Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.02.2007. Die Berlinale-Resümees fallen recht mau aus: Einen "History Overkill" diagnostiziert die Welt, und auch der taz fehlt die sperrige Filmkunst neben der political correctness. In der SZ geißelt Gustav Seibt das Einverständnis vieler Intellektueller mit dem Irak-Krieg, das zu scharfer Selbstkritik im Westen Anlass gibt. In der Welt fordert Corinna Ponto von den Terroristen der RAF nicht Reue, sondern Aufklärung über ihre Taten. Peter Handkes "Spuren der Verirrten" in Claus Peymanns Regie am Berliner Ensemble führen zu nachträglicher Heiterkeit der Kritik.

NZZ, 19.02.2007

"Leere, klappernde Figurenhüllen", inklusive des in das Geschehen eingreifenden Zuschauers sah Dirk Pilz in Handkes neuem Drama "Spuren der Verirrten", das in der Regie Claus Peymanns am Berliner Ensemble aufgeführt wurde: "Wo Handkes schwersinniges Drama von verlorenen oder wiedergefundenen Daseinszusammenhängen und einer Überfülle der Wahrnehmungswelten raunt, wo es von der heimlichen Lust am Verirren und dem Schauder des Vergehens schwärmt, bleiben auf der Bühne gekünstelte Posen zurück. Oder anders: Wo Handke einen Wald imaginiert, sieht Peymann nichts als Bäume."

Weitere Artikel: Christoph Egger resümiert insgesamt recht freundlich, aber ohne rechte Ausreißer in Begeisterung oder Bestürzung den Wettbewerb der Berlinale. Georg Sütterlin macht in einem "Schauplatz Peru" mit den schwierigen Bedingungen der Literaturproduktion in dem armen Staat bekannt, wo es eigentlich nur in Lima Buchhandäungen gibt ("Die guten Buchhandlungen der 8-Millionen-Stadt kann man an einem einzigen Nachmittag besuchen, sie liegen fast alle in Miraflores und San Isidro.") Und Beatrix Langner unternimmt einen Winterspaziergang auf der Ostseeinsel Usedom.

Besprochen werden Mozarts "Zauberflöte" unter Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusej im Opernhaus Zürich und Hans Werner Henzes "Tristan" in der Zürcher Tonhalle.

SZ, 19.02.2007

Seit 1914 wurde kein Krieg mehr von so vielen Intellektuellen unterstützt wie der Irakkrieg, stellt Gustav Seibt fest und glaubt, das liege an dem Hang zur historischen Großanalogie, etwa bei Wolf Biermann, György Konrad, Hans Magnus Enzensberger, Hans-Ulrich Gumbrecht und Karl-Otto Hondrich, Paul Berman, Michael Ignatieff, Ralph Dahrendorf und Herfried Münkler: "Der wünschenswerte Sturz Saddams wurde umstandslos mit dem Kampf gegen Hitler parallelisiert, die Demokratisierung des Iraks mit der Demokratisierung Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen, und die Chance einer demokratischen Ausstrahlung auf den gesamten Nahen Osten legte man sich zurecht mit dem Ende des Ostblocks und der raschen Etablierung bürgerlicher Demokratien danach. Nur über den heutigen Irak und seine reale innere Lage wusste kaum jemand etwas zu sagen. Es ist anders gekommen, als solche vorwegnehmende Imagination kommender Erfolge suggerierte. Und hierin liegt eine fast obszöne Anmaßung, die zu scharfer Selbstkritik im Westen Anlass gibt. Da wird ein ganzes Land in unabsehbares Elend gestürzt, und welche Argumente liefern die Begleitmusik? Erinnerungen an unsere eigene Geschichte."

Weiteres: Tobias Kniebe kann sich zwar keinen rechten Reim auf die die diesjährige Berlinale machen, hat aber immerhin eine Sehnsucht nach Relevanz ausgemacht: "Vielleicht erwacht unter Filmemachern gerade mit neuer Dringlichkeit der Wunsch, weder nur Teil einer allgemeinen Zerstreuungsmaschinerie zu sein noch sich von vornherein hinter einer künstlerisch wertvollen, in der öffentlichen Wahrnehmung aber nichtexistenten Position zu verschanzen." Jonathan Fischer traut dem wieder in Betrieb gehenden Soullabel Stax aus Memphis am fünfzigsten Geburtstag eine Renaissance zu. Stefan Koldehoff hat in Wuppertal Neues über die Nazikontakte des Kunstmäzens Baron Eduard von der Heydt gehört. Christian Kohl stapft durch die fast fertig restaurierte Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, die im Herbst wieder eröffnet werden soll. Auch wenn sich die Aufnahmen der britischen Pianistin Joyce Hatto sich als Plagiat erweisen, sind für Wolfgang Schreiber nicht alle anderen Platten-Interpreten diskreditiert.

Auf der Medienseite inspiziert Dörte Nath die Fußballzeitschriften, die zur WM 2006 neu gegründet wurden und jetzt auf die EM 2008 hoffen.

Besprochen werden Claus Peymanns Inszenierung von Peter Handkes Stück "Spuren der Verirrten" am Berliner Ensemble, Pierre Audis Aufführung von Jacques Fromental Halevys Oper "Die Jüdin" an der Pariser Oper, eine DVD-Kollektion mit Filmen von Jean-Luc Godard, und Bücher, darunter zwei Biografien über Martin Luther sowie Silke Scheuermanns Roman "Die Stunde zwischen Hund und Wolf" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 19.02.2007

Cristina Nord wünscht sich von Dieter Kosslick für die nächste Berlinale ein wenig mehr Sperrigkeit und Mut. "Kosslicks Berlinale-Mix - ein bisschen Hollywood, ein bisschen politisches Bewusstsein, ein bisschen Weltkino und drei, vier Beiträge bewährter europäischer Autorenfilmer - reicht eben nicht, wenn 22 Filme um den Goldenen Bären konkurrieren. Er reicht schon gar nicht, wenn man sich die Festivals von Cannes oder Venedig zum Maßstab nimmt. Was etwa Marco Müller im vergangenen September auf dem Lido präsentierte, ließ so viel Wissen, Liebe und Leidenschaft in Sachen Kino erkennen, dass man in Berlin nur neidisch werden kann. Umso unverständlicher erschien die diesjährige Wettbewerbsauswahl, als in den Nebenreihen, im Forum und im Panorama, durchaus geeignete Filme vertreten waren."

Weiteres: Jochen Schmidt lässt anlässlich von Nico Raschicks Dokumentarfilm "Here We Come" über Breakdancer in der DDR alte Erinnerungen an sich und "Reinhard Beatschmidt" wieder aufleben. Im Medienteil erklärt der neue Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur, Peter Lange, gegenüber Steffen Grimberg im Interview, dass er seinen Sender erstmal zur Marke machen will. Eine Besprechung widmet sich der Bühnenfassung von Feridun Zaimoglus "Leyla" im Hans-Otto-Theater Potsdam.

Und noch Tom.

FR, 19.02.2007

Für Daniel Kothenschulte geht der Goldene Bär an "Tuyas Ehe" von Wang Quaan'an in Ordnung, schon aus Mangel an Alternativen. "Das größte Problem dieses Festivals, das den vielleicht schwächsten Jahrgang der letzten anderthalb Jahrzehnte erlebte, besteht gegenwärtig in seiner Nischenbildung. Dieter Kosslick koppelt den Wettbewerb vom künstlerischen Experiment so stark ab wie kein anderer Festivalleiter. Wer keine Zeit hatte, die anderen Sektionen zu besuchen, fuhr gestern mit leeren Händen nach Hause."

Weiteres: Der Direktor des Moma, Glenn Lowry, hat von privaten Förderern des Museums geheime Bonuszahlungen in Höhe von fünf Millionen Dollar erhalten, zitiert Sebastian Moll einen entsprechenden Bericht der New York Times. Gemeldet wird der Tod des Songschreibers Ray Evans, der unter anderem für den Text von "Que Sera" zuständig war. Das neumodische "Gerne" von Busfahrern und Kaffehaus-Bedienungen nervt Harry Nutt, wie er in einer Times mager kundtut. Auf der Medienseite referiert Tilmann P. Gangloff das Pro-Zeitungs-Plädoyer des Meinungsforschers Rüdiger Schulz.

Besprochen werden Claus Peymanns Uraufführung von Peter Handkes "Spuren der Verirrten" am Berliner Ensemble.

Welt, 19.02.2007

Hanns-Georg Rodek ist der Bilderbogen des Berlinale-Wettbewerbs etwas arg historisch-politisch-korrekt geraten: "Im Berlinale-Jahrgang 2007 hätte man beinahe jedes große zeitgeschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts illustrieren können; den Massenmord an den Armeniern ('La masseria delle allodole'), die deutsche Einverleibung der Tschechoslowakei ('Ich habe den englischen König bedient'), die KZs ('Die Fälscher'), den Zweiten Weltkrieg ('Letters from Iwo Jima'), den beginnenden Kalten Krieg ('The good German'), den sich fortsetzenden Kalten Krieg ('The Good Shepherd'), den Ungarnaufstand ('Kinder des Ruhms'), die südamerikansichen Militärdiktaturen ('Das Jahr als meine Etern in Urlaub waren'), die Apartheid ('Goodbye Bafana'), den Beginn der Aids-Pandemie ('Les Temoins'), die israelische Besetzung des Libanon ('Beaufort')... Ein History Overkill."

Außerdem interviewt Igal Avidan den Regisseur Joseph Cedar, der für seinen Film "Beaufort" den Bären für die beste Regie gewann. Thomas Schmid sah beim Mainzer Karneval neben den von früher bekannten Spießer-Ressentiments auch entspannteren Humor. Hendrik Werner empfiehlt eine neue Aristoteles-Ausgabe. Uwe Wittstock unterhält sich mit Juergen Boos, dem Direktor der Frankfruter Buchmesse, der trotz des Mords an Hrant Dink und den mangelnden türkischen Bemühungen um echte Meinungsfreieheit am Gastland Türkei für die Buchmesse 2008 festhält. Marko Martin verfolgte eine Lesung des Autoren Marcelo Figueras in Berlin. Für die Magazin-Seite porträtiert Eckhard Fuhr die Schauspielerin Nina Hoss, die für ihre Rolle in "Yella" den Silbernen Bären erhielt.

Besprochen werden ein "Tannhäuser" in Amsterdam, die Zürcher "Zauberflöte" unter Nikolaus Harnoncourt und Martin Kusej und Handkes "Spuren der Verirrten" in Claus Peymanns Inszenierunge für das Berliner Ensemble ("Man könnte auf die böse Idee kommen, irgendeine höhere Macht wollte Peter Handke für seine Verkitschung des Schlächters Milosevic büßen lassen: Zur Strafe werden seine Stücke auf ewig von Claus Peymann uraufgeführt", scheibt einicht eben begeisterter Matthias Heine) und eine Odilon-Redon-Ausstellung in Frankfurt.

Auf der Forumsseite interviewt Miriam Hollstein die Tochter des von der RAF ermordeten Bankiers Jürgen Ponto, Corinna, die kein Reuebekenntnis von den Ex-Terroristen fordert: "Ich bitte um die Gnade, keine Entschuldigungs-Formel lesen oder hören zu müssen. Um Entschuldigung bitten müssen die Täter ihre Angehörigen. Auch das Thema Reue müssen sie vor allem mit sich selbst ausmachen. Für meine Familie gilt überhaupt nur die Erwartung, Aufklärung zu bekommen. Und das wünsche ich mir auch für die Öffentlichkeit."

FAZ, 19.02.2007

Claus Peymann hat im Berliner Ensemble Peter Handkes Stück "Spur der Verirrten" uraufgeführt - oder vielleicht auch nicht, meint Gerhard Stadelmeier: "Wo Handke zaubert, da zeigefingert Peymann. Aber dann mischt sich 'Der Zuschauer' doch ein, will, dass die Schau weitergehe - worauf die Elenden, vom Bibelmythischen übers Antikmythische bis hinein ins Privathandkemythische episodisch Zusammengeklaubten sich zusammenreißen, ihr Unglück loben und nun nur noch viel schöner in die Irre gehen wollen und ein Lied singen von der lieben, guten Zeit. Ihr Unglück aber müsste genauso rätselhaft, so frivol verwunschen gewesen sein wie ihr endlich entwickeltes Glück. Lauter Seinsschwadroneure, Daseinsangeber, Existenzwindlügenbeutel: Also wäre das Stück noch zur Uraufführung frei. Denn Peymann, der Werkstückler, nimmt sie naiv und wacker alle für bare Münze."

Weitere Artikel: Nicht weniger ermüdet als der Rest der Kollegen resümiert Michael Althen den Berlinale-Wettbewerb - und fühlt sich gar an die triste Zeit unter dem Kosslick-Vorgänger Moritz de Hadeln erinnert. Munter durcheinander rührt Patrick Bahners in einem gelehrten Rosenmontagsstück den Karneval, das eine und andere Wurstende aus dem aktuellen Diskursbetrieb und vor allem manche Feinheit der katholischen Theologie. Aus Italien berichtet Dirk Schümer von Streit um das Buch eines Historikers, der den Akten der Inquisition entnehmen zu dürfen glaubt, dass das alte antisemitische Klischee vom jüdischen Ritualmord für bare Münze zu nehmen sei. Aus New York informiert Jordan Mejias, dass das Millionengehalt des Moma-Leiters Glenn D. Lowry eventuell mit unsauberen Steuertricks finanziert wird. Teresa Grenzmann meldet, dass das Münchner "Marstall"-Theater umgebaut werden soll. In der Glosse widerspricht kho. Kommentatoren nicht, die den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Roosevelt und Churchill vergleichen. Auf der Medien-Seite berichtet Joseph Oehrlein über die ab sofort jeden Tag im venezolanischen Fernsehen zu bewundernde "verbale Inkontinenz" des Präsidenten Hugo Chavez.

Auf der letzten Seite schildern all jene FAZ-Redakteure, die bei der Berlinale zugegen waren, die schönsten Momente auf der und - doch eher - abseits der Leinwand. Andreas Kilb porträtiert die Schauspielerin Nina Hoss, die für ihre Hauptrolle in Christian Petzolds "Yella" einen Silbernen Bären erhielt. Beate Tröger stellt amillionpenguins, das Internet-Kollektivroman-Projekt des Penguin-Verlags vor.

Besprochen werden eine Zürcher "Zauberflöte" von Martin Kusej und Nicolaus Harnoncourt, ein Konzert der Band Kasabian in München, ein Konzert des Alban Berg Quartetts mit Haydn, Beethoven und Rihm in Frankfurt und Bücher, darunter Ulrike Edschmids Familienroman "Die Liebhaber meiner Mutter" und Sachbücher (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).