Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2006. Die Grass-Bewältigung geht weiter - selbst im Time Magazine (hier ein altes Grass-Titelbild von 1970). Der Zeit ist Grass' antibürgerlicher Reflex unheimlich. In der SZ beklagen Eva Menasse und Michael Kumpfmüller ein Methusaelm-Komplott, das den Blick auf die eigentlichen Probleme verstellt. Aber Heinz Bude ist weiter fasziniert von der Einzigartigkeit der Flakhelfergeneration. In der FR ruft Durs Grünbein: "Das glaube ich nicht." Die NZZ ist schon bei einem ganz anderen schönen, leeren Bild von Männlichkeit angelangt - in Peter Steins Inszenierung von Shakespeares "Troilus und Cressida". Und die FAZ erträumt sich eine "Ring"-Inszenierung durch Lars von Trier.

SZ, 17.08.2006

"Der Libanon-Krieg hat die arabischen Intellektuellen radikalisiert, und diese Radikalisierung wird sich mit einem Waffenstillstand nicht mildern lassen", schreibt der in Hamburg lebende irakische Schriftsteller Najem Wali. "Kaum ein Intellektueller gesteht ein, dass die Hisbollah nach iranischen Plänen handelt. Kein Wort darüber, dass die Hisbollah Südbeirut von Christen 'gesäubert' hat, kein Wort über die Absicht der Hisbollah, im Libanon einen Gottesstaat zu errichten, und das in einem Land mit 19 verschiedenen religiösen Gruppierungen. Kein Wort darüber, dass für die Zerstörungen zuallererst die Hisbollah verantwortlich zu machen ist... Nur wenige Intellektuelle rufen zum Frieden auf, und auch sie können nicht alles sagen, weil die offiziellen arabischen Medien nicht wollen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie werden von saudi-arabischen Geldgebern kontrolliert und von einem Chor gelenkt, der Paranoia propagiert."

"Das ist das wahre Methusalem-Komplott", rufen die Schriftsteller Eva Menasse und Michael Kumpfmüller angesichts der Scharen von über 70-Jährigen, die die Feuilletons mit Kommentaren zu Grass füllen. Gibt es keine anderen Themen? Den Libanonkrieg zum Beispiel? "Wo aber waren die deutschen Intellektuellen, die gesagt hätten: Wir brauchen kein Auschwitz, um uns hier zu äußern? Wir sind auf Israels Seite, nicht, weil Nazideutschland sechs Millionen Juden ermordet hat, sondern weil Israel ein demokratischer Staat ist, mit Feinden, die nicht nur ihn, sondern alle demokratisch verfassten, westlich orientierten Gesellschaften vernichten wollen?... Reden wir über die vereitelten Attentate von London, reden wir über unser Verhältnis zum Islam, reden wir über die Grenzen der Liberalität. Es geht um uns und unsere Zukunft."

Der Soziologe Heinz Bude fordert die "Nachgeborenen" dagegen auf, die "Einzigartigkeit" der "Flakhelfer-Generation" zu akzeptieren. Die könnten nämlich nicht nur über ihre "sexuellen Vorlieben" reden. Die "Kenntnis des Menschenmöglichen hat ihren Blick für Phänomene geschärft, die uns Nachgeborenen heute als unglaubliche zivilisatorische Regressionen erscheinen. Sie sind innerlich geeicht auf Tatbestände, die wir mit Begriffen wie Terrorismus, Fundamentalismus und Ethnizismus eher hilflos einzufangen versuchen."

Hans Leyendecker hat die Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle konsultiert, wo er ein Auskunftsersuchen der BfA aus dem Jahr 1992 fand, die sich zwecks Berechnung von Grass' Rentenansprüchen nach dem Aufenthalt des ehemaligen Wehrmachtsangehörigen Günter Grass in den Jahren 1945 und 1946 erkundigt hat und auch Auskunft erhielt. "Was hat der Mitarbeiter der BfA nach Lektüre der Dokumente gemacht", fragt Leyendecker. "Kannte er die Bedeutung der DoppelRunen nicht? Oder hielt er es für normal, dass auch Grass bei der Waffen-SS war?"

Besprochen werden Safy Nebbous' Film "Der Hals der Giraffe" (für Martina Knoben "so zart gesponnen, dass sich die Wucht des Erzählten immer wieder erst mit Verspätung offenbart"), Jonathan Demmes großartiger Dokumentarfilm "Neil Young: Heart of Gold" - (es gibt auch ein Interview mit Demme), Marcus Hausham Rosenmüllers bayrisches Höllenspektakel, sein Film "Wer früher stirbt ist länger tot", ("Sammerwiederlustigheut", stöhnt Rainer Gansera), eine Tino Sehgal-Schau im Kunsthaus Bregenz, Peter Steins Inszenierung von Shakespeares "Troilus und Cressida" beim Edinburgh-Festival ("fraglos ein optisch opulentes, sprachlich brillantes Theatererlebnis", wie Alexander Menden etwas kühl notiert), die Uraufführung von Wolfgang Rihms Konzert für Violoncello und Orchester auf den Salzburger Festspielen, eine neue, kostenlose Software von Microsoft, mit der jeder Computerspiele selber designen kann, und Bücher, darunter Philip Roths neuer Roman "Jedermann" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 16.08.2006

Jens Todt hat für Spiegel Online einen Veteranen der Waffen-SS aufgetrieben, der in der gleichen Division wie Grass diente. "'Ich habe ein bisschen recherchiert, nachdem ich davon gehört hatte', so der ehemalige Waffen-SS-Mann Edmund Zalewski, 'aber keiner konnte sich an Günter Grass erinnern'." Nach dem Krieg arbeitete Zalewski in den Dürener Metallwerken, "doch der Kontakt zu den ehemaligen Angehörigen der SS-Truppe riss niemals ab. Zalewski ist bis heute Schriftführer der 'Kameradschaft Frundsberg', eines Veteranenvereins, dessen Mitglieder sich jährlich an Kriegsschauplätzen treffen. 'Inzwischen sind wir nur noch 60 Kameraden, das war natürlich mal anders', so Zalewski, 'aber wir sind jetzt ja allesamt um die 80 Jahre alt und mehr.'"
Stichwörter: Grass, Günter, Veteranen, Riss

Zeit, 17.08.2006

Hazem Saghieh, in London lebender Redakteur bei der libanesischen Zeitung Al Hayat, spricht im Interview mit Jörg Lau über den zerstörerischen Krieg im Libanon und die Radikalisierung der britischen Muslime. "Alles wird dem bereits vorhandenen Weltbild 'Wir gegen sie' eingefügt. Tschetschenien, Bosnien, Afghanistan, Irak, Palästina und Libanon bilden darin ein einziges Panorama muslimischen Leidens." Aber auch die Tendenzen zur Selbststigmatisierung beunruhigen Saghieh: "Man inszeniert sich mehr und mehr genau so, wie das Vorurteil der Islamophoben die Muslime sieht: immer mehr Kopftücher, immer mehr äußere Zeichen des Andersseins. Man grenzt sich selber aus. Ich muss selbstkritisch sagen: Die arabischen Medien sind nicht sehr hilfreich für die Integration der Migranten in Europa. Al-Dschasira sagt den Leuten nicht, wie sie sich hier besser zurechtfinden, sondern wie sie sich besser von der Mehrheit unterscheiden können."

Geradezu bedenklich findet Jens Jessen die Selbstentschuldigungen von Grass im FAZ-Interview: "Wie er mit Schwung das 'Antibürgerliche' der Nazis herausstellt und die Faszination der 'Volksgemeinschaft' schildert, in der 'Klassenunterschiede oder religiöser Dünkel' keine vorherrschende Rolle mehr spielten, wie er dagegen die 'grauenhafte' Adenauerzeit setzt 'mit all den Lügen und dem ganzen katholischen Mief' und schließlich sogar behauptet, dass es solche 'Art von Spießigkeit' nicht einmal bei den Nazis gegeben habe - das verrät eine distanzlose Einfühlung, die für Momente vergessen lässt, dass Grass jemals erwachsen geworden ist und sich von dem Hokuspokus der nationalsozialistischen Propaganda befreit hat. Man sieht den 78-Jährigen vor sich wie einen, der sofort wieder auf eine Ideologie hereinfallen könnte, wenn sie nur antibürgerlich genug daherkäme und ein Ende der Klassengesellschaft verspräche."

Weitere Artikel: Peter Kümmel resümiert die Theaterinszenierungen der Salzburger Festspiele und kürt den Intendanten Martin Kusej zum Gegenprinzip des ebenfalls in Salzburg heimischen Red Bull. Jens Jessen urteilt über die Ausstellung "Erzwungene Wege" des Zentrums gegen Vertreibung: "Sie ist weder bedeutend, noch anstößig und auch nur in Maßen aufschlussreich." Thomas Groß unterhält sich mit David Byrne, früher Frontmann der Talking Heads, heute Multitasker im Kulturgeschäft. Hannelore Schlaffer ergründet das Phänomen Madonna. In der Leitglosse ärgert sich Hilal Sezgin über Tagesschau-Sprecherin Eva Hermann, die sich jetzt ganz dem Mutterdasein und der antifeministischen Literatur widmen will. Claudia Herstatt berichtet von der rigiden Budget-Praxis beim Herforder Museum.

Besprochen werden Matthias Glasners Film über einen Vergewaltiger "Der freie Wille" (den Georg Seeßlen als "großartig, genau" und "wahr" preist) , die "monströs langatmige, langweilige" Promi-Inszenierung der Dreigroschenoper in Berlin, eine Peter-Sellers-DVD-Box, Beenie Mans Album "Undisputed" und Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" als Moderner Klassiker.

Im Aufmacher des Literaturteils schreibt Fritz J. Raddatz schon über Günter Grass' Memoiren "Beim Häuten der Zwiebel", die er als eine schonungslose Selbstbefragung bewundert. Adam Krzeminski schreibt über polnische Reaktionen auf Grass' Bekenntnis, und Volker Ulrich spricht zum selben Thema mit dem Historiker Bernd Wagner. Georg Diez beschreibt, was die Schriftsteller Daniel Kehlmann und Kathrin Passig voneinander unterscheidet. Das Dossier widmet sich den netten Jungs von nebenan in Londons Walthamstow, die die Anschlagsserie auf Transatlantikflüge geplant hatten.

TAZ, 17.08.2006

Der Soziologe Norman Birnbaum will die Einstellung der amerikanischen Juden gegenüber Israel einer Revision zu unterziehen. "Das US-Judentum würde Israel besser dienen, wenn es eine langfristige Perspektive entwickeln würde. Jerusalem hat seit der Eroberung durch die Römer fünfzigmal den Besitzer gewechselt. Israels Politik kombiniert Brutalität gegenüber den Arabern mit Verachtung für sie. Das wird früher oder später Folgen haben. Sinn eines jüdischen Staates war, die Diaspora zu beschützen. Jetzt ist es die Diaspora, die den jüdischen Staat schützt. Die amerikanische Diaspora jedenfalls tut das weit über ihre Verhältnisse hinaus. Aber ihre Fähigkeit, Israel unendlich lange zu helfen, ist begrenzt."

Weitere Artikel: Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Historiker Stephen Greenblatt kritisiert die schon länger laufende Berliner Schau "Berlin-Tokyo/Tokyo-Berlin. Die Kunst zweier Städte" in der Neuen Nationalgalerie als "Kunst der Kollaboration", da sie der Thematisierung der faschistischen Geschichte beider Länder ausweiche. Philip Meinhold fragt sich, ob Grass bei einem früheren Geständnis vielleicht nicht so viel produziert hätte. Günter Grass' Klage, zur "Unperson" geworden zu sein, inspiriert Christian Semler in der zweiten taz zu einer kleinen korrigierenden Wortkunde. Auf der Tagesthemenseite erinnert Josefine Janert an den DDR-Pfarrer Oscar Brüsewitz, der sich vor 30 Jahren aus Verzweiflung über die SED-Diktatur selbst verbrannte.

Besprochen werden Stephen und Timothy Quays neuer Film "The Pianoturner of Earthquakes", Sven Taddickens Film "Emmas Glück" und Matthias Keilichs Film "Die Könige der Nutzholzgewinnung".

Und Tom.

FR, 17.08.2006

Gestern ist die Grass-Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" auf den Markt gekommen, zwei Wochen vor dem eigentlichen Erscheinungstermin. "Was musste raus? Und in welcher Sprache? Einer Sprache der Schuld, der Not, der Bewältigung?" Ina Hartwig hat schon mal vorgelesen: "Grass scheint beim Ausschmücken in seinem Element, scheint sich seiner Gefühle sicher zu sein. Ähnliches gilt für die Schilderung des glühenden Triebstaus, von dem pubertierende Jungen geknüppelt werden; hinsichtlich seiner onanistischen Praktiken macht Grass die süffigsten Mitteilungen."

Der Dichter Durs Grünbein überlegt im Interview, warum Grass als 17-Jähriger in den Krieg gezogen ist. "Es gab sicherlich einen großen Drang, zur Truppe zu gehören, die Vorstellung des intensiven Lebens. Der Typus des soldatischen Schriftstellers hat davon noch gezehrt. In wenigen Wochen ist ein unglaublicher Fundus von intensiven Bildern entstanden, von euphorisch aufgeladenen Situationen, die man dann das ganze Leben lang entwickeln konnte als Film. Ich sehe auch ein Pathosgefälle zwischen einem Mitglied der Waffen-SS und einem Flakhelfer oder Pimpf. Die Flakhelfer, das wurden dann die Philosophen und Journalisten. Der echte Schriftsteller ist natürlich ein Haudegen. Deshalb ist er ja auch wichtiger. Mein erster Instinkt war deshalb: Das glaube ich nicht. Ich glaube einfach nicht, dass es stimmt. Vielleicht ist es nur eine Legende, die es braucht, ein Werk abzurunden."

Außerdem zu Grass: Peter Rutkowski listet ein paar Prominente auf, die weniger Gewissensbisse wegen ihrer NS-Vergangenheit als Grass hatten, darunter der einstige Präsident der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft Günther Niethammer, der bei der Waffen-SS auch einen Aufsatz verfasste: "Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz". In einem Interview springt Klaus Staeck, Präsident der Akademie der Künste, Grass zur Seite. Karl-Heinz Baum klärt auf, wo Akten zu Grass zu finden sein könnten. Christian Thomas meint, dass die Leute Grass jetzt mit dessen eigenen moralischen Maßstäben messen. Ein FR-Tagesthema zu Grass gibt es auch noch: Mit einem Auszug aus dem Interview, das die ARD heute abend ausstrahlen wird. Und Karin Ceballos Betancur liefert einen Bericht von der Buchhändlerfront, wo der vorgezogene Verkauf der Grass-Biografie offensichtlich eher schleppend anläuft.

Weiteres: In der Kolumne Times Mager befasst sich Hans-Jürgen Linke mit Spekulationen über die Gründe des Verschwindens der Original-Magnetbänder, auf denen die erste Mondlandung aufgezeichnet waren. Der Dirigent und Geiger Reinhard Goebel spricht mit Stefan Schickhaus über die Gründe für das Ende seines Kölner Barockensembles Musica Antiqua.

Besprochen werden Christian Mraseks und Rainer Knepperges' Nostalgie-Satire "Die Quereinsteigerinnen" (für Daniel Kothenschulte eine "kleine, ungemein gut erfundene Komödie"), Sven Taddickens Film "Emmas Glück" und Marcus Hausham Rosenmüllers "Common-Sense-Feel-Good-Film" "Wer früher stirbt, ist länger tot" (für Katja Lüthge verfügt der Film "über eine Magie, die unfreundliches, nasskühles Wetter in heiteren Sonnenschein wandeln kann.")

NZZ, 17.08.2006

Peter Steins Inszenierung von Shakespeares "Troilus und Cressida" beim Edinburgh International Festival zeigt ein "schönes, leeres Bild von Männlichkeit", erzählt Patricia Benecke. "Seine Helden paradieren in goldenen Kampfhöschen und Helmen, aus denen sie kaum schauen können (Kostüme Anna Maria Heinreich), und werfen sich in Pose. Hier streitet man nicht um hohe moralische Prinzipien, sondern vor allem für die eigene Eitelkeit. Trotzdem werden die Figuren nicht zu Karikaturen. Stein findet die Balance zwischen Satire und Tragödie, betrachtet die 'Idioten des Mars' zwar von außen, nimmt ihre Schmerzmomente aber absolut ernst und erlaubt ihnen damit Menschlichkeit. So durchlebt selbst Achilles, der mit uncharmantem Übergewicht, langen, effeminierten Gewändern und Haarband als Inbild der Dekadenz durchs griechische Lager weht, mit dem Tod seines Lustknaben Patroklus eine solche Verzweiflung, dass man seinen Meuchelmord an Hektor fast verstehen kann. Gewalt entfacht Gewalt."

In Rumänien ist eine Kommission eingesetzt worden, zur Erforschung und Verdammung des Kommunismus, berichtet Markus Bauer. Fällig war das schon lange, schreibt er, dem vorangegangen waren allerdings ein Manifest und ein Rapport des Publizisten Sorin Iliesiuen, die den Historiker Marton Horvath fragen ließen, was hier eigentlich verurteilt werden soll: der Kommunismus generell oder die Verbrechen des Kommunismus? "Es sind vor allem die teilweise übertriebenen oder unpräzisen Formulierungen wie 'genocid cultural' oder 'Verrat der Interessen Rumäniens durch die von den Kommunisten dominierte Regierung', die das Geschichtsverständnis von Iliesius 'Rapport' in Frage stellen. Ein Manko erkennt Horvath in der mangelnden Klarheit gegenüber der historischen Tatsache, dass der rumänische Kommunismus spätestens seit dem Abzug der sowjetischen Truppen 1958 (dem einzigen Fall im Warschauer Pakt) nicht mehr mit einer eindeutigen Besetzungssituation und dem 'Kollaborationismus' der rumänischen Politik erklärt werden kann. Vielmehr arrangierte sich ein Großteil der Bevölkerung mit dem auf technische Modernisierung setzenden Regime."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer berichtet über die neuesten Gangsta Grillz (goldene, mit Diamanten besetzte Zahnspangen). Markus Ganz kommt verunsichert, aber glücklich aus einem Konzert von Radiohead. Besprochen werden Bücher, darunter Rainer Braunes phantastischer Entwicklungsroman "Die Drachenwerft" und Israel Zangwills Klassiker "Der König der Schnorrer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 17.08.2006

Auf den Forumsseiten hält es Konrad Adam nun für an der Zeit, den "moralischen Rigorismus" der Achtundsechziger zu geißeln, der seiner Meinung nach aus einem Vaterkomplex herrührt. "Die Figur des schwachen, des geschlagenen Vaters, der abgerissen und ohne Waffen aus dem Krieg zurückgekehrt war und nie wieder auf die Beine kam, begegnet einem bei denen, die sich den Achtundsechzigern zurechnen, ständig, bei Günter Grass genauso wie bei Gert Koenen, Jörg Friedrich oder Joschka Fischer. Und er verdient kein Erbarmen, nicht einmal Mitgefühl, sondern Verachtung, ja Hass. So, als Verlierer, wollten sie selbst nie wieder dastehen; daher die Militanz, der Waffenfetischismus, die Glorifizierung der Gewalt, zu der sich die Achtundsechziger ja keineswegs nur theoretisch bekannt haben."

Im Feuilleton beäugt Uwe Schmitt mit einer gehörigen Portion Skepsis die amerikanische Reanimation der Protestsänger aus den Sechzigern, findet die 300 von Fans eingeschickten "Songs Of The Times" auf Neil Youngs Website aber noch schlimmer. Gabriela Walde meldet, dass drei Expertengruppen die Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners expressionistischer Straßenszene als "dilettantisch" brandmarken und eine Überprüfung fordern. Siemens hat jetzt mit "Masters of Maya" das erste Online-Multiplayerspiel für das Handy außerhalb Koreas entwickelt, berichtet Christoph Gröner.

Auf der Kinoseite empfiehlt Matthias Heine Stephen und Timothy Quays märchenhaften Film "The Piano Tuner of Earthquakes". Außerdem gibt es einen, zwei, drei deutsche Filme anzuzeigen.

Tagesspiegel, 17.08.2006

Von Künstler zu Künstler: Volker Schlöndorff erklärt das Geständnis von Günter Grass verständnisvoll zu einer Frage des Stils. "Einem so Medienerfahrenen wie Dir, lieber Günter, passiert das natürlich nicht aus Versehen, noch weniger aus Fehleinschätzung der Konsequenzen oder gar aus Kalkül: den Strick gleich mitliefern? Sondern einmal mit dem Schreiben außerhalb der Fiktion angefangen, blieb Dir aus Gründen des Stils nichts anderes übrig, als auch Dir selbst und nicht nur der Zwiebel die Haut abzuziehen. Du als Autor unterwirfst also einfach Dein eigenes Erzählen wie sonst das Deiner fiktiven Helden dem einzigen Dir heiligen Gesetz, nämlich dem der Kunst. Und wenn dabei ein durch lebenslange Arbeit entstandenes öffentliches Monument zu Bruch geht, so kannst Du dafür nicht. Das Monument ist Opfer des gleichen Dämonen, der schon immer in Dir rumort."

FAZ, 17.08.2006

Schwer frustriert von Tankred Dorsts Bayreuther "Ring"-Inszenierung erträumt sich Julia Spinola die leider ausgefallene Deutung durch Lars von Trier, der immerhin ausführliche Notizen zu seinem Konzept ins Netz gestellt hat. Der "Ring" wäre bei ihm frei nach Adorno die Geburt des Kinos aus der Musik gewesen: "Der Wunsch, die Szene als Verlängerung von Traum und Mythologie erscheinen zu lassen, führte ihn zu seiner Technik zahlreicher flexibel eingesetzter Lichtflecken, die im Sinne einer 'bereicherten Dunkelheit' immer nur einen winzigen Teil, maximal fünf Prozent, des Bühnenbildes sichtbar werden lassen sollten. Auf diese Weise würde das gesamte Bild erst in der Vorstellung des Publikums zusammenwachsen, das sich leicht täuschen lassen würde. In einer Kombination mit Videos und beständigen unsichtbaren Umbauten wollte von Trier so illusorische Räume schaffen, quasi filmische Bewegungen darstellen und dem Bühnenraum Unendlichkeit verleihen." Hätt' er sich nur getraut!

Weitere Artikel: Dietmar Dath glossiert die Aufforderung des Internet-Monopolisten Google an die Redaktionen, das Wort Google nicht als Verb zu benutzen. Dirk Schümer zitiert Äußerungen Ernst Noltes zum Casus Grass in der italienischen Presse - der Historiker erhofft sich durch den Fleck auf der Weste des Moralapostels "Versöhnung mit der gesamten deutschen Geschichte, auch mit ihren schrecklichsten Seiten". Jordan Mejias resümiert amerikanische Reaktionen auf die Grass-Enthüllungen - unter anderem zitiert er den Time-Korrespondenten Nathan Thornburgh, der Grass für die etwas verzögerte Kundgabe der Wahrheit lobt. Gemeldet wird, dass eine Gruppe von Künstlern (darunter Klaus Staeck) nochmals gegen die Breker-Ausstellung in Schwerin protestierte. Kerstin Holm porträtiert den Moskauer Filmstar Renata Litwinowa als "russische Hitchcock-Frau, die fasziniert durch kristallene Kühle und eine apart neurotische Aura". Karol Sauerland zitiert Enthüllungen über Stasi-IMs in der polnischen Kirche. Jonathan Fischer beschwert sich in einem kleinen Essay über mangelnde Sozialkritik und politische Relevanz bei den angesagten Hiphoppern, empfiehlt aber die Werke von Ghostface Killah und Boots Riley. Sven Crefeld ist begeistert über eine Reihe von Villenentwürfen des Architekten Siegbert Langner von Hatzfeldt in Dresden. Auf seite 1 nimmt Heinrich Wefing Stellung zu restituierten und umgehdend versilberten Raubkunstwerken.

Auf der Filmseite schreibt Verena Lueken zum Hundertsten (es könnte aber auch der 97. sein) von Marcel Carne. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Ulrich Wickert über seine neue Büchersendung, die heute mit einem Grass-Interview startet. Für die letzte Seite besuchte Andreas Rosenfelder eine Veranstaltung von Videospieldesignern in der Normandie - die Journalisten wurden in die Normandie eingeflogen, um ein Videospiel zu preisen, das die Landung der Alliierten nachstellt. Patrick Bahners kritisiert die Äußerungen des Historikers Hans Mommsen zur Grass-Affäre in der gestrigen FR. Und Jürgen Kaube porträtiert die Berliner Politikerin Monika Grütters, die im unwahrscheinlichen Fall eines Wahlsiegs der CDU Kultursenatorin werden könnte.

Besprochen werden Rainer Knepperges' und Christian Mraseks Film "Die Quereinsteigerinnen", Peter Steins Inszenierung von Shakespeares "Troilus und Cressida" bei den Festspielen von Edinburgh, Sven Taddickens Film "Emmas Glück" und eine Ausstellung mit Fotografien des Reportagefotografen Werner Bischof in Berlin.