Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2003. In der taz porträtiert Gabriele Goettle den Verblüffungskünstler Ludwig Gantner. In der SZ warnt der Politologe Amitai Etzioni vor dem letzten Hurra des untergehenden Imperiums. Die FR hat einen optimal entspannten Alexander Kluge seinen Büchner-Preis entgegennehmen sehen. In der NZZ erklärt Sandeep Bhagwati, warum indische Konzerte keine Vorstellungen, sondern paradoxe Taten sind. In der FAZ erinnert Arne Melchior an die Rettung der dänischen Juden vor sechig Jahren. Im Spiegel denkt Ulla Berkewicz "neue Reihen".

TAZ, 27.10.2003

Gabriele Goettle hat sich nach Wien begeben, um den Verblüffungskünstler Ludwig Gantner zu treffen. Lesenswerte 910 Zeilen sind dabei herausgekommen, die ein Porträt nicht nur von Gantner und der Zauberei zeichnen, sondern ganz beiläufig auch von Wien. "Die Fenster und Glastüren des Raumes führen nach hinten hinaus, auf eine unbenutzt wirkende Terasse, von der aus man in der Ferne das grüne Kuppeldach der Wagnerkirche in der Irrenanstalt Steinhof sehen kann. Wir nehmen in gut gearbeiteten Ledersesseln Platz. Nichts erinnert hier an Magie und Hokuspokus, kein Zauberstab liegt herum, kein weißes Kaninchen kommt vorbei, wir fangen an, uns Sorgen zu machen, und fragen vorsichtshalber nach den historischen Ursprüngen der Zauberei. Herr Gantner blickt auf seine sicherlich sehr geschmeidigen Hände und erzählt ..." Und hört zum Glück nicht mehr auf.

Der Streit, ob der Holocaust-Nutznießer Degussa nun für den Graffitischutz der Stelen des Mahnmals (taz-Chronik) in Berlin sorgen darf, ist der taz einen kleinen brennpunkt wert. Lea Rosh (Kurzporträt), die Vorsitzende des Denkmal-Förderkreises, will mit Degussa keine Geschäfte machen, wie sie im Gespräch mit Heide Oestreich bekräftigt. "Man kann hier nichts wieder gutmachen." Phillipp Gessler fasst zusammen, was bisher passiert ist.

Auf der Medienseite fragt Susanne Lang die Schauspielerin Katja Flint für die taz ungewohnt betulich nach lesbischen Filmküssen und privater Liebe. Christoph Schultheis amüsiert sich über die Animositäten zwischen Springer und RTL. Und Jürgen Bischoff informiert uns, dass in der Kanzlei, die Kirch-Käufer Haim Saban berät, ein ehemaliges Mitglied der "Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK)" arbeitet.

Schließlich Tom.

Weitere Medien, 27.10.2003

Im Spiegel-Gespräch und damit auch nicht online äußert sich die Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz "einen Tag nach Ablauf des Trauerjahrs" für ihren Mann Siegfried Unseld über ihre Pläne für den Suhrkamp-Verlag. Sie möchte "neue Reihen denken", die Suhrkamp Taschenbücher auffrischen und skizziert ihren Führungsstil: "Der berühmte Sinnspruch des Insel-Verlags lautet 'Navigare necesse est', das heißt für mich: Der Kurs muss immer wieder neu bestimmt werden." Im übrigen stellt sie sich unerschrocken drängenden Fragen wie: "'Auch Peter Suhrkamp war seine verlegerische Lebensaufgabe nicht an der Wiege gesungen worden', hat Siegfried Unseld gemeint. Macht Ihnen das auch Mut?"

FAZ, 27.10.2003

Arne Melchior, Gründer der dänischen Zentrumsdemokraten, erinnert an eine der wenigen herzerwärmenden Episoden aus der finstersten Zeit: die Rettung der dänischen Juden vor sechzig Jahren - er gehörte selbst zu den Geretteten. Und er erinnert daran, dass ein Deutscher maßgeblichen Anteil an dieser Rettung hatte, Georg Ferdinand Duckwitz, der an der deutschen Botschaft in Dänemark arbeitete und den Juden eine Warnung über bevorstehende Razzien zukommen ließ, die ihre Rettung ermöglichte: "Duckwitz stand auch fortan mit dänischen Politikern und Widerstandskämpfern in Kontakt. Bei einem ihrer ersten Treffen nach dem 5. Mai 1945 beschloss die Befreiungsregierung, Duckwitz die dänische Staatsbürgerschaft anzubieten. Er lehnte ab, weil er es als seine Pflicht empfand, heimzukehren und beim Wiederaufbau seines Landes in demokratischem und humanistischem Geist zu dienen. Von 1955 bis 1958 wurde er deutscher Botschafter in Dänemark."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel berichtet von der Jahrestagung und den Preisverleihungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Andreas Platthaus kommentiert den Umstand, dass sich Halle auf den Posten der Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2010 bewirbt. Paul Ingendaay schreibt über die Verleihung der Prinz-von-Asturien-Preise in Spanien - Susan Sontag war mal wieder Preisträgerin, anders als bei ihrer Frankfurter Friedenspreisrede zeigten sich in Spanien aber auch ein paar Politiker. Dietmar Dath war dabei, als Madeleine Albright eine Berliner Lektion erteilte. Christian Schwägerl sah den Ethikrat die Weltreligionen über den Status von Zweizellern befragen.

Auf der letzten Seite resümiert Alexandra Kemmerer eine Tagung von Verfassungsrechtlern in Cambridge. Edo Reents meldet, dass Elton John einen pharaonischen Vertrag für eine Bühnenshow in Las Vegas bekommen hat. Auf der Medienseite unterhält sich ein namenloser Jounalist (wir nehmen an, es handelt sich um Michael Hanfeld) mit Springer-Vorstand Mathias Döpfner, der das von Holtzbrinck vorgeschlagene Modell für Zeitungsfusionen erwartungsgemäß ablehnt. Und Jürg Altwegg berichtet über die Verlagskonzentration in Frankreich, wo Hachette einen Marktanteil hat wie hierzulande Bertelsmann und Holtzbrinck zusammen. Werner d'Inka berichtet überdies, dass die New York Times womöglich einen Pulitzer-Preis für ihren längst verstorbenen Journalisten Walter Duranty zurückgeben wird, weil Duranty zu Beginn der dreißiger Jahr Stalins Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung beschönigte.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Kulturgeschichte der Haut in Wolfenbüttel , Thomas Langhoffs Inszenierung von Hofmannthals "Unbestechlichen" ("Langhoff, der alte Fragezeichenmacher haut jetzt, deprimierend und völlig unverständlich rückfällig geworden, auf einmal lauter Ausrufezeichen: hinter jede Szene!", klagt Gerhard Stadelmaier), eine Ausstellung mit Zeichnungen Wilhelms II. im Kunstmuseum Wilhelmshaven, eine "Zauberflöte" in Essen, das Puppentheaterspektakel "Helden des 20. Jahrhunderts" mit Stalin, Brecht und vielen anderen als Stabpuppen, ersonnen von Tom Kühnel und Suse Wächter in Basel, und ein Musikwerk für Spielautomaten, Stimmen und Instrumente des ehrwürdigen Musikanarchisten Dieter Schnebel, "eine gut halbstündigen Komposition, die in Auftrag gegeben worden war vom 'Bundesverband Automatenunternehmer' zur Feier von deren fünfzigstem Jubiläum, wie Eleonore Büning berichtet". Endlich mal ein kunstsinniger Bundesverband!

Eine ganze Seite widmet sich zuguterletzt neuen Sachbüchern.

FR, 27.10.2003

Ob Ina Hartwig bei der Verleihung des Büchnerpreises ebenso "optimal entspannt" war wie Alexander Kluge (mehr)? Spätestens mit einem Klaus Theweleit (mehr) "at his best" wurde die Veranstaltung in Darmstadt jedenfalls zum Genuss, wie Hartwig berichtet. Dass Theweleit seine Dankrede als erster hielt, "war insofern schade, als damit die Veranstaltung ein bisschen zu früh ihren Höhepunkt erlebte. Dieser Afficionado der Diskurstheorie hat sich (anders als seine Kommilitonen aus dem Freiburger Kreis, Kittler et al.) nicht für die Universitätslaufbahn entschieden und daran offenbar gut getan. Ach, wie er sich freuen konnte. Und ach, wie er zum Pult hüpfte, ein beschwingter Fremdkörper."

In Times mager widmet sich Christian Schlüter Autobiografischem, von Schill über Bohlen bis Walser. Gemeldet wird, dass Jürgen Habermas auf der Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises vor dem Scheitern der europäischen Verfassung gewarnt hat.

Auf der Medienseite schildert Christina Heinen, wie es beim Ballungsraumsender rheinmaintv kurz vor Sendestart zugeht.

Besprechungen widmen sich drei Neuinszenierungen von "Les Troyens", dem musiktheatralischen Hauptwerk von Hector Berlioz, in Amsterdam, Paris und einem sich wacker schlagenden Mannheim, der deutschen Erstaufführung des australischen Stücks "Lantana" unter Regie von Stephan Kimmig im Hamburger Thalia Theater, und Büchern, nämlich zwei neune Bänden zur RAF sowie Peter Glotz' misslungenem böhmischen Paradebeispiel "Die Vertreibung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 27.10.2003

Der indische Komponist Sandeep Bhagwati analysiert, wie sich die klassische Musik Nordindiens gegenüber dem "kulturellen Kannibalismus" des Westens behaupten konnte. In Indien war westliche Musik seit jeher "mit der Kolonialherrschaft und mit dezidierten Absichten der 'Kulturbringer' verbunden: keineswegs ein philosophisch interessantes Phantom, sondern gefährlicher Lärm". Die grundlegenden Unterscheide erklärt Bhagwati folgendermaßen: "Traditionelle indische Konzerte sind keine 'Vorstellungen', sondern paradoxe Taten. Sie sind rationale Dekonstruktionen eines bestimmten emotional-geistigen Raumes, eines Raag. Hier wird nichts 'demonstriert' oder 'simuliert' (zwei wesentliche Begriffe für westliche Musik), sondern in einer intellektuell akribischen Suche wird der Klang auf seine vernunftlosen, vorsinnlichen Wurzeln zurückgeführt." Einblicke in die zeitgenössische Kultur Indiens gibt aktuell das Berliner Haus der Kulturen der Welt in seinem Programm "body.city".

Angela Schader berichtet von der Herbsttagung der Deutschen Akademie, die sich mit der Frage beschäftigte, was "denn überhaupt 'arabische' Dichtung" sei, und zu dem Schluss kam, dass "arabisch an der zeitgenössischen arabischen Dichtung mit ihrem enormen Formenreichtum einzig noch die Sprache sei". Dazu kommentiert Joachim Günter Lesung und Ansprache des diesjährigen Büchnerpreisträgers Alexander Kluge sowie die Laudatio Jan Philipp Reemtsmas.

Weitere Artikel: Oliver Herwig sorgt sich um die vom Aussterben bedrohten deutschen Architekturzeitschriften, die in Folge der Krise des Baugewerbes mit einem Anzeigenrückgang von vierzig Prozent zu kämpfen haben, und stellt fest, dass "der Markt implodiert. Jeder lauert, bis ein Mitbewerber aus dem Rennen geht." Besprochen werden Hugo von Hofmannsthals Komödie "Der Unbestechliche" am Wiener Burgtheater, die Uraufführung des Figurentheaters "Helden des 20. Jahrhunderts" am Theater Basel sowie allein in der Druckfassung "Orphee et Eurydice" im Münchner Nationaltheater.

SZ, 27.10.2003

Der amerikanische Politologe Amitai Etzioni verkündet das Ende der Vormachtstellung der USA und den Tod des kurzlebigsten Imperiums aller Zeiten. Afghanistan, Irak, Nordkorea, Iran: Zu viele Probleme für eine unilateralistische Herangehensweise. Etzioni warnt aber vor Häme: "Wird die Supermacht jetzt zu ostentativ an ihre Fehlentscheidungen erinnert, könnte sie - mit einem letzten Hurra - nochmals allen beweisen wollen, was sie vermag. Vielmehr ist es nun an der Zeit, zu zeigen, wie eine multipolare Welt, in der die Vereinten Nationen eine Schlüsselrolle spielen, aussehen könnte." Das macht Etzioni im Folgenden dann auch.

Weitere Artikel: Lothar Müller warnt anlässlich des Streits um die Beteiligung der in den Holocaust verwickelten Degussa am Bau des Berliner Mahnmals vor typisch deutschen Übertreibungen. Volker Breidecker erzählt fasziniert von der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die der arabischen Poesie und der Verleihung des Büchnerpreises an Alexander Kluge (mehr) gewidmet war. Etwas angeekelt registriert Titus Arnu den Drang zum Trash in der Werbung, um dann über Ästhetikvorschriften nachzudenken. Fritz Göttler kommentiert den Zwang zum Schockeffekt bei dem Rennen um den Turner-Preis. Derek Weber bescheinigt der kürzlich eingeweihten Walt Disney Concert Hall von Frank Gehry in Los Angeles eine brillante Akustik. Mit der Auflösung des New Yorker Antiquariats H.P. Kraus verschwindet einer der weltweit ersten Adressen für Bibliophile, weiß Stefan Koldehoff. Arno Orzessek gratuliert der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" zum Fünfzigsten.

Auf der Medienseite plaudert Bryan Adams über sein neues Magazin "Zoo", das in Berlin gemacht wird und auf Deutsch erscheint. Carlos Widmann glaubt nicht, dass dem Kommunismusverklärer und New-York-Times-Reporter Walter Duranty der Pulitzer-Preis posthum wieder aberkannt werden sollte. Und Klaus Harprecht porträtiert den Journalisten Fritz Rene Allemann, bekannt vor allem durch "Bonn ist nicht Weimar".

Besprochen werden die Wiener Ausstellung "Go Johnny Go" über Kunst, Mythos und Sex der E-Gitarre, Thomas Langhoffs verwegen altmodische Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals "Der Unbestechliche" am Wiener Burgtheater, die kosmisch weggetretene Filmkomödie "Wilde Bienen" von Bohdan Slama, der kluge Spaß von New Yorks Big Art Group auf der Theaterbiennale Spiel.Art in München, das erste Konzert der Reihe musica viva mit Werken der Avantgarde-Komponisten Helmut Lachenmann und Luigi Nono in München, und Bücher, darunter Alban Nikolai Herbsts Roman "Meere", Anatol Feids kirchenkritische Autobiografie "Die Krankheit des Prälaten Neuffer" sowie Michael Mitterauers Studie über den Aufstieg des Okzidents "Warum Europa?" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).