Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.05.2003. Die FAZ beobachtet eine nostalgische Verklärung des Franquismus in der spanischen Kultur. Die FR hört den Chor der Linken über Kuba weinen. Die NZZ berichtet aus Marokko über Repressalien gegen Filmemacher und Rockmusiker. Die SZ beklagt eine Schrumpfung der (Reise-)Welt in Zeiten des Terrors.

FAZ, 20.05.2003

Dass der Franquismus so spurlos aus dem politischen Leben Spaniens verschwunden ist, hat für Paul Ingendaay den einfachen Grund, dass "er in den nostalgischen Sehnsüchten vieler Menschen weiterlebt: still, ungehindert und ungefährlich". Dies beweist ihm auch der Erfolg des Buches "Los mitos de la guerra civil" (mehr hier) des Ex-Marxisten Pio Moa, der sich seit Wochen auf Platz Eins der Bestsellerlisten hält: "Der Ton des Buches bewegt sich zwischen rechthaberisch und schrill. Franco aber, so der Autor, sei ganz anders gewesen, als immer gesagt werde: nicht unfähig, nicht mittelmäßig und nicht grausam. Im Gegenteil. Sein Erfolg als Heerführer sei 'außerordentlich' zu nennen, seine militärischen Strategien 'glänzend konzipiert und flexibel'. Was Grausamkeiten angehe, schreibt der Renegat, beruhe vieles auf linker Greuelpropaganda, und wo es wirklich grausam wurde wie in Guernica oder bei der Bombardierung Barcelonas, treffe die Schuld eher Francos Verbündete (Deutsche und Italiener) als den Diktator selbst. Im Grunde schneide Franco im Vergleich mit Churchill, Roosevelt und Truman hervorragend ab, ganz zu schweigen von Hitler oder Stalin."

Nach dem Bombenanschlag von Casablanca gibt Joseph Hanimann eine kleinen Einblick, was Marokko alles noch bevorstehen könnte: "Algerien hat die Selbstzerfleischung schon hinter sich und ist mit Trauerarbeit in Literatur und Kino dabei, so etwas wie ein positives Nationalgefühl über die noch immer tiefen Gräben zwischen Armee, Bürokratie, reumütigen Islamisten und ziviler Gesellschaft aufzubauen. Marokko, das unter der königlichen Glaubensführerschaft des Alawitengeschlechts den islamischen Eifer zumindest vordergründig mit dem nationalen Eifer zu zähmen vermochte, könnte die Entzweiung noch vor sich haben."

Weitere Artikel: Die BBC hat die hundert beliebtesten Bücher Britanniens wählen lassen und für Felicitas von Lovenberg spricht die Auswahl Bände: Die ersten Plätze werden von Charles Dickens, Terry Pratchett und natürlich J.K. Rowling besetzt: "41 davon wurden in den letzten dreißig Jahren geschrieben, 66 sind britisch, dreißig sind Kinderbücher, und ganze siebzig wurden verfilmt." (Der Link zur Liste findet sich hier, leider funktionierte er heute morgen nicht.) Michael Althen hat in Cannes Francois Ozons "Swimming Pool" gesehen und verspricht ein wahrhaft aufregendes Erlebnis mit Charlotte Rampling und Ludivine Sagnier.

Braunschweig scheint von keiner architektonischen Mode verschont geblieben, wie wir von Bettina Erche erfahren, jetzt kündigt sich eine weitere Grausamkeit an: Die Fassade des 1960 abgerissenen Welfenschlosses soll wieder aufgebaut werden, um ein riesiges Einkaufszentrum zu zieren. Gerhard Rohde hat auf den Wittener Musiktagen für neue Kammrmusik nach verborgenen Strukturen gesucht. Christian Geyer widmet sich dem Philosophen Ludwig Siep (mehr hier), der sich zum Chef der zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung hat ernennen lassen, aber gleichzeit erklären kann, dass er den Rechtsschutz von Embryonen für baren Unsinn hält. Erna Lacker führt durch das neue Literaturhaus in Graz, das Peter Handke eine Hommage widmet.

Auf der Medienseite findet Jordan Mejias lobende Worte für die anfangs umstrittene CBS-Produktion "Hitler: The Rise of Evil": "Wenn der neue Fernseh-'Hitler' auch wahrlich nicht als Großwerk televisionärer Kunst anzusehen ist, umreißt er doch ernsthaft, wohlinformiert und - ganz ohne Show geht eben die Chose nicht - durchaus in reißerischen Bildern die Vorgeschichte eines Scheusals, vor dem er auch unterschwellig nicht zu Kreuze kriecht."

Besprochen werden die Uraufführung von Wolfgang Mitterers Oper "Massacre" bei den Wiener Festwochen, Haruki Murakamis "Untergrundkrieg" und Schillers "Räuber" im Staatschauspiel Dresden, Schnitzlers "Weites Land" in Bonn, Bill Violas neues Video-Epos im Oberhausener Gasometer, und Bücher, darunter Guido Bachmanns Roman "Sommerweide" sowie Raoul Schrotts Erzählungen und Essays "Khamsin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 20.05.2003

Karin Ceballos Betancur berichtet aus aktuellem Anlass über den Streit, den die Verurteilung zahlreicher Dissidenten in Kuba nach sich zieht: Nach dem Schlagabtausch zwischen Vargas Llosa und Marquez hat sich jetzt auch der Schriftsteller Jose Saramago in der spanischen Tageszeitung El Pais zu Wort gemeldet: "Kuba hat keine heroische Schlacht gewonnen, indem es diese drei Männer erschossen hat, aber es hat mein Vertrauen verloren, meine Hoffnungen verletzt, meine Illusionen betrogen", zitiert Betancur und spottet: "Es weint der Chor der Linken, der sich um seine karibische Projektionsfläche betrogen fühlt, um seine Utopie der Insel, die stellvertretend siegen und unbefleckt bestehen muss, nachdem die eigenen Projekte gescheitert sind."

Aus Cannes kann Daniel Kothenschulte berichten, dass "das Übermaß an obskuren französischen Filmen", das in den ersten Tagen "für eine nachhaltige Verstimmung gesorgt" habe, nun wiederum durch französische Filme "in Ordnung" gebracht worden sei: namentlich durch einen "Favorit für gute Laune", Francois Ozons "Swimming Pool". Sebastian Moll stellt das neue Museum der Dia Art Foundation in Beacon bei New York vor. Martina Meister kommentiert in Times mager die Einrichtung der "Berliner Rede", diesmal gehalten von Johannes Rau ("Die Berliner Rede ist der alljährliche Beleg dafür: Das gesprochene Wort gilt nicht mehr. Es mag Gültigkeit haben. Zur Geltung kommt es erst, wenn es weitergeleitet, zerpflückt und bewertet wird.")

Besprochen werden eine Inszenierung des "Freischütz" an der Leipziger Oper und Simon Werles Roman "Der Schnee der Jahre" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 20.05.2003

Beat Stauffer berichtet von zwei Fällen, die zeigen, wie präsent die Islamisten auch in der marokkanischen Kultur sind. So wurde der neue Film von Nabil Ayouch "Une minute de soleil en moins" verboten, weil er acht Szenen mit erotischem Inhalt zeigt. "Die acht Szenen, welche die Zensoren als inakzeptabel befanden, zeigten ... alle Bilder von nackten männlichen Körpern. Die 'Männlichkeit des Mannes', so folgert Ayouch, dürfe unter keinen Umständen in Frage gestellt werden; Homosexualität sei immer noch ein absolutes Tabu. Gleichzeitig tue sich aber ein unglaublich tiefer Graben auf zwischen den angeblich 'islamischen' Verhaltensnormen und der gelebten Realität." Der zweite Fall betraf eine Gruppe junger Rockmusiker, die wegen angeblicher "Pflege eines obskuren Satanskultes" vor Gericht kamen. In Marokko, so Stauffer, sehen viele das Hauptmotiv für diesen Prozess "in einer Art 'Gleichgewicht der Repression': Weil die Regierung die Islamisten hart anfasse, müsse sie ab und zu auch gegenüber westlich orientierten und weltoffenen Kreisen durchgreifen."

Peter Wien vom Zentrum Moderner Orient in Berlin sucht in der Geschichte des Iraks "mögliche Ansatzpunkte für die Entwicklung einer freien und pluralistischen Gesellschaftsordnung (zu) entdecken. Das Ergebnis einer solchen Nachforschung bleibt jedoch ernüchternd, da Politik im Irak nie anders als autoritär funktionierte." Wien fordert deshalb "öffentliche Foren" und eine "Wahrheitskommission" nach südafrikanischem Beispiel, um das Einüben der Demokratie zu lernen.

Weitere Artikel: Christoph Funke resümiert das Theatertreffen in Berlin: bei acht Aufführungen hat er sich gelangweilt, zwei "Originalbeiträge" aus dem 21. Jahrhundert fand er großartig, nämlich Fritz Katers "Zeit zu lieben Zeit zu sterben" (Armin Petras, Thalia Hamburg) und Christoph Marthalers "Groundings" (Schauspielhaus Zürich): "Plötzlich ist die sich so überlegen gebende Gleichgültigkeit wie weggeblasen." Abgedruckt ist die kurze Erzählung "Der untere Mieter" von Esther Dischereit (mehr hier und hier).

Besprochen werden Schuberts h-Moll-Sinfonie mit Frans Brüggen und dem Orchester des XVIII. Jahrhunderts in der Tonhalle Zürich, die Aufführung von Wolfgang Mitterers "Massacre" bei den Wiener Festwochen und Bücher, nämlich Xaver Bayers Roman "Die Alaskastrasse" und Burkhard Spinnens Unternehmensgeschichte "Der schwarze Grat" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.05.2003

Sebastian Moll besuchte das neue Museum der Dia Art Foundation in einer früheren Druckerei in Beacon, vor den Toren New Yorks. Die Stiftung habe "in renaissancehaftem Ausmaß die Minimal- und Konzeptarbeiten von Künstlern wie Joseph Beuys, Andy Warhol, Donald Judd, Gerhard Richter und Sol LeWitt gefördert und ermöglicht", ein Auswahl ist nun auf 23.000 Quadratmetern zu sehen "So ist das Dia:Beacon eine radikale Neuformulierung dessen, was ein Raum für Kunst sein soll und kann. Es ist eine barsche Absage an das Museum als prunkvolle Hülle Gewinn bringender Wanderausstellungen, am eindeutigsten verkörpert durch die Weltkunstkette Guggenheim. Die Ausstellung in Beacon ist permanent, die frühere Druckerei eine Landschaft, die es zu durchwandern und zu entdecken gilt wie einen großen modernen Roman. Es gibt keine Chronologie und keine Hierarchie der Räume, kein Thema und keine Lektion über Kunstgeschichte, die der Betrachter zu lernen hat (...)."

Weitere Artikel: In der Cannes-Kolumne von Christina Nord geht es heute um die Beiträge von Lars von Trier ("Dogville") und Gus Van Sant ("Elephant"), und Gerrit Bartels kommentiert noch einmal die Heidenreich-Sendung "Lesen" und die Folgen ("Umso schneller, umso platter, umso besser"). Auf der Medienseite würdigt Steffen Grimberg Alexander Kluges Development Company for Television Programm (DCTP), die "es nun auch schon fünfzehn Jahre gibt". Auf den Tagesthemen-Seiten gratuliert der Politologe Franz Walter mit einem Essay der SPD zum 140. Geburtstag.

Besprochen werden ein Berliner Konzert der angeblichen "Superstars" (Daniel Kühlböck et al.) und Bücher, darunter Andre Kubiczeks Berlinroman-Parodie "Die Guten und die Bösen", eine Sammlung von Texten des "Lesebühnenstars" Ahne und ein Band, der sich ausschließlich mit Hubschraubern beschäftigt. Auf der Seite Politisches Buch zwei Verrisse: gegeißelt werden eine "demokratiegefährdende" und "ökofundamentalistische" Studie von Thilo Bode und eine Publikation des Grünen-Politikers Oswald Metzger (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

SZ, 20.05.2003

Die aktuelle Ausgabe der SZ war kurz vor neun Uhr noch nicht im Netz. Darum eine Zusammenfassung ohne Links.

Ulrich Raulff denkt in einem Artikel über die Schrumpfung der (Reise-)Welt in Zeiten des Terrors nach, was viele verunsichert zu Ferien auf Norderney verdammte. Aber vielleicht würden wir "nach dem Sommer in Norderney wieder auf Reisen gehen - wenn wir begriffen haben, dass die Welt nie ein sicherer Platz war und auch nicht mehr sein wird. Sie sah ja nur ein halbes Jahrhundert für die Europäer so aus, die nicht zufällig das Pech hatten, in Belfast zu leben oder es sich in Palermo mit der Familie zu verderben."

Weitere Artikel: Tobias Kniebe zieht Zwischenbilanz: Cannes werde zur "Kampfzone", "Old Europe vs. America, eine neue Runde ist eröffnet". Dafür sorgte, so Kniebe, vor allem Lars von Trier mit seinem Film "Dogville". Christine Landfried diskutiert die Vorschläge der Dohnanyi-Kommission für eine Reform der Hamburger Hochschulen (ein weiterer Kommentar dazu auf der Hochschulseite). Alexander Kissler erzählt die Geschichte eines Steuerberaters, der "rechtskräftig verurteilt wurde, weil er die geldwerten Vorteile eines Kirchenaustritts verschwieg", und Fritz Göttler amüsiert sich über eine Enthüllung der Zeitschrift L'Express, wonach es Picasso nicht gelang, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben ("In Folge ist es angebracht, ihn als Anarchisten zu betrachten").

Bastienne Müller berichtet von einer Tagung des Bundesverbands Deutscher Stiftungen in Berlin. In einem Interview gibt Michael Caine Aukunft über seine Rolle in der Graham-Greene-Verfilmung "The Quiet American". In der Reihe "Nachrichten aus der Poesie" stellt Joachim Sartorius den Lyriker Andreas Altmann vor. Ein Nachruf gilt dem Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges.

Des weiteren viele Besprechungen heute, so von Rameaus Tanzoper "Les Indes galantes" in am Opernhaus Zürich, die Uraufführung von Andreas Lauderts Stück "Immer" am Landestheater Tübingen und eine Inszenierung von Richard Strauss' "Feuersnot" im Münchner Prinzregententheater. Vorgestellt werden die Bremer Design-Ausstellung "Organische Formen" in der Wilhelm-Wagenfeld-Stiftung und zwei Schauen, die sich mit "Biokunst" beschäftigen: "L'Art Biotech" in Nantes und das Osnabrücker "European Media Art Festival" (Emaf) zeigten "aktuelle Werke der wachsenden Szene von Biokünstlern sowie Projekte, die sich kritisch mit den Errungenschaften der Biowissenschaften auseinandersetzen."

Weiter werden Bücher besprochen, darunter Patrick Modianos Roman "Die Kleine Bijou", ein Textband des Kritikers Michael Braun über Lyrik und Essays zur ästhetischen Theorie von Dieter Henrichs (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)