Heute in den Feuilletons

Repetitive Muster von Tönen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2008. Die FR betrachtet das schwierige und spannungsreiche Verhältnis der Österreicher zur Schweiz und umgekehrt. Im Tagesspiegel erklärt Oliver Sacks einem Außerirdischen, was Musik ist. In der SZ sagt die Sicherheitsexpertin Karen J. Greenberg, was sie vom nächsten Präsidenten der USA erwartet: dass er die Folter abschafft. Und die taz porträtiert Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime als extrem Linke, die von der Rechten goutiert wird, weil sie den Islam kritisiert.

FR, 30.05.2008

"Wenn zwei Kleinstaaten sich aneinander messen, hat das selten geistige Substanz", sagt der Wiener Essayist und Autor Franz Schuh zum nicht ganz spannungsfreien Verhältnis der Schweizer und Österreicher, denen sich die FR heute - eine Woche vor Beginn der Fußball-EM in beiden Ländern - verschrieben hat: "Meiner Meinung nach gibt es so etwas wie eine kleine Differenz und es gibt auch den Narzissmus der kleinen Differenz. Das heißt, man hasst einander, wenn man einander hasst - siehe die Schweizer Österreich-Witze -, weil man einander so ähnlich ist. Die österreichischen Alpen-Deppen in den Schweizer Witzen kommen ja nur deshalb vor,weil sie eine grenzüberschreitende Projektion des eigenen Schweizer Stumpfsinns sind... Genauso ist der nachgeahmte Schweizer Akzent eine besondere Qualität der in sich ruhenden Dumpfheit auf manchen österreichischen Bühnen. Aber für mich ist die wichtigste Frage an die Schweiz: Wie kann man denn leben in den Alpen und trotzdem so reich werden?"

Arno Widmann erinnert daran, dass in den Achtzigern die deutsche Medienavantgarde aus Österreich kam -Zeitgeist-Journalismus und Privatfernsehen: "Sicher ist, ihren derzeitigen Zustand verdankt die Republik mehr Helmut Thoma, dem Importeur von Tutti Frutti, als Rudi Dutschke." Der Aargauer Autor Martin R. Dean erkennt in den Deutschen die bedrohlichsten Einwanderer in der Schweiz (die auch dafür zuständig sein werden, randalierende Hooligans in Schach zu vermöbeln, falls die Schweizer Polizisten mit der Deeskalation nicht weiterkommen). Außerdem lässt die FR im Zwei-Länder-Turnier Thomas Bernhard gegen Max Frisch, Falco gegen Yello und Stefan Ruzowitzky gegen Mac Forster antreten.

Außerdem: Jörg Plath berichtet von der neuesten Runde in Bernd F. Lunkewitz' Kauf-Kampf um den Aufbau-Verlag. Besprochen werden die Terence-Koh-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, Andrea Moses Doppelinszenierung "Zaide / Adama" von Mozart und Chaya Czernowin in Bremen, die Ausstellung "Heterotopia" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Paul Wellers neues Album "22 Dreams" (für Thomas Winkler sein "bestes seit langem"), Fredrik Sjöbergs Insekten- und Lebensberichte "Die Fliegenfalle" und Serge Paugams Studie "Die elementaren Formen der Armut".

Welt, 30.05.2008

Der Bochumer Theaterintendant Elmar Goerden wird seinen Vertrag nicht verlängern. Schade, aber dann auch wieder nicht, meint Matthias Heine. "Das Versprechen, die neue Andrea Breth zu werden, hat der Dieter-Dorn-Zögling ... nie erfüllt. Die Treue zum Autor und zum Text erschien bei ihm doch allzu oft wie eine Ausrede für eigene Gedankenlosigkeit und Talentarmut."

Im Interview erklärt der Archäologe Luca Giuliani im Interview, warum die Büste, die in Arles gefunden wurde, auf keinen Fall Cäsar darstellt: "vom ganzen Habitus, von der Mimik, von der Gestaltung der Haare her gehört er in die augusteische Zeit." Am 10. Juni soll ein Manuskript von Joanne K. Rowling mit der Vorgeschichte zur Harry-Potter-Saga versteigert werden, berichtet Florian Stark. In Hollywood werden die Schauspieler nun doch nicht streiken, meldet Hanns-Georg Rodek. Dankwart Guratzsch resümiert die Debatte über die Leipziger Paulinerkirche. Guido Graf schreibt über das Literaturfestival "Prosanova". Rowohlt Verleger Alexander Fest will nichts davon wissen, dass der Verlag Ernst Rowohlt zu unkritisch gezeichnet habe. Thomas Vitzhum schreibt zum 80. Geburtstag des Musikers Gustav Leonhardt. Gerhard Midding schreibt zum 80. Geburtstag der Filmregisseurin Agnes Varda.

TAZ, 30.05.2008

Ist Mina Ahadi, die Gründerin des Zentralrats der Ex-Muslime, in Wirklichkeit eine Linksextreme, die die Kritik am Islam als bloßes Vehikel benutzt? Daniel Bax porträtiert sie als Anhängerin der "Arbeiterkommunistischen Partei des Iran", die Bahman Nirumand im Gespräch mit Bax als Sektierer beschreibt: "Erst mit dem Zentralrat der Ex-Muslime hat Mina Ahadi endlich das erwünschte Echo gefunden. Konservative Blätter wie die Welt, der Focus oder die FAZ hofieren sie nun als Kronzeugin gegen eine 'Islamisierung' des Westens und sehen dafür gnädig über ihren Betonkommunismus hinweg."

Im Kulturteil sieht Marion Löhndorf Wolf Kleins Arbeiten mit Papierblumen in der Bundeskunsthalle als ideale Ergänzung zur Konferenz über Artenvielfalt. Besprochen werden das Doppelalbum "England Story", auf dem die Geschichte der anglo-karibischen DJ-Musik der vergangenen 25 Jahre in Großbritannien nachgezeichnet wird, das Album "Narrow Stairs" von Death Cab For Cutie und die als "Selbstbedienungsladen" konzipierte Doppel-CD des Berliner Rappers Sido "Ich und meine Maske".

Und Tom.

Tagesspiegel, 30.05.2008

Sacha Verna unterhält sich mit dem Neurologen und Autor Oliver Sacks über sein Buch "Der einarmige Pianist - Über Musik und das Gehirn". Auf die Frage, wie er einem Außerirdischen Musik erklären würde, antwortet er: "Man müsste wohl erklären, dass Menschen dazu fähig sind, komplexe repetitive Muster von Tönen, Geräuschen und Frequenzen sowohl zu kreieren als auch zu genießen. Aber ob die Außerirdischen das verstehen würden? Amusie existiert ja auch unter Menschen. Im Buch beschreibe ich einige Leute, die Musik nur als Lärm wahrnehmen."

NZZ, 30.05.2008

Stephan Russ-Mohl stellt auf der Medienseite eine Studie zu journalistischen Kulturen vor, nach der vor allem Bulgarien, Rumänien und Uganda für Abwechslung sorgen (mehr hier): "So halten es - mit Ausnahme Bulgariens - in allen Ländern mehr als zwei Drittel der befragten Journalisten für 'sehr' oder 'extrem' wichtig, unvoreingenommen zu berichten. Rund 60 Prozent der Journalisten bekennen sich ausserdem in den meisten Ländern zur 'Wachhund'-Rolle. In fünf Ländern sind es sogar über 80 Prozent, die gegenüber ihren Regierungen Kontrollfunktionen wahrnehmen wollen. Lediglich in Rumänien betrachten dies weniger als die Hälfte der Journalisten als ihre Aufgabe."

Thomas Schuler berichtet, dass Rupert Murdoch nach etlichen gescheiterten Versuchen mit dem Kauf von Premiere erneut den Einstieg in den deutschen Medienmarkt versucht. Heribert Seifert blickt angewidert-fasziniert auf die Denunzianten-Homepage Rotten Neighbor.

Im Feuilleton: Klaus Bartels erklärt die Sinn- und Sachverwandschaft des Fans mit dem Fanatiker. Barbara Villiger Heilig hat mit der Aufführung von "A Clockwork Orange" nach Anthony Burgess im Schauspielhaus Zürich eine "Inszenierung von schillernder Ironie" gesehen. Joachim Güntner erinnert an die Sprengung der Leipziger Paulinerkirche vor genau 40 Jahren und findet im damaligen Protest Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und West-Achtundsechzigern. Samuel Herzog entdeckt auf der fünften Moscow World Fine Art Fair (MWFAF) neben "Gruften des guten Geschmacks" auch ästhetisch ansprechende Stände, vor allem aus Frankreich und Japan. Martina Wohlthat war beim Ballettabend "Tanz4" in Bern. Und in die Inszenierung von Leo Janaceks Liederzyklus "Tagebuch eines Verschollenen" im Luzerner Theater ist Jörg Huber sogar "verliebt".

Auf der Pop und Jazz-Seite porträtiert Hanspeter Künzler die durch ihre Zusammenarbeit mit Tricky bekannte Sängerin Martina Topley Bird und deren Album "The Blue God". Markus Ganz bescheinigt Santogolds selbstbetiteltem Debütalbum unter anderem "reizvolle Nonchalance". Und Jonathan Fischer lässt sich von der "rauchig-sehnsuchtsvollen Stimme" der Latin-Soul-Sängerin Ersi Arvizu betören.

FAZ, 30.05.2008

Jochen Hieber nimmt einen schrecklichen Autounfall mit vier toten Jugendlichen im Hessischen zum Anlass, das alles, die Unfälle auf dem Lande, ihre Psychodynamik und so weiter, mal grundsätzlich zu erklären: "Dabei spielt in Sachen Auto die soziale Herkunft keine große Rolle - am oft schon sehr gebrauchten Erstwagen basteln, schrauben, schweißen und polieren Gymnasiasten und Fabrikantenzöglinge ebenso herum wie Mechanikerlehrlinge und Arbeitslose. Ziel ist stets, 'die Kiste' schöner und schneller zu machen und sie dann in Gemeinschaftsfahrten, bei denen das Anschnallen meist als Weichei-Ausweis gilt oder wegen Überladung erst gar nicht möglich ist, den 'Kumpels', vor allem aber den 'Mädels' vorzuführen."

Weitere Artikel: In Sachen Bayreuth meldet sich heute Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt, bündig zu Wort: "Bitte keine falsch verstandene Nibelungentreue." Karen Krüger informiert über das in der Türkei wegen "Entfremdung des Volkes vom Militärdienst" gegen die Sängerin Bülent Ersoy eröffnete Strafverfahren (hier ein Auftritt). In der Glosse klagt Kerstin Holm über die Unverfrorenheit, mit der russischen Gerichte den Massenmord von Katyn als "allenfalls individuelle Straftaten einzelner Amtspersonen" deklarieren und sich weigern, den Staat in historische Verantwortung zu nehmen. Claus Lochbihler hat sich mit Kyle Eastwood unterhalten, der Jazzmusiker ist und auch Sohn eines berühmten Vaters. Vom Leipziger Streit um die Ausstellung alter Kunstwerke aus der vor vierzig Jahren gesprengten Leipziger Paulinen-Kirche berichtet Andreas Platthaus. Gina Thomas informiert darüber, dass des Heldentods von Lord Horatio Nelson bislang doch glatt sieben Meter sechzig zu weit links gedacht wurde. Michael Althen gratuliert der Filmregisseurin Agnes Varda, Gerhard R. Koch dem originalklangbewegten Cembalisten Gustav Leonhardt zum Achtzigsten. Außerdem wird auch Verena Lueken noch einen Glückwunsch an Dieter Kosslick, den Berlinale-Chef, zu dessen Sechzigstem los. Auf der Medienseite kann Heike Hupertz Dominik Grafs Fernsehfilm "Das Gelübde" über Clemens Brentano und die stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick nur dringend zur Ansicht empfehlen (heute Abend, arte, 21 Uhr).

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken der Malerfamilie Dirck, Jan, Joseph und Salomon de Bray in Haarlem, David Böschs Züricher "Clockwork Orange"-Inszenierung, der "Sex and the City"-Film, und Bücher, darunter Karen Duves Roman "Taxi" und - mit viel Empörung - ein Tagungsband, in dem alte Stasi-Kämpen reichlich "Desinformation" verbreiten (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 30.05.2008

Es wird für den nächsten Präsidenten der USA kein Problem sein, die unter Bush geduldete und sogar befürwortete Folter abzuschaffen, sagt die Sicherheitsexpertin Karen J. Greenberg im Gespräch mit Andrian Kreye. Er (oder sie) muss es nur wollen: "Das ist ganz einfach. Der nächste Präsident muss einfach Führungsqualitäten beweisen. In den letzten Jahren gab es überhaupt keine Führung. Da gab es nur hier einen Vorstoß und da einen und vor allem viel Hinterzimmerpolitik. Um Folter zu beenden, muss der nächste Präsident gar nichts tun, er muss auch kein Gesetz erlassen. Er muss es nur aussprechen: Folter ist illegal. Gemäß der amerikanischen Verfassung, gemäß des Militärrechts, gemäß des Völkerrechts." Tobias Kniebe bespricht Errol Morris' Dokumentarfilm "Standard Operating Procedure", der die Folter in Abu Ghraib thematisiert.

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld lobt die unter Minister Steinmeier wieder wesentlich großzügigere auswärtige Kulturpolitik Deutschlands und begrüßt den Plan, die Zahl der deutschen Auslandsschulen drastisch zu erhöhen. Christopher Schmidt meldet, dass Intendant Elmar Goerden das Bochumer Schauspielhaus verlässt. In einer kurzen Notiz wird gefragt, ob der Aufbau-Verlag vor der Pleite steht. Susan Vahabzadeh gratuliert der Filmemacherin Agnes Varda zum Achtzigsten. Bernd Graff beschreibt, wie das jüngste Video der Band Weezer die Youtube-Ästhetik aufgreift und ironisiert. Johan Schloemann gratuliert der Historischen Kommission in München zum Hundertundfünfzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Kraftprobe" im Münchner Haus der Kunst, welche 200 Jahre Kunstakademie München feiert, und Bücher, darunter Carolin Emckes Essay über die RAF "Stumme Gewalt" und Irene Nemirovskys Roman "Die Hunde und die Wölfe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).