Heute in den Feuilletons

Aber was ist mit felicitas?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2008. Auf welt.de erzählt Corinna Ponto, wie sie die Ermordung ihres Vaters in der "Beckmann"-Talkshow erlebte. Und Stephan Krawczyk schreibt über das Nachleben der DDR. Für die NZZ ist Volker Perthes nach Tschetschenien gereist. In der FAZ reagiert Gerhard Schulze auf Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte: Gleiche Chancen für alle bedeuten noch nicht Glück.

Welt, 08.10.2008

Auf der Forumsseite denkt Stephan Krawczyk über die DDR und ihr Nachleben nach, darin diese Passage: "Niemand kann die Qualen jener ermessen, die Jahre in Einzelhaft verbringen mussten, in Kellern, drei mal drei Schritte. Ihnen hat die Herrschaft in der DDR den Alltag zur Allnacht gemacht - die im anderen Alltag bis heute fortwirkt. Ein Mann aus Sachsen, acht Jahre Einzelhaft, hat im Keller seines Wohnhauses ein Museum in der Abmessung seiner Bautzener Gruft errichtet. Er sitzt darin und wartet auf Besucher."

Heute eröffnet in Berlin die Popkomm. Michael Pilz zeichnet unter Hinweis auf Musikerinitiativen wie die Featured Artists Coalition, eine ebenso gierige wie hilflose Musikindustrie und den Rechtstheoretiker Lawrence Lessig Debatten ums Urheberrecht nach: "Die Musik, das geistige Eigentum, gerät zwischen die Fronten. Auf der einen Seite eine digitale, jegliche Kontrolle fürchtende Öffentlichkeit. Ihr gegenüber hat sich eine Wirtschaftsmacht verschanzt, die ihre Einflüsse politisch und juristisch geltend macht. Dazwischen dürfte die Musik demnächst zerrieben werden."

Weitere Artikel: Sven Felix Kellerhoff liest eine neue Studie über den von Stalin ermordeten Berliner Antikommunisten Walter Linse, nach dem die die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen einen Preis benennen wollte, bis seine Vergangenheit in der Nazi-Zeit zur Debatte gestellt wurde. Kellerhoff weist auch auf eine Dokumentation über den Adenauer-Atlatus Globke heute Abend auf Arte hin. Matthias Heine beklagt die Ignoranz des Augsburger Kulturpolitik, die dem renommierten Festival "Augsburg-Brecht-Connected" ein Ende bereitet. In der Serie über den 50. Geburtstag der Nasa erzählt Ulli Kulke, "wie sich Filme und Comics in den Anfangsjahren der Nasa das Jahr 2000 vorstellten". Eine Reihe von Welt-Redakteuren gibt bekannt, welche Autoren ihrer Meinung nach den Literaturnobelpreis bekommen sollten (die heimliche Favoritin Inger Christensen ist nicht darunter).

Ignes Ponto, Witwe von Jürgen Ponto, gibt aus Protest gegen Bernd Eichingers RAF-Film ihr Bundesverdienstkreuz zurück. Bettina Röhl interviewt auf Welt Online die Tochter Pontos, Corinna Ponto, die auch kritisiert, wie die Szene der Ermordung ihres Vaters in der "Beckmann"-Talkshow gezeigt wurde: "Genauso wie im Film, in dem mein Vater nur zu dem Zweck ermordet wird, damit die Täter durch ihre Tat präsentiert werden können, wurde in dieser Talkshow verfahren. Die Filmszene wurde in voller Länge nur deshalb gezeigt, um eine Schauspielerin zu fragen, wie sie sich fühlt die Mörderin zu spielen. Und keiner fragte, wie sich die Familie fühlt, die die Ermordung ihres Mannes und Vaters auf diese Weise das erste Mal im Fernsehen zu sehen bekommt, mit dem Wissen, dass Millionen andere Menschen diese Szene gleichzeitig sehen. Das war wirklich entsetzlich."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Antisemistismus in München im dortigen Jüdischen Museum und die Verfilmung von Otfried Preußers Kinderbuch "Krabat".

Die Magazinseite widmen sich in zwei Artikeln (hier und hier) der Frage, ob Papst Pius XII. selig gesprochen werden soll.

FR, 08.10.2008

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie huldigt in einer Erzählung ihrem alt gewordenen Vater: "Manchmal versuche ich mich zu erinnern, wann genau ich ihm gegenüber Dankbarkeit zu empfinden begann und mir klar wurde, dass seine bloße Gegenwart mich mit großer Freude erfüllen kann. Vielleicht als ich alt genug war, ihn als einen witzigen, netten und sanftmütigen Mann zu sehen und nicht als die stoische Silhouette am Schreibtisch, der wir die Liste der benötigten Schulutensilien übergaben. Er hob all diese Listen auf. Er hat einen Aktenschrank voll mit den Schulzeugnissen seiner sechs Kinder, Personalakten der Hausangestellten, die wir über die Jahre gehabt haben, und Haushaltsbüchern. Jetzt schreibt er Dinge auf und verlegt den Notizzettel."

Die Bundesregierung möchte weitere 1.000 deutsche Soldaten nach Afghanistan schicken. Wozu, fragt Arno Widmann, der Krieg gegen den Terror in Afghanistan - und Pakistan und Usbekistan - sei eh verloren. "Wir sollen Soldaten in einen Krieg schicken, der von denen, die ihn begannen, längst nicht mehr wirklich geführt wird, junge Männer und Frauen sollen verheizt werden, weil kein deutscher Außenminister, keine deutsche Kanzlerin sich hinstellen möchte vor den US-Präsidenten und sagen: Jetzt ist auch - Sie wissen das besser als ich - Afghanistan vergeigt."

Weiteres: Johannes Schneider bedauert in einer Times Mager, dass das Leben trotz Absurditäten stinknormal bleibt. Besprochen wird eine Schau antiker Skulpturen, "Bunte Götter", im Liebighaus Frankfurt und ein russischer Liederabend mit dem Bariton Dmitri Hvorostovsky und dem Pianisten Jewgenij Kissin in der Alten Oper Frankfurt.

NZZ, 08.10.2008

Der Politikwissenschaftler Volker Perthes berichtet von einer Reise nach Tschetschenien, das Moskau in seinem Sinne und mit Hilfe des ihm ergebenen Warlords Ramsan Kadyrow stabilisiert hat: "Überall wird mit Geld aus der Moskauer Zentrale in Tschetschenien gebaut. Moskau sei großzügig, sagt Ramsan Kadyrow, der heutige Präsident der zur Russischen Föderation gehörenden Republik im nördlichen Kaukasus, im Gespräch. Budgetprobleme habe man nicht. Tatsächlich findet der Wiederaufbau auch nicht nur nach dem Muster des Fürsten Potemkin statt, vielmehr werden Wohnblocks und Verwaltungsgebäude wiederhergestellt oder neu gebaut. Auffällig ist zudem eine neue, schmucke Kasernenanlage. Sicherheit hat hohe Priorität. Die Sondertruppen des russischen Innenministeriums, die hier vor allem Tschetschenen aus Ramsan Kadyrows eigener Truppe rekrutieren, sind allgegenwärtig."

Weiteres: Christoph Jahr resümiert den Deutschen Historikertag in Dresden. Besprochen werden eine Werkretrospektive des Westschweizer Architekten Jean Tschumi in Lausanne, Martin Kusejs Inszenierung des "Macbeth" im Münchner Nationaltheater und Bücher, darunter Karl Schlögels Buch über das Moskau im Jahr 1937: Terror und Traum und Marion Poschmanns Erzählung "Hundenovelle" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 08.10.2008

"Literaturkritiker sind böse Leute", stellt Jan Süselbeck nach der Lektüre von Alice Schmidts "Tagebuch aus dem Jahr 1955" über Alltag und Arbeitsbedingungen ihres Mannes Arno Schmidt fest. "Da sitzen die Schriftsteller zu Hause und rackern sich ab, um ein Werk zu erschaffen. Und dann gehen diese blasierten Nichtskönner hin und schreiben ahnungslose Verrisse! So ungefähr lautet der uralte Vorwurf, den gerade auch kritisierte Autoren gerne erheben. Das war in der frühen Nachkriegszeit auch schon so."

Außerdem: Für die "Schriften zu Zeitschriften" wirft Robert Misik einen Blick in das Wiener Literaturmagazin Wespennest und in die Berliner Texte zur Kunst. Besprochen werden die Ausstellung "The Revolution Continues: New Art from China", mit der Charles Saatchi seine neue Galerie im schicken Londoner Stadtteil Chelsea eröffnet.

Und hier Tom.

FAZ, 08.10.2008

Der Soziologe Gerhard Schulze beklagt, dass Hans-Ulrich Wehler in seiner Gesellschaftsgeschichte nur die materielle Gleichheit im Blick hat. Gleiche Chancen für alle bedeuten aber noch nicht Glück. "Man lese Bernd Siggelkows vieldiskutiertes Buch 'Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist'. Mit mehr Gleichheit im objektiven Sinn kann man der hier dokumentierten Entleerung des Lebens nicht beikommen, die Gleichheit ist ja da. Fortuna (Möglichkeiten) gibt es bis zum Abwinken, aber was ist mit felicitas? Wie kann man Menschen für diesen voraussetzungsvollen Aspekt des Glücks öffnen? Dies letztlich als Geldproblem anzusehen ist ein aus dem neunzehnten Jahrhundert überkommener Denkfehler. Korrigieren lässt er sich nur, wenn wir neuen Zeiten mit neuen gedanklichen Mitteln begegnen."

Weitere Artikel: Nach dem Ende der Abenteuergeschichte Neoliberalismus sucht Nils Minkmar eine neue Geschichte. Manfred Lindinger stellt die Nobelpreisträger für Physik vor. In der Glosse räsonniert Jürgen Kaube über aussterbende Arten in der Evolution und der Ökonomie. Kerstin Holm berichtet vom "Moskow Forum" für Neue Musik. "Gemischte Gefühle" beschleichen Dieter Bartetzko auch beim verbesserten Plan für den Umbau des Historischen Museums in Frankfurt. Nachgekartet wird noch einmal in der Angelegenheit des vermeintlichen Selbstbildnisses des Malers Robert Campin im Ringstein der von ihm Porträtierten: Der Jenaer Kunsthistoriker Dieter Blume will nicht ausschließen, dass man tatsächlich ein Bild im Ring sieht, glaubt aber, dass das dann des Barts wegen einzig Christus sein kann. Der China-Kulturkorrespondent Mark Siemons stellt "sein Peking" vor. Über die Reaktionen auf die (jetzt wohl doch vorläufige) Nicht-Vertragsverlängerung für den Weimarer Generalintendanten Stephan Märki informiert Irene Bazinger. Christina Hucklenbroich porträtiert den Molekulargenetiker Klaus Rajewsky, der den Ernst Schering Preis erhält. Knapp wird gemeldet, dass die Haupstraße der tschetschenischen Hauptstadt Grosnij ab sofort "Putin-Prospekt" heißt. Kurze Nachrufe gibt es auf die Tänzerin britische Tänzerin Nadia Nerina und den finnischen Autor Paavo Haavikko.

Besprochen werden "Lornas Schweigen", der neue Film der Brüder Dardenne, und Bücher, darunter Margit Stamms Studie über "Die Psychologie des Schuleschwänzens" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.10.2008

Einen faszinierenden Abend hatte Jörg Königsdorf bei der Uraufführung von Maria de Alvears Oper "Colourful Penis" in Hellerau: "Einen einzigen Lebensmoment hat die 48-jährige Spanierin, die auch das Libretto schrieb, zum Gegenstand ihres Stücks gemacht: Ein Soldat ist im Begriff, eine Bärin zu erlegen. Doch bevor er abdrückt, schießen die verschiedensten Gedanken und Zweifel durch den Kopf. Die Bärin wird unversehens zur Frau, von allen Seiten tanzen skurrile Wesen herbei wie Phantasien aus den Verliesen des Unbewussten, verknäulen und vermengen sich zu sinnlich aggressiven oder auch symbolschweren Konstellationen von flüchtiger Konsistenz. (...) Wie ein seismographischer Apparat zeichnen die Musiker des Berliner Ensembles KlangArt die Impulse auf, die durch das Hirn des Soldaten jagen, schichten minimalistische Patterns von Klavier, tiefen Solostreichern oder Xylophon übereinander, aus denen hin und wieder verfremdende Cluster wie plötzliche Kurvenausschläge herauszucken."

Weitere Artikel: Alex Rühle, ganz skeptischer Analoger, begutachtet das Kindle. Nicht überzeugt ist Matthias Lüdecke von Bemühungen amerikanischer Verlage und Autoren, junge Menschen mit Hilfe von Videospielen ans Lesen heranzuführen, wie er in der New York Times gelesen hat. Christiane Schlötzer berichtet von einem neu erwachten Interessen an der Türkei als Zuwandererland im letzten Jahrhundert für deutsche Emigranten. "Übereilt" findet Christopher Schmidt die Entscheidung, Friedrich Schirmers Vertrag als Intendant des Hamburger Schauspielhauses bis 2015 zu verlängern. Lutz Lichtenberg informiert über das Phänomen der "Truthiness" in der amerikanischen Politik und den amerikanischen Medien: Truthiness - in Deutschland vollkommen unbekannt - bezeichnet "eine Weltanschauung, die nur die 'Fakten' zulässt, von denen man sich wünscht, sie wären wahr" oder wie Stephen Colbert erklärt: "I don't trust books, they are all facts, no heart."

Auf der Medienseite beschreibt Michael Frank den Einfluss der österreichischen Kronen-Zeitung. Online sagt der amerikanische Journalismusprofessor und Unternehmer Jeff Jarvis den Zeitungen in kürzester Zeit das Ende voraus, wenn sie nicht endlich den Arsch hochkriegen und ihre digitale Zukunft planen. Auf der Wissenseite äußert Julia Gross erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von Googles Wikipedia-Konkurrenz Knol. Und eine Meldung informiert uns, dass Ignes Ponto, die Witwe des von der RAF ermordeten Bankiers Erich Ponto ihr Bundesverdienstkreuz zurückgibt - aus Protest gegen Eichingers Film "Der Baader-Meinhof-Komplex".

Besprochen werden der neue Film der Brüder Dardenne "Le Silence de Lorna - Lornas Schweigen", die vor allem mit zeitgenössischer chinesischer Kunst bestückte Ausstellung "The Revolution Continues" in den neuen Schauräumen von Charles Saatchi ("Ein Publikumsmagnet wird zweifellos eine Installation im Keller sein, in der Statuen greiser Politiker und Militärs in elektrischen Rollstühlen unablässig um- ineinanderfahren", meint Alexander Menden, dem auch die neuen Räumlichkeiten gut gefallen), Stefan Puchers Inszenierung von Aischylos' "Persern" am Schauspiel Zürich, eine Ausstellung der Gemälde Giovanni Bellinis in der Scuderie del Quirinale in Rom, die eine Reise allemal wert ist, wie Kia Vahland versichert, einige CDs und Bücher, darunter eine Geschichte der atlantischen Sklaverei (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).