussion aus: "Pro und Contra hielten sich ziemlich die Waage. Ein Leser verteidigte die Zeitehe mit dem Argument: 'Selbst wenn wir annehmen, dass sie eine Art von Korruption ist, ist sie mit all ihren Regeln viel restriktiver und vernünftiger als Prostitution.' Die damals führende Frauenzeitschrift 'Zan-e Ruz' (Moderne Frau) dagegen zog vehement gegen solche Ideen ins Feld. 'Wenn ein Mann und eine Frau für ein paar Monate zusammenleben möchten, was unterscheidet uns da noch vom Westen?'"

Vielleicht dies: In der Beilage Literatur und Kunst fragt sich Hannelore Schlaffer, ob es nach der sexuellen Revolution im Westen überhaupt noch so etwas wie eine "verbindende erotische Kultur" gibt. "Die Eindeutigkeit befreit große Bereiche des Alltags und des kulturellen Lebens vom Schummer des Begehrens. Sexskandale, wie in den fünfziger Jahren, kann es im auf- und abgeklärten Westeuropa nicht mehr geben. Skandale drehen sich nun um Geldgeschäfte, nicht um Liebeshändel. Der Literatur allerdings sind Schwierigkeiten aus der Entdramatisierung der Liebe erwachsen, die zwei Jahrtausende ihr bevorzugtes Thema gewesen war. Die Trennung in Trivialroman und hohe Literatur etwa ist eine der Sujets mit oder ohne Liebe. Die Verlegenheit der Stoffwahl, in die anspruchsvolle Autoren heutzutage geraten, hat ihren Grund nicht zuletzt darin, dass der Roman das Raunen von der Liebe war und ihr Geheimnis nun aufgedeckt ist."

Weitere Artikel: Im Feuilleton stellt Paul Jandl das jüdische Internetarchiv Centropa vor, das der Journalist und Photograph Edward Serotta in Wien aufgebaut hat. Das Archiv unterscheidet sich von anderen - etwa Spielbergs Shoah Foundation - dadurch, dass es dokumentiert, "wie die Juden gelebt haben" und nicht nur, wie sie gestorben sind. "Quer durch Europa führen die hier gesammelten Spuren. Es sind Erzählungen einer historischen Tiefe, die weit ins 19. Jahrhundert hineinführt und von dort wieder zurück in den jüdischen Alltag der Gegenwart. Selbst Kochrezepte, Reiserouten und neue Literatur präsentiert Centropa auf seiner Site." Besprochen werden die große Max-Beckmann-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou und Horvaths "Glaube Liebe Hoffnung" am Wiener Burgtheater.

Weitere Artikel in Literatur und Kunst beschäftigen sich hauptsächlich mit Kunst: Gabriele Killert porträtiert den 1977 verstorbenen Dichter und Holzschneider Günter Bruno Fuchs. Adolf Max Vogt macht sich Gedanken über die "Unbeirrbarkeit der Zürcher Konkreten" Richard Paul Lohse und Max Bill, die unterschiedliche Lehren aus dem Werk Piet Mondrians zogen. Christoph Bignens untersucht Serialität bei Richard Paul Lohse und Andy Warhol. Gabriele Hoffmann fragt, wie aktuell die konstruktive Kunst im 21. Jahrhundert noch ist. Peter Bichsel untersucht in einem Essay, wie weit Gottfried Kellers "Martin Salander" dem Leben des Autors nachgezeichnet ist. Besprochen wird die Ausstellung "Von ZERO bis 2002" im Museum für Neue Kunst Karlsruhe.

TAZ, 02.11.2002

Ex RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock (kurze Biografie), kürzlich aus der Haft entlassen, spricht in einem Interview im tazmag über Opferzahlen, die Lügen der Generationen und die 118 Schüsse auf den Begleiter von Hans-Martin Schleyer. "Bei einer Heckler & Koch kann man ein Magazin in weniger als einer Sekunde leer machen. Nach unserem Plan hätte es die Schießerei gar nicht geben sollen. Wir waren überrascht, dass sie zurückschossen. Wir hatten danach kein Triumphgefühl, sondern waren froh, noch da zu sein."

Im Feuilleton stellt Christian Semler zwei Bücher vor, die sich mit der Linken beschäftigen: Christopher Hitchens "Why Orwell Matters" und Martin Amis' "Koba the Dread", das sich mit der Frage beschäftigt, warum die Linken eigentlich noch glauben, mit ihrer Vergangenheit kokettieren zu dürfen. Semler hat (mit Hitchen) einiges gegen Amis einzuwenden, hat aber auch neues erfahren: "So birgt die Präsentation des Briefwechsels zwischen Vladimir Nabokov und dem englischen 'fellow-traveller' Edmund Wilson ein erschreckend gut gelungenes Lehrstück. Die Linke, so lernen wir, kann und will nicht verstehen, dass auch ein Vertreter der im Zarenreich herrschenden Klasse zu genauen Einsichten in den Mechanismus der sowjetischen Machtausübung in der Lage ist."

Weitere Artikel: Kolja Mensing kommentiert die Pläne der Regierung, die Eigenheimzulage nur noch Familien mit mindestens sechs Kindern zugute kommen zu lassen. Besprochen werden Fred Schepisis Arbeiterfilm "Letzte Runde" mit Michael Caine (hier mehr), ein Theaterstück mit sechs Geschichten von unschuldig zum Tode Verurteilten, das derzeit in Manhattans Bleecker Theater triumphiert und eine Internet-Ausstellung des New Yorker Whitney-Museums mit neuer Netz- und Softwarekunst.

Auf der Medienseite stellt Markus Münch "Das Magazin" vor, einst DDR-Kultblatt, heute Deutschlands älteste Publikumszeitschrift.

Im Magazin: Angesichts der Renaissance der Bibel zumindest in der amerikanischen Politik präsentiert Manuel Gogos einen Rückblick auf die christliche Rhetorik. Nina Mayrhofer erinnert an Jacques Tati (kurze Biografie), Erfinder des Monsieur Hulot und Regisseur von "Playtime", einer Parodie auf die moderne Architektur, die zum Kinoschlager des Jahres in Frankreich wurde. Jan Feddersen würdigt das schwedische Musikphänomen Abba (kleine Abbalogie). Vor zwanzig Jahren haben Annafrid, Benny, Björn und Agnetha die Gitarren weggelegt. Katharina Schuler berichtet von der seltenen Spezies der weiblichen Bauarbeiter.

Schließlich Tom.

FAZ, 02.11.2002

Im Aufmacher erinnert Louis Begley noch einmal an seinen Freund und Verleger Siegfried Unseld, der heute in Frankfurt beerdigt wird: "In diesem überschäumenden, optimistischen, nicht zu bremsenden und unermüdlichen Giganten, der einen weltweit konkurrenzlosen Verlag führte, verbarg sich ein Rebell, nicht bereit, sich zu beugen, und entschlossen, das Richtige zu tun und alles abzulehnen, was ihm moralisch oder ästhetisch unpassend oder falsch erschien. Insgeheim war er eine Art Anarchist, genau wie ich."

Auf der Medien-Seite kommentiert Elfie Siegl das neue Pressegesetz in Russland, das künftig Kritik an den Einsätzen russischer Sicherheitskräfte verbietet - oder vielmehr: "Propaganda und Begründungen für den Widerstand": "Zu Sowjetzeiten bediente man sich juristischer Gummiparagraphen wie antisowjetische Agitation und Propaganda, um Andersdenkende mundtot zu machen und hinter Gitter zu bringen. Im Russland von heute könnten, sollte Putin die Gesetzesänderung unterzeichnen, womöglich wieder Gummiparagraphen hoffähig werden, um Meinungen zu unterbinden, die den offiziellen Lesarten entgegenstehen." Auf der anderen Seite aber, schreibt Siegl, lanciere der Inlandsgeheimdienst FSB auf allen Kanälen die Fernsehbilder exekutierter Geiselnehmer, "allesamt grausame Zeugnisse brutaler Verhöhnung der Würde von Menschen", wie Siegl findet, "so zynisch, dass der britische Fernsehsender BBC es ablehnte, sie zu zeigen".

Gerhard Stadelmaier will bei "Glaube, Liebe, Tod" in der Wiener Burg erkannt haben, was Horvath von Martin Kusej unterscheidet: "Der Dramatiker ein Anti-Spießer, feiert schlank das Leben im Tod. Der Regisseur, ein Spießer in der Maske des Anti-Spießers, jammert fett über den Tod."

Weitere Artikel: Einmal mehr staunt Dietmar Polaczek über die Zufälle in der italienischen Justiz. Dort wurde gerade der sizilianische Richter Corrado Carnevale vom Kassationsgericht vom Vorwurf freigesprochen, eine mafiöse Vereinigung unterstützt zu haben. Carnevale hatte in seiner Laufbahn an die 500 Verurteilungen "gefährlicher Mafiosi" wegen Formfehler aufgehoben (und den Antimafia-Richter Falcone als Kretin bezeichnet). Andreas Rossmann fragt sich, ob Heinrich Böll wirklich schon die Krücken des Kalenderdenkens und den Segen eines Kanzlers braucht. Dass gleich zwei Stuttgarter Verlage die Berliner Zeitung kaufen wollen, nimmt "S.K." zum Anlass, sich dem legendär-berüchtigten Maultäschle-Netzwerk in der Hauptstadt zu widmen.

Gina Thomas bemerkt, dass die vier Nominierungen für den Turner-Preis diesmal bei der britischen Kritik eher auf Langeweile als auf Empörung gestoßen sind. Die Buchmacher allerdings tippen auf Keith Tyson und seine "pesudo-naturwissenschaftliche Fantasie in Form einer mit Computer gefüllten Säule, die den Titel "Der Denker" trägt, wie Thomas notiert. Der Historiker Jürgen Zimmer beschreibt in einem ganzseitigen Text den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, "den erste von Deutschen begangene Völkermord", wobei er auch den Vernichtungsbefehl des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha zitiert, wonach die Herero "nur der Gewalt weichen" und deshalb müsse diese "mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit" ausgeübt werden, um die "aufständischen Stämme mit Strömen von Blut" zu vernichten.

Auf der "Schallplatten und Phono"-Seite werden Arvo Pärts neue Einspielung "Orient & Occident" und Richard Ashcrofts zweites Soloalbum "Human Condition" vorgestellt. Außerdem erinnert Michael Gassmann an Eugen Jochum, der gestern hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden eine Chemnitzer Ausstellung über Picasso und die Frauen, eine Schau im Musee Savoisien von Chambery mit sensationellen Fotografien vom Montblanc, Luca Francesconis in Brüssel uraufgeführte Oper "Ballata", Chris Kraus' Film "Scherbentanz" und Bücher: etwa Reiner Stachs verzettelte, aber unentbehrliche Kafka-Biografie oder Haruki Murakamis neuer Roman "Sputnik Sweetheart" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).