Heute in den Feuilletons

Und die Deutschen wenden sich gähnend ab

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2008. Die NZZ stellt bei der chinesischen Diskussion über den Milchskandal eine neue Offenheit fest. In der Zeit fordert Slavoj Zizek angesichts der Finanzkrise unser aller kalte Entschlossenheit. Die Berliner Zeitung notiert, dass Bernd Eichingers RAF-Film an den Kinokassen zu floppen scheint: Der Entmythologisierungs-Mythos verpufft.

NZZ, 09.10.2008

Die chinesische Übersetzerin Wei Zhang beschreibt, wie sich im Zuge des Milchpulverskandals Ansätze eines neuen politischen Bewusstseins der Bevölkerung in China herausbilden: "Auch eine gewisse neuartige Offenheit der Presse lässt sich beobachten. In früheren Fällen wurde ein Missstand erst publik, wenn seine Folgen nicht mehr unter Verschluss zu halten waren. Denn mit zu dünnem Papier vermag man das Feuer nicht einzudämmen, lautet ein chinesisches Sprichwort. Beendet wurden Skandale jeweils damit, dass ein Sündenbock gefunden und geopfert wurde. Darauf folgte ein abschließendes Machtwort aus dem Zentralkomitee, womit die Angelegenheit offiziell als erledigt galt."

Franz Haas stellt die komplizierte Gemengelage dar, in die Spike Lee mit seinem Film "Das Wunder an St- Anna" hineingestoßen ist: Im Film geht es um die Würdigung schwarzer Soldaten im Zweiten Weltkrieg, leichtfertigerweise hat Lee den italienischen Partisanen einen Verräter untergeschoben, der ein SS-Massaker an 560 Zivilisten erst ermöglicht. Einen solchen Verräter hat es nie gegeben, die Partisanenverbände laufen Sturm: "Tatsächlich schwelt in Italien seit Jahren eine Debatte, die gerade in den letzten Wochen durch die markigen Sprüche von rechten Politikern wieder aufgeflammt ist. So hatte vor einem Monat der postfaschistische Verteidigungsminister Ignazio La Russa erklärt, man müsse auch die Ehre der 'Patrioten' hochhalten, der 'guten Jungs der Repubblica di Salo', Mussolinis fanatischen letzten Aufgebots im Kampf gegen die 'alliierten Invasoren und die roten Partisanen'."

Besprochen werden Bücher, darunter Frank Westermans Buch über den Mythos "Ararat", Yasar Kemals Roman "Die Hähne des Morgengrauens".

Die Filmseite widmet sich Isabel Coixets Adaption von Philip Roths Roman "Das sterbende Tier" und Andreas Dresens Liebesdrama "Wolke 9".

Berliner Zeitung, 09.10.2008

Nicht ganz unzufrieden notiert Boris Herrmann die Meldung, dass Bernd Eichingers RAF-Film trotz williger Kollaboration von Eichingers Kumpeln in den Medien an den Kassen ein relativer Flop zu sein scheint: "Und so ist es seltsam ruhig geworden um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und all die anderen Lederjackenhelden. Sie schießen, feiern und schimpfen wie nie, und die Deutschen wenden sich gähnend ab. Die Streitgespräche sind verstummt, der Entmythologisierungs-Mythos ist verpufft." Soll man es den Deutschen verdenken, dass sie "Wall E" lieber mögen als Andreas Baader?

Welt, 09.10.2008

Uwe Wittstock hat im Frankfurter Liebieghaus die Ausstellung "Bunte Götter" gesehen, in der antike Skulpturen so farbig gezeigt werden, wie sie höchst wahrscheinlich waren, und kommt zu dem Ergebnis: "Auch wenn es die Anhänger einer in reinem Weiß gehaltenen Vorstellung vom alten Griechenland in edler Einfalt und stiller Größe schmerzt: Die Frage, ob die antiken Plastiken bemalt waren, stellt sich heute nicht mehr. Wissenschaftlich debattiert wird nur noch über die Frage, wie die Farbgebung im Detail aussah."

Weitere Artikel: Matthias Kamann wundert sich, dass das gerade noch als so zukunftsfest gepriesene Island pleite sein soll. Sven Felix Kellerhoff kommentiert den endgültigen Übergang des Deutschen Historischen Museums in Bundeshand. Hendrik Werner empfiehlt einige Krimis aus der Türkei und hier besonders Oya Baydars "Verlorene Worte". Gerhard Besier liest Hanspeter Oschwalds Buch "Pius XII. - Der letzte Stellvertreter".

Besprochen werden neue Filme, darunter D.L. Carusos Verschwörungsthriller "Eagle Eye" (mehr hier) und "Lornas Schweigen" (mehr hier) der belgischen Miserabilisten Jean-Pierre und Luc Dardenne, außerdem eine Ausstellung mit Fotos Liselotte Strelows in Bonn.

Im Forumsessay besteht Christoph Keese trotz mancher Abgesänge auf den Kapitalismus und auf der Lernfähigkeit der offenen Gesellschaft.

TAZ, 09.10.2008

"In Geiselhaft" halte Stefan Aust die RAF-Geschichte , seit er vor 23 Jahren darüber seinen Bestseller geschrieben habe, findet Oliver Gehrs auf der Meinungsseite. Irgendwie unterkomplex findet Gehrs die Desperado-Sicht auf die RAF: "Zum Heulen ist eigentlich nur, dass sich Aust, Eichinger und Edel nicht ansatzweise bemüht haben, auch neuere Erkenntnisse zur RAF zu verarbeiten. Erkenntnisse, die ironischerweise Aust selbst zu verdanken sind. Da wären neben den Tonbändern mit dem echten Baader auch noch die Abhörmaßnahmen in Stuttgart-Stammheim, die den Tod der Terroristen in einem anderen Licht erscheinen lassen - als staatlich geduldeten Selbstmord nämlich."

Im Kulturteil schwärmt Arno Raffeiner von Volker Bertelmann, der unter dem Namen Hauschka "schön und licht und zum Verlieben" Klavier spielt und jetzt sein viertes Album "Ferndorf" veröffentlicht hat. Brigitte Werneburg berichtet über das Festival Printemps de Septembre, auf dem in Toulouse trotz "widriger Bedingungen" mit Ausstellungen, Konzerten und Live-Acts ein aktuelles Bild der zeitgenössischen Kunst vermittelt wird. Jan Feddersen resümiert die Buchvorstellung des niederländischen Sozialdemokraten Paul Scheffer, der in "Die Eingewanderten" die Auffassung vertritt, der Prozess der politischen Assimilation, also des Respekts vor einem liberalen Staat, müsse erstritten werden und Migranten aus der Perspektive von "Autochthonen" zu betrachten, die eben eine andere Kultur hätten, sei "echter Rassismus und nicht die Liebe zum Anderen". Knut Henkel gratuliert Bebo Valdes, einem der Väter des Cuban Jazz, zum 90.

Besprochen werden "Lornas Schweigen", der neue Film der Brüder Dardenne, und die DVD von Olivier Assayas' Spielfilm "Boarding Gate" .

Hier Tom.

FR, 09.10.2008

Abgedruckt wird eine Erzählung des türkischen Erfolgs-Autors Murathan Mungan über eine Zugreise durch die Türkei seiner Kindheit. Sie beginnt so: "Ich erinnere mich an einen Zug. Einen langen schwarzen Zug. Fast alle Bahnhöfe und Stationsgebäude in Anatolien sehen gleich aus. Die ursprünglich cremefarbenen, dann durch Ruß und Rauch geschwärzten Wände, die nicht sauber zu kriegenden Fensterscheiben, die Holzbänke mit der abgesplitterten Farbe, die Koffer und Bündel, die noch trostloser herumstehen als ihre Besitzer, alles weckt ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Ganz grundlos sinkt einem der Mut. Am Bahnhof von Diyarbakir werden meine Mutter, mein mit Handschellen gefesselter Vater und ich von zwei bajonettbewehrten Soldaten und einem Unteroffizier in einen Zug geschafft."

Weiteres: Was Evolution mit Seehofer zu tun haben könnte, fragt Christian Thomas in einer Times Mager. Besprochen werden die Peter Doig-Retrospektive in der Frankfurter Schirn, der Film "Lornas Schweigen" von Jean-Pierre und Luc Dardenne, Marco Kreuzpainters Adaption von Otfried Preußlers Roman "Krabat", der "ziemlich konfuse" Thriller "Eagle Eye - Außer Kontrolle" von D.J. Caruso und Kerstin Ekmans Liebeserklärung "Der Wald" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 09.10.2008

Nicht gerade mit Ruhm bekleckert habe sich in der Finanzkrise bisher Bundespräsident Horst Köhler, befindet Stefan Dietrich und schließt mit einem ganz tollen Ratschlag: "Eine zweite Amtszeit müsste Horst Köhler sich damit verdienen, dass er die Politikerrolle abstreift und zum Finanzberater der Republik wird." Reiner Hermann war im Istanbuler Stadtteil Kasimpasa unterwegs, aus dem auch Tayyip Erdogan stammt. Jürg Altwegg meldet, dass die französische Rock-Ikone Johnny Hallyday (site officiel) nach einer Abschiedstournee im nächsten Jahr nicht mehr öffentlich auftreten will. Die neu eröffnete Saatchi-Filiale in London, die chinesische Kunst zeigt, hat sich Gina Thomas angesehen - und ist sehr enttäuscht von der Qualität der Exponate. Andreas Rossmann kann vermelden, dass vielleicht doch noch Hoffnung für das Haus der Frau von Stein besteht, in Weimarer Händen zu bleiben. In der Glosse sieht Dieter Bartetzko Parallelen und Gegensätze zwischen Finanzwelt und katholischer Kirche. In bioeethischen Zeitschriften liest Stephan Sahm über die Ethik der Ärzte im Krieg gegen den Terror. Über Streit um Albert Ostermaiers Augsburger Brecht-Festival informiert Teresa Grenzmann. Ulrich Olshausen resümiert die Leipziger Jazztage. Wolfgang Sandner gratuliert dem finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara zum Achtzigsten, Edo Reents beglückwünscht den Rockmusiker Jackson Browne zum Sechzigsten. Zum unfreiwilligen Abschied des Intendanten Michael Quast vom Frankfurter Volkstheater schreibt Dieter Bartetzko.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite referiert Wolf-Peter Klein eine Studie, die erklärt, warum der Einsatz feministischer LinguistInnen zur weiteren Verbreitung des Maskulinum beigetragen hat. Auf der Kinoseite wird Wim Wenders' auf dem Filmfest Hamburg gehaltene Laudatio auf den Kollegen und Freund Atom Egoyan abgedruckt. Michael Althen schreibt zum Tode des japanischen Schauspielers Ken Ogata.

Besprochen werden die große Andrea-Mantegna-Schau im Louvre, und Bücher, darunter Susan Chois Roman "Reue" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.10.2008

Oliver Stone in seinem Film "W", Bob Woodward in seinem Buch "The War Within" und Joseph Stiglitz in Vanity Fair rechnen mit George W. Bush ab, berichtet Jörg Häntzschel. Angela Merkel behauptete kürzlich, die Maßnahmen zur Rettung der Hypo Real Estate seien "ohne Alternative" - doch von Politik ohne Alternativen will Zielcke nichts wissen: "Gäbe es keine Alternativen, gäbe es keine Verantwortung." Alexander Menden berichtet über die Eröffnung einer neuen Konzerthalle in London. "Langweilig" findet Joseph Hanimann das Buch von Houellebecq und Levy. Leon Lensing hat im Kraus-Archiv der Stadtbibliothek Wien ein Manuskript mit Erinnerungen von Helene Kann an Karl Kraus gefunden.

Besprochen werden Oliver Stones Bush-Filmbiographie "W." (Tobias Kniebe findet Bush zu sympathisch gezeichnet), Silvio Soldinis Sozial-Albtraumkomödie "Tage und Wolken", Marco Kreuzpaintners Otfried-Preußler-Verfilmung "Krabat" (daneben gibt es ein Interview mit dem Regisseur), eine Dokumentation über den "Young@Heart"-Chor, D. J. Carusos Thriller "Eagle Eye", eine "Madame Butterfly" in Augsburg, Lars Norens "A la memoire d'Anna Politkovskaia" und Brechts "Heiliger Johanna der Schlachthöfe" in der Pariser Banlieu sowie Fabjan Hafners Buch über Peter Handke (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 09.10.2008

Der Schriftsteller Doron Rabinovici erklärt, warum sich in Österreich, diesem "Hort der Gegenreformation", Protest immer rassistisch äußert: "Der Unmut gegen 'die da oben' traf schon im habsburgischen Vielvölkerreich gern die Andersgearteten. Bereits Karl Lueger, Wiens Bürgermeister im Fin de Siecle, war ein Virtuose des populistischen Antisemitismus. Der Rassismus hat in Österreich Tradition, wird aber selten gewalttätig. National befreite Zonen gibt es nicht. In der Wahlzelle, wenn keiner zuschaut, wird rebelliert, und diese Rebellion will radikal dagegen sein - solange der Bestand dessen, wogegen sie ist, gesichert scheint."

Der Philosoph Slavoj Zizek fordert angesichts der Finanzkrise "kalte Entschlossenheit". Die Einführung eines "Staatssozialismus für Reiche" in den USA behagt ihm überhaupt nicht: "Was Linke wie Rechte eint, ist ihre Verachtung für Großspekulanten und Konzernmanager, die von riskanten Entscheidungen profitieren, im Falle eines Fehlschlags aber durch goldene Fallschirme abgesichert sind."

Weiteres: Gero von Randow liest den Briefwechsel "Ennemis publics" zwischen Bernard-Henri Levy und Michel Houellebecq nicht als bloßen Austausch "schamloser Eitelkeiten", sondern tatsächlich als "Aufschlag einer Diskussion" (wobei er Houellebecq für den interessanteren der beiden Autoren hält). Ulrich Ladurner streift mit den Brüdern Dardenne durch Liege, in dem auch ihr neuester Film "Lornas Schweigen" spielt. Peter Kümmel plaudert mit Harald Schmidt über seinen bevorstehende "Hamlet"-Aufführung (mit ihm als Geist des Vaters).

Besprochen werden die beiden Ausstellungen zu Giovanni Bellini und Andrea Mantegna in den Scuderien des Quirinale und im Pariser Louvre, Hans Werner Henzes Requiem auf seinen Lebensgefährten Fausto Moroni und Leonard Cohens Konzerttournee.

Die Literaturbeilage der Zeit erscheint heute als Hochglanzliteraturmagazin mit Fotos. Im Aufmacher schreibt Orhan Pamuk über seine imposante Bibliothek, ansonsten spielt Literatur aus der Türkei - dieses Jahr Ehrengast der Buchmesse - keine Rolle. Durs Grünbein liest T.S. Eliots "The Waste Land" in neuer Übersetzung, zuvorderst besprochen wird jedoch Dietmar Daths "Abschaffung der Arten".

Im Politikteil stellt sich Frank Sieren auf die Seite der Deutsche-Welle-Redakteurin Zhang Danhong, der regimefreundliche Äußerungen vorgeworfen werden.