Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2004. Die FAZ fragt nach den Auswirkungen der Ermordung Theo van Goghs auf die niederländische Politik. In der Welt konstatiert Ian Buruma, dass es dem Irak besser geht - aber gilt das auch für Amerika? Die NZZ berichtet über die Querelen um Tariq Ramadan. In der SZ erklärt Cees Nooteboom, wie seine Romanfiguren zu ihren Namen kommen.

FAZ, 03.11.2004

Gestern wurde der niederländische Filmemachers Theo van Gogh wegen eines islam-kritischen Films von einem Fundamentalisten in Amsterdam erschossen. Dirk Schümer ist an den Ort der Tat geeilt und fürchtet noch schlimmere Auswirkungen als nach dem Attentat auf den Populisten Pim Fortuyn: "Die Tat vom 6. Mai 2002 konnte man noch einem Einzeltäter aus der militanten Tierschutzszene zuschreiben - eine gesellschaftliche Basis dafür gab es nie. Nun aber droht der Mord an einem populären Kritiker islamischer Barbarei zugleich auch das gar nicht so friedliche Zusammenleben nachhaltig zu zerstören. Dass die Niederlande - darin Vorreiter ganz Europas - ihre Zuwanderungs- und Integrationspolitik diesem vergifteten Klima anpassen müssen, ist nun wohl nur mehr eine Frage der Zeit. So äußerten auch entsetzte Marokkaner in ersten Interviews, man habe jetzt Angst, aus dem Land geworfen zu werden." Zum Tod Theo van Goghs bringt Spiegel Online ein Interview mit Leon de Winter.

Weitere Artikel: Gina Thomas verfolgt in der National Gallery von London Raffaels Weg von Urbino nach Rom. Christian Geyer schreibt eine Leitglosse über ein nicht eindeutig zu erkennendes Thema. Der Paläontologie-Professor Friedemann Schrenk äußert Zweifel am Alter des für seinen Zwergenwuchs bekannten Homo Floresiensis. Martin Kämpchen. berichtet über den Eintritt der Indira-Gandhi-Enkel Rahul und Priyanka in die Politik. Martin Thoemmes hat eine Königsberger Tagung über zwei bevorstehende, politisch heikle Jubiläen zugehört - die Gründung als preußische Stadt vor 750 Jahren und die Umbenennung in Kaliningrad vor sechzig Jahren. Matthias Oppermann verfolgte eine Tagung über den amerikanischen Poilitiker Hans J. Morgenthau.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg Ungeheures aus Basel: Die Kunstszene boykottiert die Basler Zeitung, deren Feuilleton zum Lifestyle-Supplement verkleinert wurde - nun fordert ein "Komitee gute Tageszeitung" die NZZ auf, einen Basler Lokalteil zu machen (mehr dazu hier).

Auf der letzten Seite schreibt Regina Mönch eine bewegende Reportage über Schulen in Brandenburg, die aus Kindermangel schließen müssen: "Erzählt wird von einem Bürgermeister, der seinem Kollegen im Nachbarort Geld für eine Straße versprach, wenn der ihm nur seine Kinder schickte. Es gab Lehrerkollegien, die Lotto spielten und Pferdewetten abschlossen, um das Glück zu zwingen und die Schule zu kaufen. Stirbt die Schule, stirbt das Dorf, sagen die Leute. Doch das Schulsterben ist nur das Symptom, und sie wissen es eigentlich alle."

Christian Schwägerl vermerkt in einem zweiten Artikel immerhin, dass der demographische Wandel nach jahrzehntelanger Ignoranz nun auch in der Politik angekommen ist. Und Michael Gassmann erinnert an den Deutschen August Jaeger, der sich in London im 19. Jahrhundert Verdienste um die britische Musik erwarb.

Besprochen werden Jacques-Remy Girards Zeichentrickfilm "Das Geheimnis der Frösche", die Oper "Neither" von Morton Feldman und Samuel Beckett in Stuttgart, Dramatisierungen von Dostojewskis "Spieler" und Tolstois "Krieg und Frieden" in Berlin und Potsdam, ein "Musica Viva"-Konzert mit neuer Musik von Wolfgang Rihm und Kent Olofsson in München und eine Ausstellung der Malerin Anita Albus in Darmstadt.

Welt, 03.11.2004

Kann schon sein, dass der Irak heute besser dasteht als vor dem Krieg, meint der Autor Ian Buruma, aber gilt das auch für die USA, für das Land, das immer nach Freiheit klang? "Immer häufiger höre ich jetzt, wie die Klischees meiner eigenen Amerikophilie Blüten treiben; es klingt falsch, wie ein Lieblingslied, das von einem schlechten Musiker gespielt wird. Die Rhetorik der Freiheit, des Kampfes gegen die Tyrannei und der Befreiung unterdrückter Völker tönt so laut wie nie zuvor. Aber zu oft mischt sich die Angst vor Fremden darunter, eine unangenehme Art von Chauvinismus und eine arrogante Kampflust. Die USA hatten immer schon Stimmungsschwankungen, vom aktiven Interventionismus im Ausland zu säuerlicher Isolation. Gegenwärtig scheint man es in Washington mit einer seltsamen Mischung aus beidem zu tun zu haben: dem Wunsch, die Welt auf eigene Faust in Ordnung zu bringen, ob der Welt das gefällt oder nicht. Deshalb haben die Ideen der Neokonservativen, von Befreiung und Demokratie, wo und wann auch immer, etwas durchaus Belebendes. Aber die aggressive Verachtung, mit der diese Schreibtischbefreier jedermann strafen, der ihre Strategie kritisiert oder der einer Vorstellung von gewaltsamer Revolution als nationaler Politik skeptischer gegenübersteht, hat etwas von napoleonischer Hybris."

TAZ, 03.11.2004

Eva Behrendt hat sich auf einer Zürcher Tagung angehört, wie Kulturwissenschaftler das Phänomen des Glamour vermaßen, und das in seinen ökonomischen und politischen, ästhetischen und religiösen Dimensionen: "Glamour braucht, auch wenn er immer wieder demokratisiert wird, den Schein der Exklusivität, also die Distanzierung vom Mainstream. So entglamourisiert etwa der Overload an geölten Unterwäschegirls, die in Musik-Videos zur Standardausrüstung gehören, den Pornolook beträchtlich. Mit dem Resultat, dass High-Fashion-Designer wie Marc Jacobs hoch geschlossene Hildegard-Hamm-Brücher-Blusen entwerfen."

Weiteres: Frieder Reininghaus stellt mit Genugtuung fest, dass die Aktien des Komponisten Morton Feldman wieder steigen, dank der Uraufführung von "Neither" in der Staatsoper Stuttgart und einer Installation von Achim Freyer in der Bundeskunsthalle Bonn. Jan-Hendrik Wulf hat die neueste Ausgabe der Zeitschrift Vorgänge gelesen, die sich mit der Lüge in der Politik befasst. Im Interview mit Christian Füller spricht der Bildungsökonom Klaus Klemm über die deutsche Lehrermisere, nach der entweder zu viel oder zu wenig Lehrer ausgebildet werden, das aber gleichbleibend schlecht: "Auch die neuen Lehrer werden noch nach Altvätersitte ausgebildet worden sein. Seit den 70er-Jahren ist die Lehrerausbildung im Kern nicht anders geworden." Auf der Meinungsseite führt Kerstin Decker den gastronomischen Gottesbeweis. Und in der tazzwei berichtet Jan Feddersen von einer Diskussion in Berlin, bei der Jan Philipp Reemtsma und Michael Wolffsohn über die Folter stritten.

Und noch Tom.

FR, 03.11.2004

Tymofiy Havryliv schreibt mit verhaltenem Optimismus über die Wahlen in der Ukraine: "Trotz der auf Konfrontation der West- und der Ostukrainer gerichteten Schritte zeigten die ukrainischen Bürger, dass sie einer politischen Nation angehören - ungeachtet der regionalen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Unterschiede. Es ist nicht mehr möglich, die Gesellschaft nach einem dieser Merkmale zu trennen und zu beherrschen. Die Trennlinie verläuft anders: nämlich zwischen zwei Visionen der Ukraine, einer demokratischen und einer autoritären. Zwei Eliten ringen um die Wählerstimmen, eine neue, die klare Spielregeln durchsetzen will, und eine alte, die die Spielregeln dem eigenen Gusto anpasst und die Interessen der herrschenden Clans bedient. Anlass zur Hoffnung auf eine demokratische Ukraine geben ausgerechnet die Jugendlichen, die in den letzten Jahren gern als unpolitisch bezeichnet worden waren. Sie sind die politisch aktivsten Bürger geworden, offenbar in dem Bewusstsein, dass sie noch ein langes Leben in diesem Land vor sich haben."

Der Regisseur Armin Petras spricht im Interview über Kleists "Käthchen", das er in der Schmidtstraße inszeniert, und das hochverehrte Publikum: "ein richtiges Zielgruppen-Theater gibt's ja ohnehin nur in Berlin: Ich finde zum Beispiel das Berliner Ensemble klasse, weil ich es großartig finde, dass es ein Seniorentheater gibt: Ein von Senioren für Senioren gemachtes Theater. In einer Bevölkerung, die zusehends vergreist, ist das doch großartig. Wenn ich eines Tages sechzig werden sollte, was ich nicht vermute, würde ich mich natürlich freuen, selber Seniorentheater zu machen. Alles andere ist ja auch eine Lüge."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte berichtet über den Mord an dem niederländischen Filmemacher und Islamkritiker Theo van Gogh: Er war gestern auf offener Straße mit sechs Schüssen ermordet worden. In Times Mager wünscht Heribert Kuhn "Halloseelen". Besprochen werden Ausstellungen von Rebecca Horn im Düsseldorfer Museum K20 und Cosima von Bonin im Kölnischen Kunstverein, das Rilke-Projekt in Frankfurts Alter Oper und Bücher, darunter ein Gedichtband von Ferdinand Schmatz und einer von Heinrich Detering (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 03.11.2004

Sabine Haupt berichtet über die Querelen um den Genfer Islamwissenschafter Tariq Ramadan und stellt schließlich fest: "... die Zeiten der politischen Protektion, der akademischen Gefälligkeiten und des journalistischen Wohlwollens scheinen passe. Eine neue, zunächst in Frankreich und zunehmend auch in der Romandie aktive Generation von Politikern und Journalisten sieht keine Veranlassung mehr, das Wunderkind-Image, das Ramadan bei seinen älteren Gönnern und Förderern jahrelang genoss, weiter zu pflegen. Jene heute etwa sechzigjährigen Politiker, Journalisten und Hochschullehrer nahmen ihn immer wieder in Schutz und boxten sogar seine zunächst abgelehnte Doktorarbeit an der Genfer Universität durch. Dieser Unterstützung hat er es letztlich zu verdanken, dass die propagandistischen Umtriebe des Fundamentalisten Ramadan (Kassetten mit seinen Reden verkaufen sich in Auflagen von 60.000 Stück) stets balanciert und abgefedert werden konnten durch die 'seriöseren' Aktivitäten des von vielen Medien zum 'Intellektuellen', 'Professor' oder gar 'Philosophen' hochgelobten Lehrers und Dozenten.

Weitere Artikel: Thomas Schacher schreibt zum Start der World New Music Days in der Schweiz. Holl. meldet den Tod des Architekturfotograf Ezra Stoller. Klaus Bartels erzählt die kurze Geschichte der Akademie.

Besprochen werden Peter Chelsoms Ballroom-Romanze "Shall We Dance?", eine Ausstellung über Taschen - Le cas du sac - im Musee de la Mode et du Textile in Paris
Bücher, darunter Ludwig Winders letzter Roman "Die Pflicht" und ein Band mit Variationen über das Shakespeare-Sonett 18 (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 03.11.2004

"Ich muss gestehen, das Namengeben gehört für mich zum reizvollsten Teil des Schreibens, und es könnte durchaus sein, dass hier ein Anflug von Machtwollust im Spiel ist. Es ist ja auch keine geringe Entscheidung, die hier zu treffen ist", schreibt der Schriftsteller Cees Nooteboom und erzählt, wie er zu den Namen seiner Figuren kommt. "Mein jüngster Held, der noch in einem Manuskript schlummert und noch nicht ausgereift genug ist, um die Reise in die reale Welt anzutreten, hört auf den Namen Erik Zondag, was, das haben Sie gleich verstanden, Sonntag bedeutet. Dabei habe ich nicht bewusst an Susan Sontag gedacht, allenfalls beiläufig an einen niederländischen Kolumnisten, der unter dem Namen S. Montag schreibt. Vielleicht war es an dem Tag, an dem ich diesen Namen ersann, wie heute, hier im Allgäu, einfach Sonntag. Glauben Sie mir, manchmal weiß der Autor es selbst nicht mehr. Doch wenn ich hinausblicke, Vögel, Hügel, Sonnenschein, eine totenstille, verlassene Landstraße, dann passt der Name wirklich zu meinem unglücklichen Literaturkritiker, denn auch das Gegenteil eines Sonntagskindes muss einen Namen haben."

Vor hundert Jahren erschien Max Webers Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", und die Kapitalismuskritiker haben es immer noch nicht verstanden, seufzt Gustav Seibt. Er erklärt es deshalb noch einmal: "Nicht Raffgier liegt am Grunde des modernen Kapitalismus, sondern äußerste Sparsamkeit und Ehrbarkeit, also mönchische Ideale in bürgerlicher Gestalt." Gier und Unehrlichkeit, Egoismus und Betrug seien dagegen menschlich allgemeine, überzeitlich verbreitete Charaktergebrechen.

Weiteres: Reinhard J. Brembeck huldigt der großen Bach-Pianistin Angela Hewitt, die hierzulande "fast schon absichtlich gar nicht wahrgenommen wird": "Nie wirkt ihr Spiel virtuos, nie vermittelt sie den Eindruck, etwas unendlich Schweres zu vollbringen, das nur Übermenschen vorbehalten ist. Ihr Spiel verführt den Hörer durch eine Heiterkeit, durch ein gemurmeltes Einverständnis, das ihn nach und nach erst in den Bann schlägt." Stefan Koldehoff schlägt Alarm: Die Sammlung der mehr als tausend Künstlerbriefe an den Sammler und Mäzen Carl Hagemann soll verkauft und "damit wahrscheinlich in alle Windrichtungen verstreut werden". Kristina Maidt-Zinke spricht im kurzen Interview mit dem Pianisten Menahem Pressler über sein Beaux Art Trio, das zurzeit in Deutschland gastiert. Barbara Wündisch denkt über Geschlechterrollen nach, die von Schwulen und Lesben als Eltern durcheinandergebracht werden. Und Tim B. Müller berichtet von einer Münchner Tagung über den Realismus in der amerikanischen Außenpolitik.

Besprochen werden Peter Chelsoms "wunderbar altmodischer" Tanzfilm "Darf ich bitten?", die Ausstellung "The Enemy Within" in Washington, das neue Album "The Love of Richard Nixon" der Manic Street Preachers, die Stücke "junk space" von Kathrin Röggla und "Nach dem glücklichen Tag" von Gerhild Steinbuch beim Steirischen Herbst und Bücher, darunter Zoran Feric' Roman "Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzern" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).